Andreas Wilink (Autor)

Sechs Filme des Jahres

Sechs Filme des Jahres

Wenngleich das Kinojahr 2020 von großen Einschränkungen geprägt war, gab es auch in den letzten zwölf Monaten eine Reihe fantastischer queerer Filme. Manche waren auf der großen Leinwand zu sehen, andere sind direkt als VoD oder DVD erschienen, mitreißend und besonders fand sissy sie alle. In unserem traditionellen Rückblick lassen wir entlang  kurzer Auszüge aus den Rezensionen unserer Autor*innen unsere Filmhighlights Revue passieren. Wir folgen dabei einem Mädchen, das sich in einem heißen Kreuzberger Sommer zu einem Schmetterling entpuppt; einem Deliquenten, der in einem chilenischen Gefängnis Anfang der 1970er Jahre in ein Netz aus sexuellen Freiheiten und Abhängigkeiten gerät; zwei Damen, die nach Jahrzehnten im Geheimen für die Anerkennung ihre Liebe kämpfen; einen Tanzstudenten in Georgien, der gegen die Heternormatitvität und Repressionen in seinem Heimatland aufbegehrt; einem jungen Mann, der sich in eine New Yorker Vogue-Tänzerin verliebt und in deren Ballroom-Community gleich mit; und einem postmigrantischen Teenager in Hildesheim, der mit einem syrischen Geschwisterpaar die Zukunft erobert. Uns gehört die Welt!
Der Prinz

Der Prinz

Chile 1970. Am Ende einer durchzechten Nacht begeht der 20-jährige Jaime einen Mord. Im Gefängnis landet er in einer Gruppenzelle, die vom gefürchteten Potro geführt wird. Dieser wird Jaimes Beschützer und macht ihn zu seinem neuen „Prinzen“, erwartet dafür aber Loyalität und sexuelle Unterordnung. Die „schwarze Liebe“ zwischen den beiden erfüllt Jaimes Bedürfnis nach Zuneigung und Zugehörigkeit. Doch dann entbrennt im Knast ein brutaler Machtkampf... „Der Prinz“ von Sebastián Muñoz basiert auf Mario Cruz’ lange verschollenem Roman, der kürzlich erstmals in deutscher Übersetzung erschienen ist. Das faszinierende Porträt Chiles kurz vor dem Amtsantritt Salvador Allendes startet am 24.12. im Salzgeber Club und ist bereits auf DVD erhältlich. Unser Autor Andreas Wilink hat hinter die Gitter auf ein emotionales Biotop geblickt.
Enfant Terrible

Enfant Terrible

Ein Biopic über Rainer Werner Fassbinder (1945-1982), das sagenumwobene und höchst produktive Genie des Neuen Deutschen Films, das heute in einer Reihe mit Orson Welles, Jean-Luc Godard und Douglas Sirk steht – das muss man sich als zeitgenössischer Regisseur erst mal zutrauen. Oskar Roehler traut sich bekanntermaßen einiges zu und hat dabei in der Vergangenheit durchaus auch schon mal queer-affine Filme gedreht wie "Agnes und seine Brüder" (2004, mit Fassbinder-Star Margit Carstensen), denen man ansieht, dass RWF ein starkes filmisches Vorbild ist. Wie nahe Roehler dem Meister und dessen wilder künstlerischer Wahlfamilie in seinem leicht aktifiziellem und teils originell besetztem Spielfilmporträt kommt, hat Fassbinder-Kenner Andreas Wilink für uns erkundet.
In memoriam: Irm Hermann (1942-2020)

In memoriam: Irm Hermann (1942-2020)

Die große deutsche Schauspielerin Irm Hermann ist tot. Ihre frühe Karriere ist aufs Engste mit Rainer Werner Fassbinder verknüpft, mit dem sie 20 Filme drehte, Theater machte und eine Zeit lang ein Paar war. Nach Fassbinders Tod arbeitete sie u.a. mit Ulrike Ottinger, Herbert Achternbusch, Loriot –  und immer wieder mit Christoph Schlingensief. Andreas Wilink erinnert in seinem Nachruf an eine Künstlerin, die sich furchtlos in den Dienst ihrer Regisseur*innen stellte. Und an Hermanns eindrücklichste Rolle: die der stumm liebenden und souverän leidenden Dienerin Marlene in "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" (1972), in der sich ihre ambivalente Beziehung zu Fassbinder spiegelt wie in keiner anderen Figur.
Bent

Bent

Ab 14. Mai ist der queere Klassiker "Bent" aus dem Jahr 1997 in digital restaurierter Fassung im Salzgeber Club zu sehen. In seiner Verfilmung von Martin Shermans bahnbrechendem Theaterstück erzählt Regisseur Sean Mathias eindrücklich von den Grauen der Homosexuellen-Verfolgung durch die Nazis – und von zwei KZ-Häftlingen, die trotz widrigster Umstände einen Weg finden, sich zu lieben. Die Hauptrolle spielt Clive Owen, in weiteren Rollen sind u.a. Ian McKellen als schwuler Onkel, Mick Jagger als alternde Dragqueen und Nikolaj Coster-Waldau ("Game of Thrones") als blonder SA-Mann zu sehen. Für unseren Autor Andreas Wilink ist "Bent" weit mehr als ein historisches Dokument: Es ist Gleichnis und Aufforderung zur Erziehung der Herzen.
Judy

Judy

Die vielfach preisgekrönte, privat vom Unglück verfolgte Schauspielerin und Sängerin Judy Garland (1922-1969), durch den "Zauberer von Oz" und den Song "Over the Rainbow" zur Legende geworden, avancierte schon zu Lebzeiten zu einer Schwulenikone. Rupert Goold widmet sich in seinem Biopic "Judy" der letzten Karriere- und Lebensstation des früh verstorbenen Hollywood-Stars. Unser Autor Andreas Wilink findet vor allem Bewunderung für das dramatische Spiel von Hauptdarstellerin Renée Zellweger, die sich mit großer Geste um ihren zweiten Oscar bewirbt.
Gelobt sei Gott

Gelobt sei Gott

Alexandre lebt mit seiner Familie in Lyon. Eines Tages erfährt er per Zufall, dass der Priester, von dem er in seiner Pfadfinderzeit missbraucht wurde, immer noch mit Kindern arbeitet. Er beschließt zu handeln und findet Unterstützung bei zwei weiteren Opfern, François und Emmanuel. Zusammen wollen sie das Schweigen brechen, das über ihrem Martyrium liegt – gegen alle Widerstände. François Ozon hat in seinem neuen Film die wahren Ereignisse des Missbrauchsskandals um den Lyoner Priester Preynat verarbeitet. Seine meisterhaft inszenierte Anklage der erschütternden Versäumnisse in der Katholischen Kirche wurde im Februar auf der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Ab Donnerstag ist "Gelobt sei Gott" bundesweit im Kino zu sehen. Andreas Wilink hat den Film für uns gesehen – und genau hingehört.
Wege zu Kraft und Schönheit

Wege zu Kraft und Schönheit

Was ist der vollkommene Körper – und wie erhält man ihn? Mit diesen Fragen setzte man sich bereits vor 100 Jahren auseinander. Nach dem Motto "Ein gesunder Geist lebt in einem gesunden Körper" zielt der Kulturfilm "Wege zu Kraft und Schönheit" (1925) auf die Wiederaneignung eines körperlichen Idealzustandes nach Vorbild der Antike ab und propagiert dazu vor allem die körperliche Ertüchtigung. In den 20er Jahren traf der didaktische Lehrfilm in sechs Kapiteln einen Nerv der Zeit und war Ausdruck eines neuen Körperbewusstseins, das sich in Form der Lebensreformbewegung und des Naturalismus etabliert hatte. Der Film ist aber auch ein wertvolles filmhistorisches Dokument, das als ideologischer Vorläufer des nationalsozialistischen Körperkultes angesehen werden kann, wie er später etwa in Propagandafilmen von Leni Riefenstahl zelebriert wurde. Nachdem "Wege zu Kraft und Schönheit" jahrzehntelang nur zensiert verfügbar war, erscheint der Film nun wissenschaftlich rekonstruiert, digital restauriert und erstmals in seiner vollständigen Fassung auf DVD und ist auch als VoD verfügbar. Andreas Wilink folgt den Spuren eines Klassikers des UFA-Kulturfilms.
Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht

"Literatur muss kämpfen", sagt Édouard Louis, "für all jene, die selbst nicht kämpfen können". Sein erster, autobiographischer Roman "Das Ende von Eddy" (2014), der in Frankreich und Deutschland zum Bestseller wurde, ist nicht nur das mitreißende Dokument der Selbstbefreiung eines jungen schwulen Mannes aus prekären Verhältnissen; es ist, ähnlich wie Louis' zweites Buch "Im Herzen der Gewalt" (2016), ein energischer Text gegen eine homo- und xenophobe französische Gesellschaft, die von kaum überbrückbaren sozialen Barrieren durchsetzt ist. In seinem neuen, gerade mal 80 Seiten dicken Buch geht Louis nicht mehr nur im eigenen Leben, sondern auch in dem des Vaters auf Spurensuche: Woher kam die Gewalt, die diesen erfüllte; wieso wählte der Vater die letzten Jahrzehnte stramm den Front National; inwieweit haben die sozialen Verhältnisse gar zu seinem allzu raschen körperlichen Verfall beigetragen? In der Nachfolge seiner intellektuellen Leitfigur Didier Eribon ("Rückkehr nach Reims") entdeckt Louis in seiner soziologischen Analyse den eigenen Vater noch einmal neu – und entwickelt so für sich die Möglichkeit, um ihn zu trauern. Andreas Wilink über eine wütende und höchst persönliche Protestnote.
Porträt: Xavier Dolan

Porträt: Xavier Dolan

Xavier Dolan feiert heute seinen 30. Geburtstag – und legt damit vielleicht auch endlich das vielzitierte Label des filmischen Wunderkinds ab, das ihm seit seinem Debütfilm "I Killed My Mother" (2009) beständig anhaftet. Um ihm stilecht zu gratulieren, kommt uns der eben erschienene Sammelband von Andreas Wilink gerade Recht. Unter dem wunderbar ambivalenten Titel "Aus der Fernnähe" hat Wilink – Kulturjournalist, Theater- und Filmkritiker – eigene Texte und Porträts aus den vergangenen 20 Jahren zusammengetragen und begegnet in dem Band auch zahlreichen queeren Bühnen- und Filmkünstlern wie Werner Schroeter, Rainer Werner Fassbinder oder Walter Bockmayer. Sein Text zu Xavier Dolan ist einer von nur zweien, denen keine persönliche Begegnung vorausgegangen ist. Aus der transantlantischen Ferne nähert sich Wilink in einer empathischen Betrachtung Dolans zügellosem Werk an, dessen erste sechs Filme er als Bausteine in einem zutiefst persönlichen Projekt der Selbstwerdung liest. Sein Porträt lässt uns umso gespannter auf Dolans neuen, siebten Film warten "The Death and Life of John F. Donovan", der im Laufe des Jahres auch in Deutschland in die Kinos kommen soll.