Endstation Sehnsucht

Ich kann nicht schlafen (1993)

Ich kann nicht schlafen (1993)

Hochsommer in Paris. Im 18. Arrondissement, zwischen Montmartre und Pigalle, kreuzen sich in den Tagen und Nächten die Wege dreier Menschen: Théo, dessen Familie aus Martinique kommt, schlägt sich als Handwerker durch. Sein jüngerer Bruder Camille ist der Star der Nacht in einer schwulen Bar. Und die junge Litauerin Daiga hat die ganze Strecke aus Vilnius mit dem Auto zurückgelegt, weil ein Theaterregisseur ihr falsche Hoffnungen gemacht hat. Im Netz der Stadt verfangen sich die Sehnsüchte der drei Außenseiter. Doch unter ihnen ist ein Mörder. „Ich kann nicht schlafen“, der dritte Spielfilm von Claire Denis („Beau Travail“, „Trouble Every Day“) aus dem Jahr 1993, ist ein Klassiker des queeren Kinos aus Frankreich: ein sinnliches Meisterwerk, in dem die einzelnen Geschichten die Erotik flüchtiger Fremdheit und die Sehnsucht nach einem anderen Leben umkreisen, ohne jemals die erzählerische Leichtigkeit zu verlieren. Eine Liebeserklärung von Jan Künemund.
Die Konsequenz (1977)

Die Konsequenz (1977)

Wolfgang Petersens kontroverse Verfilmung des autobiografischen Romans von Alexander Ziegler mit Jürgen Prochnow und Ernst Hannawald in den Hauptrollen wurde 1978 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Im Jahr zuvor hatte der Bayerische Rundfunk die Ausstrahlung in der ARD noch boykottiert. „Die Konsequenz“ erzählt die Geschichte des Schauspielers Martin, der sich im Gefängnis in Thomas, den Sohn eines Aufsehers verliebt. Nach Martins Entlassung ziehen die beiden zusammen, Thomas Eltern erzwingen daraufhin dessen Einweisung in eine Erziehungsanstalt. Martin muss miterleben, wie der sensible junge Mann dort mehr und mehr zerbricht. Andreas Wilink über einen Film, der die düstere gesellschaftliche Realität für schwule Männer Ende der 70er nachbildet – und teilweise noch immer aktuell ist.
Ludwig II. (1973)

Ludwig II. (1973)

Mit nur 18 Jahren besteigt Ludwig II. im Jahr 1864 den bayrischen Thron. Sein Interesse gilt weniger der Diplomatie als den schönen Künsten. Er wird zum großzügigen Förderer von Künstlern und Musikern, allen voran Richard Wagners. Ludwig wird von weiten Teilen seines Volks innig geliebt, ist aber vielen Politikern ein Dorn im Auge, weil er sich kaum um Regierungsgeschäfte kümmert und stattdessen riesige Prachtbauten beauftragt, die Unsummen verschlingen. Bei seiner Cousine Elisabeth „Sissi“ von Österreich findet er eine Seelenverwandte, die seine Liebe jedoch zurückweist. Sissi erkennt das Unheil, auf das ihr Cousin zusteuert, und drängt auf eine Verlobung mit ihrer Schwester Sophie. Aufgrund seiner „Verschwendungssucht“ wird Ludwig schließlich für geisteskrank erklärt und entmachtet. Er stirbt 1886 vereinsamt und unter mysteriösen Umständen am Starnberger See. Mit „Ludwig II.“ hat Luchino Visconti 1973 seine Deutschland-Trilogie abgeschlossen – und dem bayrischen Märchenkönig ein abgründiges filmisches Denkmal gesetzt. Viscontis Partner Helmut Berger glänzt als Regent, der sich zunehmend seinem homosexuellen Begehren hingibt und allmählich verfällt. Bergers Ludwig geht an einen Ort, an den ihn keiner mehr versteht, und der doch zugänglich erscheint, weil Visconti ihm nicht nur bereitwillig, sondern leidenschaftlich folgt. Carolin Weidner über ein filmisches Meisterwerk des Aufbegehren in der durchlebten Agonie.
Im Schatten der Träume

Im Schatten der Träume

Komponist Michael Jary und Texter Bruno Balz waren über 40 Jahre lang das erfolgreichste Duo des deutschsprachigen Schlagers und Kinos. Ihre Lieder wie „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ oder „Davon geht die Welt nicht unter“ machten Zarah Leander musikalisch zum Weltstar. Die 250 Kinofilme, zu denen sie die Musik beisteuerten, reichen von eleganten Komödien der Weimarer Zeit über ambivalente Melodramen im Dritten Reich bis zu Filmen in den Wirtschaftswunderjahren. „Im Schatten der Träume“ erzählt das bewegte Leben der beiden Künstlerfreunde – zwei Biographien, die selbst das Drehbuch für ein Melodram liefern könnten. Balz war als schwuler Mann ein Verfolgter des NS-Regimes und entging dem Konzentrationslager nur durch die Intervention von Jary, der angab, ohne seinen Texter die vom Propagandaministerium geforderten Lieder für den Film „Die große Liebe“ (1942) nicht liefern zu können. Regisseur Martin Witz kombiniert Szenen aus bekannten Spielfilmen mit privaten Fotografien, seltenen Interviews und Erinnerungen von Zeitzeugen. Experten wie der Musikhistoriker und Unterhaltungskünstler Götz Alsmann erklären die Entstehungsgeschichten der weltberühmten Lieder und Filme – und denken dabei auch kritisch über „Unterhaltung“ und Ideologie nach. Andreas Wilink über eine auf vielen Ebenen erhellende und klug kommentierende Zeitreise, der sich ab Donnerstag im Kino folgen lässt.
Boys Don’t Cry (1999)

Boys Don’t Cry (1999)

Die brutale Ermordung des jungen Transmannes Brandon Teena erschütterte 1993 Amerika. Über fünf Jahre recherchierte die junge Regisseurin Kimberly Peirce die Hintergründe und schrieb ein Drehbuch. Mit ihrem Debüt „Boys Don’t Cry“ setzte sie nicht nur Brandon Teena ein Denkmal, sondern auch allen anderen Opfern von transfeindlichen Hassverbrechen. Das Drama, das Hilary Swank zum Star machte und ihr einen Oscar bescherte, erzählt aber viel mehr als eine Tragödie. Es geht auch um die berührende Liebesgeschichte zwischen Brandon und seiner ersten Freundin Lana, empathisch dargestellt von Chloë Sevigny. Annabelle Georgen über ein Schlüsselwerk des Trans* Kinos und seine wechselvolle Rezeptionsgeschichte.
Queer

Queer

Das Kinojahr ist erst wenige Tage alt und schon um ein erstes Juwel reicher: „Queer“, der neue Film von Luca Guadagnino („Challengers“, „Call Me by Your Name“), ist eine bildgewaltige und sinnliche Adaption des gleichnamigen, stark autobiographisch geprägten Romans von William S. Burroughs. Daniel Craig spielt darin einen amerikanischen Schriftsteller und Junkie, der sich als Expat in Mexiko-Stadt 1950 in einen ehemaligen Soldaten verliebt und nach einer Sprache für sein unbändiges Begehren sucht. Für Esther Buss ist „Queer“ das mitreißende Porträt einer wahrscheinlich unmöglichen Beziehung – und eine virtuose filmische Operation an einem offen gelegten Herzen.
Alles über meine Mutter (1999)

Alles über meine Mutter (1999)

Feliz cumpleaños, Pedro! Am 25. September feiert Pedro Almodóvar seinen 75. Geburtstag. Kurz vor der Veröffentlichung seines neuen Film „The Room Next Door“ gratulieren wir dem seit Jahrzehnten wichtigsten Regisseur des spanischen Kinos mit einem Rückblick auf sein Meisterwerk „Alles über meine Mutter“ (1999), das Almodóvar nicht nur seinen ersten Oscar einbrachte, sondern auch eine Schlüsselposition in seinem Œuvre einnimmt. Andreas Wilink schreibt, was an dem Drama über eine Mutter, die sich nach dem Unfalltod ihres Sohnes auf die Suche nach dessen Vater macht, queer, was camp und was spanische Volkskunst ist. Und er dringt zum rotleuchtenden Zentrum des Almodóvarschen Labyrinth der Leidenschaften vor: der Selbstwerdung inmitten einer neuen Heiligen Familie.
Hustler White (1996)

Hustler White (1996)

Inspiriert von „Sunset Boulevard“, „Tod in Venedig“ und den Sexfilmen Andy Warhols erzählt „Hustler White“ selbstreflexiv und verspielt von einem blasierten Schriftsteller, der sich auf „Recherchereise“ in die Stricherszene von Los Angeles begibt und sich on location prompt verliebt. Mit festem Blick auf Authentizität haben Bruce LaBruce und Rick Castro ihre romantisch Sex-Komödie an Originalschauplätzen auf dem Santa Monica Boulevard gedreht. Philipp Stadelmaier über einen Klassiker des schwulen Stricherkinos, dessen queerer Referenzenreigen auch knapp 30 Jahren nach seiner Uraufführung noch herrlich explizit funkelt.
Lola und Bilidikid (1999)

Lola und Bilidikid (1999)

Kreuzberg Mitte der 1990er. Murak ist 17 und schwul, aber das dürfen seine aus der Türkei stammenden Eltern nicht wissen. Auf einem seiner Streifzüge durch die verbotenen Parks und Schwulenbars lernt er die Dragqueen Lola kennen und freundet sich mit ihr an – ohne zunächst zu wissen, dass sie sein von der Familie verstoßener älterer Bruder ist. Als Lola eines Nachts ermordet wird, macht sich Murat mit ihrem Geliebtem Bilikid auf die Suche nach den Tätern. Kutluğ Atamans „Lola und Bilidikid“ ist eine funkelnde Perle des queeren Kinos aus Deutschland, die es unbedingt wiederzuentdecken gilt. Toby Ashraf hat sich auf die Spuren ihrer Entstehung gemacht, alte Drehorte besucht und mit Regisseur Ataman, Produzent Martin Hagemann und Darsteller Mesut Özdemir über den Film und das Leben danach gesprochen. Eine Liebeserklärung als Rekonstruktion.
Patagonia

Patagonia

Yuri ist 20 und lebt bei seiner Tante in einem kleinen Dorf in den Abruzzen. Als er bei einem Kindergeburtstag dem Animateur Agostino begegnet, ist er sofort elektrisiert. Agostino ist älter, selbstbewusst und auf wilde Weise unabhängig. Yuri heuert als Agostinos Assistent an und fährt im Wohnmobil mit ihm fort. Ihr großes Ziel ist Patagonien, das Land des Feuers. Mit brennenden Bildern erzählt der italienische Regisseur Simone Bozzelli in seinem Debütfilm von einer vergessenen Jugend, für die nur ein Leben am Rand der Gesellschaft und in ständiger Bewegung in Frage kommt, um den unbändigen Hunger nach Aufrichtigkeit und Freiheit zu stillen. Getragen von einer kompromisslosen filmischen Vision, von Respekt gegenüber den Figuren und zwei überwältigenden Hauptdarstellern zeigt „Patagonia“ eine ambivalente Liebe als verzehrendes Machtspiel zwischen Zärtlichkeit und Destruktion. Philipp Stadelmaier über ein raues Roadmovie, das im August ist „Patagonia“ in der Queerfilmnacht zu sehen ist und am 22. August auch regulär im Kino startet.