Joyland

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Haider ist der jüngste Sohn in einer pakistanischen Großfamilie. Während seine Frau Mumtaz als Kosmetikerin arbeitet, kümmert er sich um die Nichten und pflegt seinen Vater. Doch ohne Einkommen und Nachwuchs entspricht er nicht den konservativen Vorstellungen seiner Familie. Er fängt als Tänzer in der Show von trans Frau Biba an – vordergründig um selbst Geld zu verdienen, eigentlich aber aus Faszination für die selbstbewusste Künstlerin. Haider verliebt sich in Biba und gerät in ein moralisches Dilemma. Saim Sadiqs Spielfilmdebüt war der erste pakistanische Film, der bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt wurde. Jetzt ist „Joyland“ im Kino zu sehen. Barbara Schweizerhof über einen Liebesfilm, der psychologisch komplex vom Leid erzählt, das die Zwänge und starren Geschlechterrollen einer streng patriarchal organisierten Gesellschaft erzeugen.

Foto: Filmperlen

Die Unfreiheit der Anderen

von Barbara Schweizerhof

Mit seinem Spielfilmdebüt konnte Saim Sadiq für das Filmland Pakistan Unerhörtes erreichen: „Joyland“ war der erste pakistanische Film, der ins offizielle Programm des Filmfestivals von Cannes eingeladen wurde – wo er dann auch noch die Queer Palm und den Jury-Preis der Sektion „Un certain regard“ gewann. Zudem war er der erste pakistanische Film, der es auf die Shortlist der Oscar-Kategorie „Bester internationaler Film“ schaffte. Für eine Nominierung reichte es am Ende zwar nicht, aber die hängt bekanntlich stark von der Kampagnen-Unterstützung ab, die ein Film erfährt. Dass „Joyland“ zwar einerseits zum pakistanischen Repräsentanten bei den Oscars ernannt, andererseits aber zum geplanten Kinostart im eigenen Land erstmal mit einem Bann belegt wurde, spricht in dieser Hinsicht für sich. Mit angeblich nur „geringfügigen Schnitten“ kam „Joyland“ schließlich doch noch in die Kinos seines Produktionslands. Die Auseinandersetzung darüber zeigt, wie widersprüchlich und zwiespältig der Umgang mit dem Thema Transsexualität auch in der pakistanischen Gesellschaft ist.

Es überrascht nicht, dass man diese Spannung auch in „Joyland“ selbst wiederfindet. Was sehr wohl erstaunt, ist die Präzision und Subtilität, mit der Sadiq in seinem Film ein vielschichtiges Porträt dessen malt, was diese Widersprüchlichkeit nicht nur im Leben seiner transsexuellen Protagonistin Biba, sondern auch in der anfangs als „ganz normal“ vorgestellten Familie von Haider anrichtet.

Haider steht im Zentrum des Films, aber auf interessante Weise ist es nicht allein sein Erleben der Dinge, sind es nicht allein seine Gefühle, die das Geschehen dominieren. Zu Beginn glaubt man in ihm den Nichtsnutz zu erkennen, als den ihn seine Familie wahrnimmt. In der ersten Szene spielt er selbstvergessen mit seinen kleinen Nichten Verstecken und Fangen im engen Hof des ärmlichen Familienhauses. Als er seine hochschwangere Schwägerin ins Krankenhaus fährt, stellt er sich dort konfus und hilflos an. Später soll er die Ziege schlachten, die sein Vater zur Geburt des vierten Enkelkinds opfern möchte, aber er bringt es nicht übers Herz, das Messer anzusetzen. Statt dessen greift seine Frau Mumtaz ein und sticht zu.

Während Haider nicht den Erwartungen entspricht, die man an ihn als Mann stellt, hadert Mumtaz mit den Vorgaben, die man ihr mit der klassischen Frauenrolle macht. In den Blicken, die sie tauschen, und der kameradschaftlichen Art und Weise, wie sie sich nachts flüsternd im Bett unterhalten, wird deutlich, dass Mumtaz und Haider eine Art Pakt getroffen haben, die Zwänge der Außenwelt nicht zu reproduzieren. Dazu passt, dass Mumtaz arbeiten geht – in einem Schönheitssalon schminkt sie Frauen vor der Hochzeit –, während Haider zu Hause der Schwägerin Nucchi hilft. Aber der Druck auf Haider, endlich selbst Geld zu verdienen und, vielleicht noch wichtiger, einen Sohn zu zeugen, wächst. Besonders als Nucchi eine weitere Tochter zur Welt bringt.

Foto: Filmperlen

So lässt sich Haider von einem Freund zu einem Vorstellungsgespräch mitschleppen, von dem sich herausstellt, dass es ein Vortanzen ist. Die Sängerin Biba sucht Hintergrundtänzer. Das Varieté-Theater, in dem sie auftritt, ist ein billiger Vergnügungsladen mit ausschließlich männlichem Publikum. Biba darf hier als Transfrau mit ihrem Act lediglich die Pausen füllen, mit den im Hauptprogramm auftretenden Sängerinnen-Diven liegt sie im Dauerclinch. Haider weiß genau, dass sein Vater und sein Bruder die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden, wenn sie ihn hier sehen könnten. Vielleicht bestärkt gerade dieser Gedanke sogar noch seine Entscheidung. Seine Hauptmotivation mitzumachen bildet jedenfalls die starke Anziehungskraft, die Biba auf ihn ausübt. Zuhause erzählt er, er habe einen Job als Theatermanager bekommen. Dass es sich dabei um ein Erotik-Theater handelt, verzeiht man ihm vor dem Hintergrund, dass er jetzt endlich eigenes Geld nach Hause bringen wird.

In einem typischen Feelgood-Film – der Titel „Joyland“ ist in dieser Hinsicht ein trickreiches Versprechen –, würde es nun darum gehen, wie Haider sein Talent als Tänzer entdeckt und durch die Begegnung mit Biba seinen emotionalen und sexuellen Horizont erweitert. Aber Sadiqs Anliegen ist zugleich weniger kämpferisch und weniger banal. Noch bevor Haider sein persönliches Aufblühen im Milieu des Erotik-Tanzes erlebt, zeigt der Film, wer für diese Freiheit mit Einschränkungen bezahlen muss: Schwägerin Nucchi kann nicht alleine für inzwischen vier Kinder, den eigenen Ehemann, den an den Rollstuhl gebundenen Vater und die arbeitenden Mumtaz und Haider den Haushalt führen. Also muss Mumtaz ihren Job im Schönheitssalon aufgeben und zuhause bleiben. Es sei sowieso besser, wenn sie sich darauf konzentriere, bald Mutter zu werden, ordnet Haiders Vater, ganz Patriarch, an. Die junge Frau hat an dieser Entscheidung schwer zu schlucken. Wie schwer, das scheint Haider wiederum nicht wirklich sehen zu wollen.

Foto: Filmperlen

Auch beim Tanzen läuft längst nicht alles glatt. Haider kommt nicht groß raus, doch er und Biba kommen sich näher. Aber auch daraus wird nicht die Liebesgeschichte, die man als Zuschauer:in vielleicht erwartet. Stattdessen wird immer deutlicher, dass Haider beim Verfolgen der eigenen Bedürfnisse blind für die der anderen wird. Als Biba einmal in der U-Bahn von Frauen ihres Platzes verweisen wird – sie solle gefälligst bei den Männern sitzen –, schreitet er zwar einigermaßen mutig ein; als aber die ganze Tänzercrew, die von seiner Affäre mit Biba erfahren hat, ihn mit provozierenden und sexistischen Fragen attakiert, fällt seine Verteidigung schwach aus. Auch die sexuellen Bedürfnisse von Biba liest er nicht richtig.

Überhaupt baut Regisseur Sadiq in fast jeder seiner Szenen mit ein, wie wenig glatt, harmonisch oder auch nur gut funktionierend sich der Alltag seiner Held:innen im pakistanischen Lahore gestaltet. Resigniert nehmen sie hin, dass es immer wieder zu Stromausfällen kommt, dass man überall schnell abgewiesen wird und nichts wirklich wie geplant abläuft. Hinzu kommt eine starke soziale Kontrolle: Als Haider einmal den überlebensgroßen Pappaufsteller, den Biba von sich hat anfertigen lassen, nächtens auf dem eigenen Dach abstellt, kommt früh am nächsten Morgen gleich die Nachbarin und warnt davor, was im Viertel alles hätte geschehen können, wenn sie nicht schnell genug gekommen wäre. Zudem macht das enge Zusammenleben in der Großfamilie allen zu schaffen, weil es keine Freiräume für Privates gibt. Jeder intime Akt kann potentiell von jemand anderen beobachtet werden.

Foto: Filmperlen

Seine besondere Stärke – und auch Melancholie – bezieht „Joyland“ daraus, dass er die Zwänge einer in patriarchalen Traditionen gefangenen Gesellschaft nicht als Unterdrückung durch übel gesinnte Männer, bösartige Vorgesetzte oder missbrauchende Familienväter zeigt, sondern als komplexes System, in der auch die, die selbst starken Zwang ausüben, zu Opfern werden können. In einer eindrücklichen Sequenz erzählt der Film etwa davon, wie ein kleines Alltagsversagen in die soziale Katastrophe führt: Um endlich auch einmal auszugehen zu können – ins besagte Joyland, einen Amusement-Park –, lassen Nucchi und Mumtaz den an den Rollstuhl gebundenen Vater in der Gesellschaft einer Nachbarin. Nicht nur blamiert sich der Vater vor der Frau, weil er sich von ihr nicht ins WC helfen lassen mag; die Nachbarin selbst sieht sich gezwungen, die Nacht in der Wohnung zu verbringen, weil niemand kommt, um sie nach Hause zu begleiten. Am nächsten Morgen klagt ihr Sohn die Schande an, die man damit über seine Mutter gebracht habe. Und die ältere Frau selbst erlebt eine tiefe emotionale Kränkung durch die Schuldzuweisung und Ablehnung von Haiders Vater.

So gelingt es Sadiq mit außerordentlicher psychologischer Komplexität aufzuzeigen, wie jeder und jede einzelne, egal in welchem Rang der Gesellschaft er/sie stehen, von der Repression durch vorgefertigte Geschlechterrollenbilder daran gehindert wird, die eigenen Gefühle, das eigene Ich auszuleben. Trans Frau Biba bleibt die trotzige Heldin, die das Sich-Behaupten zu ihrer zweiten Natur hat werden lassen. Mumtaz dagegen findet keinen Weg, sich gegen die eigene, ja auch liebende Familie durchzusetzen. Und Haider muss schließlich lernen zu sehen, dass die Welt sehr viel weiter reicht als sein eigener Horizont.




Joyland
von Saim Sadiq
PK/FR 2022, 126 Minuten,
OF in Urdu und Punjabi mit deutschen UT
Filmperlen

Ab 9. November im Kino

 

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