Kritiken (Literatur)

Zora del Buono: Seinetwegen

Zora del Buono: Seinetwegen

Die in Berlin lebende Schweizer Schriftstellerin Zora del Buono betrachtet die Welt in ihren Büchern eigentlich immer durch eine queere Brille. In „Seinetwegen“ hätte das anders sein können: Mit dem Projekt wollte die Autorin Leerstellen aufarbeiten, die ihr Vater hinterlassen hat, der 1963 bei einem Autounfall starb, als sie selbst erst acht Monate alt war. Doch auf der Suche nach dem Mann, der den Unfall damals verursacht hat, findet sie statt Antworten neue Leerstellen, und stößt dabei unverhofft auf die schwulenemanzipatorischen Errungenschaften der Schweizer Provinz. Die literarische Präzision, mit der Zora del Buono diesen thematischen Spagat vollführt, brachte ihr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis ein – und lässt Marko Martin die Welt wieder ein bisschen wohnlicher empfinden.
Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Ein Titel wie ein Funkenregen, eine Story wie ein Trip ins All und eine Sprache, die permanent ihre eigenen Grenzen sprengt. Mit diesen Zutaten geht der neue Roman von Isabel Waidner an den Start. Die poetischen Kapriolen aus Waidners  preisgekrönten Debüt „Geile Deko“ werden in „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ aufs nächste Level getrieben. Der Roman verbindet die Geschichte einer Gruppe Londoner Queers mit einem literarischen „Stierkampf“ im polnischen Gendering. Anja Kümmel hat sich von der kreativen Wucht des kaleidoskopischen Texts beglücken lassen – und gendert in ihrer Besprechung selbst polnisch.
Rafael Chirbes: Von Zeit zu Zeit – Tagebücher 1984-2005

Rafael Chirbes: Von Zeit zu Zeit – Tagebücher 1984-2005

Der Romancier Rafael Chirbes (1949-2015) gilt als großer Chronist der Gesellschaft seiner spanischen Heimat im 20. Jahrhundert. Sein Schwerpunkt lag bei der Aufarbeitung der Schrecken und Widersprüche der Franco-Ära. Chirbes’ Homosexualität rückte hingegen erst nach seinem Tod, bei Erscheinen der Aids-Novelle „Paris-Austerlitz“, in den Fokus. In seinen kürzlich veröffentlichten Tagebüchern ist sie dagegen durchgehend präsent. Am 27. Juni 2024 wäre Rafael Chirbes 75 Jahre alt geworden. Für Marko Martin ein Grund, den Schriftsteller und seine rückhaltlos ehrlichen Texte genauer zu betrachten.
Kirsty Loehr: Eine kurze Geschichte queerer Frauen

Kirsty Loehr: Eine kurze Geschichte queerer Frauen

In ihrem Buch „A Short History of Queer Women“ stellte die englische Autorin Kirsty Loehr, selbsternannte „Smoking tragende, schreibende Lesbe“, 2022 ihre persönlichen Schlüsselfiguren queerer Weiblichkeit vor und bürstete damit die patriarchale Geschichtsschreibung lustvoll gegen den heteronormativen Strich. Nun ist Loehrs literarischer Schaulauf der verkannten Ikonen in deutscher Übersetzung beim Aufbau Verlag erschienen. Can Mayaoglu hat sowohl die englische Ausgabe als auch die Übersetzung gelesen und sich quasi doppelt in den schmissigen Schreibstil und die Protagonistinnen des Buches verliebt.
Jacob Israël de Haan: Pathologien

Jacob Israël de Haan: Pathologien

Der Niederländer Jacob Israël de Haan (1881–1924) war einer der großen Freidenker seiner Zeit. 1904 sorgte er in seiner Heimat mit der homoerotischen Novelle „Pijpelintjes“ für einen Skandal, 1908 legte er mit der schwulen SM-Erzählung „Pathologieën“ noch eins drauf, 1919 wanderte er als überzeugter Zionist nach Palästina aus, wo er wiederum zum scharfen Kritiker des Zionismus wurde, was zu seiner Ermordung durch die Untergrundorganisation Hagana führte. Am 30. Juni 2024 jährt sich dieser laut dem Autorenduo Nakdimon/Nayzlish „erste politische Mord in Palästina“ zum hundertsten Mal. Derweil wird de Haans literarisches Werk auch außerhalb der Niederlande neu entdeckt. So ist mit „Pathologien – Der Untergang des Johan van Vere de With“ erstmals ein Roman de Haans in deutscher Übersetzung erschienen. Axel Schock hat das düstere Gleichnis über das Ringen eines frühen schwulen Selbstbewusstseins mit „Schande und emotionaler Abhängigkeit“ gelesen.
Pedro Almodóvar: Der letzte Traum

Pedro Almodóvar: Der letzte Traum

Pedro Almodóvar ist nicht nur Spaniens erfolgreichster Filmemacher, sondern auch Autor mehrerer Bücher. Nach „Parallele Mütter“ und den beiden Kurzfilmen „The Human Voice“ und „Strange Way of Life“ tritt er mal wieder literarisch in Erscheinung: „Der letzte Traum“ ist ein Band aus Erzählungen und vereint „Initiationstexte“ aus sieben Jahrzehnten. Almodóvar verhandelt darin ähnliche Themen wie in seinen Filmen, es geht um Liebe und Selbstermächtigung, um Leidenschaft und Wahnsinn, um schöne und wilde Menschen. Angelo Algieri hat sich in den Almodóvarschen Abgrund zwischen Euphorie und Melancholie hineinfallen lassen.
Laura Lichtblau: Sund

Laura Lichtblau: Sund

Unheimlich und verheißungsvoll zugleich klingen die Gesänge, die in den dunklen Nächten an der dänischen Küste zur Protagonistin von Laura Lichtblaus neuem Roman „Sund“ herüberschwappen. Statt weiter auf ihre Geliebte zu warten, folgt die junge Frau den Stimmen auf eine Insel namens Lykke. Dort erwartet sie nicht nur eine im doppelten Sinne fantastische Begegnung mit Mensch und Natur, sondern auch eine Konfrontation mit ihrem queeren Selbst. Anja Kümmel hat den neuen Roman von Laura Lichtblau gelesen und eine Erzählung gefunden, die nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Leerstellen und Brüche überzeugt.
Tom Crewe: Das Neue Leben

Tom Crewe: Das Neue Leben

Ihre Namen sind hierzulande bestenfalls noch Sexualhistoriker:innen bekannt, in England hingegen gelten John Addington Symonds und Henry Havelock Ellis als Urväter der Homosexuellen-Emanzipation. Der britische Schriftsteller und Historiker Tom Crewe hat Symonds und Ellis zu Helden seines Debütromans „Das Neue Leben“ gemacht und dafür im vergangenen Jahr den Orwell Prize for Political Fiction erhalten. Zu Recht, findet unser Autor Axel Schock. Er schreibt über einen Roman, der packend und einfühlsam von zwei Männern erzählt, die im viktorianischen England ihr gleichgeschlechtliches Begehren nicht länger unterdrücken, sondern ausleben und von moralischen Makeln befreien möchten.
Lauren John Joseph: Wo wir uns berühren

Lauren John Joseph: Wo wir uns berühren

Nach dem Universitätsabschluss fragt sich JJ, wie es nun weitergehen soll – sowohl, was die berufliche Zukunft angeht, als auch die eigene geschlechtliche Identität. In der queeren Subkultur trifft JJ auf den Fotografen Thomas James. Es folgt eine leidenschaftliche Affäre mit toxischen Zügen, die tragisch endet. Nach Thomas’ Verschwinden beginnt für JJ eine künstlerische Suche nach sich selbst und damit der queere Bildungsroman „Wo wir uns berühren“ – jenes Buch, mit dem sich Großbritanniens nichtbinäre Performance- und Pop-Persona Lauren John Joseph (auch bekannt unter den Pseudonymen La JohnJoseph und Alexander Geist) zum Literatur-Wunder wandelte. Angelo Algieri ist der Metamorphose im Schatten von Liebe, Verrat und Selbstermächtigung auf den Grund gegangen.
Gabriel Wolkenfeld: Wir Propagandisten

Gabriel Wolkenfeld: Wir Propagandisten

Ein junger Deutscher kommt im Jahr 2012 als Sprachlehrer ins russische Jekaterinburg. Er erlebt Wodka-Gelage in chaotischen WG-Küchen, Prinzipienreiterei in tristen Amtsstuben, pompöse Empfänge, versteckte Hinterhof-Partys. Er ist mittendrin im Leben und bleibt doch Außenseiter. Weil er schwul ist – genau wie viele seiner russischen Freunde. Ihr Alltag ist ein lustvoller Gegenentwurf zum Spießertum der breiten Masse. Doch als die Duma die Einführung des sogenannten „Homo-Propaganda-Gesetzes“ beschließt, wird das Antanzen gegen den Mainstream zur existenziellen Gefahr. Diese autobiografisch gefärbte Geschichte erzählt Autor und Lyriker Gabriel Wolkenfeld in „Wir Propagandisten“ – präzise, assoziativ, authentisch. Sebastian Galyga über einen Roman, der gleichzeitig sehr russisch und sehr deutsch ist und gerade wegen seiner heiteren Nostalgie die bestürzende Lage queerer Russ:innen von heute zu verdeutlichen weiß.