Kritiken (Literatur)

Tom Crewe: Das Neue Leben

Tom Crewe: Das Neue Leben

Ihre Namen sind hierzulande bestenfalls noch Sexualhistoriker:innen bekannt, in England hingegen gelten John Addington Symonds und Henry Havelock Ellis als Urväter der Homosexuellen-Emanzipation. Der britische Schriftsteller und Historiker Tom Crewe hat Symonds und Ellis zu Helden seines Debütromans „Das Neue Leben“ gemacht und dafür im vergangenen Jahr den Orwell Prize for Political Fiction erhalten. Zu Recht, findet unser Autor Axel Schock. Er schreibt über einen Roman, der packend und einfühlsam von zwei Männern erzählt, die im viktorianischen England ihr gleichgeschlechtliches Begehren nicht länger unterdrücken, sondern ausleben und von moralischen Makeln befreien möchten.
Lauren John Joseph: Wo wir uns berühren

Lauren John Joseph: Wo wir uns berühren

Nach dem Universitätsabschluss fragt sich JJ, wie es nun weitergehen soll – sowohl, was die berufliche Zukunft angeht, als auch die eigene geschlechtliche Identität. In der queeren Subkultur trifft JJ auf den Fotografen Thomas James. Es folgt eine leidenschaftliche Affäre mit toxischen Zügen, die tragisch endet. Nach Thomas’ Verschwinden beginnt für JJ eine künstlerische Suche nach sich selbst und damit der queere Bildungsroman „Wo wir uns berühren“ – jenes Buch, mit dem sich Großbritanniens nichtbinäre Performance- und Pop-Persona Lauren John Joseph (auch bekannt unter den Pseudonymen La JohnJoseph und Alexander Geist) zum Literatur-Wunder wandelte. Angelo Algieri ist der Metamorphose im Schatten von Liebe, Verrat und Selbstermächtigung auf den Grund gegangen.
Gabriel Wolkenfeld: Wir Propagandisten

Gabriel Wolkenfeld: Wir Propagandisten

Ein junger Deutscher kommt im Jahr 2012 als Sprachlehrer ins russische Jekaterinburg. Er erlebt Wodka-Gelage in chaotischen WG-Küchen, Prinzipienreiterei in tristen Amtsstuben, pompöse Empfänge, versteckte Hinterhof-Partys. Er ist mittendrin im Leben und bleibt doch Außenseiter. Weil er schwul ist – genau wie viele seiner russischen Freunde. Ihr Alltag ist ein lustvoller Gegenentwurf zum Spießertum der breiten Masse. Doch als die Duma die Einführung des sogenannten „Homo-Propaganda-Gesetzes“ beschließt, wird das Antanzen gegen den Mainstream zur existenziellen Gefahr. Diese autobiografisch gefärbte Geschichte erzählt Autor und Lyriker Gabriel Wolkenfeld in „Wir Propagandisten“ – präzise, assoziativ, authentisch. Sebastian Galyga über einen Roman, der gleichzeitig sehr russisch und sehr deutsch ist und gerade wegen seiner heiteren Nostalgie die bestürzende Lage queerer Russ:innen von heute zu verdeutlichen weiß.
Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede

Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede

Eine Protagonistin sucht in Helsinki nach der Liebe und kämpft um Selbstbestimmung – zu einer Zeit, in der Kunst und Kommunismus eine unheilvolle Allianz bilden und queeres Begehren nur im Untergrund stattfindet. Mit dieser autobiografisch grundierten Erzählung rührte die Autorin Pirkko Saisio in „Punainen erokirja“ im Jahr 2003 den Kulturbetrieb ihrer finnischen Heimat auf und wurde dafür prompt mit dem Finlandia-Preis, einer der renommiertesten Literaturauszeichnungen des Landes, bedacht. Jetzt ist der Roman unter dem Titel „Das rote Buch der Abschiede“ erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Anja Kümmel hat sich von der Stimme der Erzählerin in einen Dschungel verschiedener Perspektiven und Zeitebenen entführen lassen.
Shehan Karunatilaka: Die sieben Monde des Maali Almeida

Shehan Karunatilaka: Die sieben Monde des Maali Almeida

Ein schwuler Fotograf, der im sri-lankischen Bürgerkrieg der Achtzigerjahre umgebracht wird, ist der (Anti-)Held von Sehahn Karunatilakas Roman „The Seven Moons of Maali Almeida“. Was nach Kriegsepos und Märtyrertragik klingt, ist aufgrund einiger unkonventioneller dramaturgischer Kniffe vor allem ein Fest der Erzählkunst. Als das Buch im Oktober 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, charakterisierte die Jury es als „philosophisches Abenteuer, das die Lesenden in das ‚dunkle Herz der Welt‘ entführt (...), ihnen aber auch Zärtlichkeit und Schönheit, Liebe und Treue sowie das Erstrebenswerte der Ideale, die menschliches Leben rechtfertigen, aufzeigt“. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung hat sich Angelo Algieri auf eine fantastische Reise ins „Dazwischen“ begeben.
Pedro Lemebel: Torero, ich hab Angst

Pedro Lemebel: Torero, ich hab Angst

Ein queerer Klassiker aus Lateinamerika neu aufgelegt: Im blau-rosa-weißen Design der Trans-Pride-Flagge und mit entstaubtem Titel kommt die Revival-Ausgabe von Pedro Lemebels „Torero, ich hab Angst“ in der Bibliothek Suhrkamp daher. Die Frischekur soll die Geschichte einer alternden „Tunte“, die im Chile der 1980er Jahre zur Guerillera wird, für eine neue Generation von Lesenden erschließen, nachdem eine wenig geglückte Verfilmung des Stoffs aus dem Jahr 2020 nur auf wenigen Festivals zu sehen war. Marko Martin hat Lemebels subversive Roman-Attacke auf den Machismo der chilenischen Gesellschaft für uns (wieder) gelesen.
Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline ist schwanger, und sie liebt ihre Freundin. Endlich ist sie bereit für ein geregeltes Leben. Doch als sie einen neuen Personalausweis beantragen will, stolpert sie zum ersten Mal über ihre drei zusätzlichen Vornamen Jeanne, Jérôme und Ysé und fragt sich: Nach wem wurde ich da eigentlich benannt? Ausgehend von diesem Gedanken entwirft Pauline Delabroy-Allard in ihrem zweiten Roman „Wer ist das“ eine obsessive Reise durch Epochen und Identitäten. Nachdem Anja Kümmel schon dem narrativen Sog von Delabroy-Allards Debüt „Es ist Sarah“ erlag, lässt sie sich erneut von der referenzreichen Erzählkunst der französischen Erfolgsautorin fesseln.
Michael Roes: Spunk

Michael Roes: Spunk

Michael Roes’ neuer Roman führt von der rheinischen Provinz in ein besetztes Haus in Berlin-Kreuzberg und weiter bis nach Taizé in Frankreich: Nach seiner Ausbildung geht der frisch gebackene Dachdeckergeselle Gabriel gemäß alter Handwerkertradition auf Wanderschaft. Endlich raus aus der Enge der Provinz und des prekären Elternhauses, hinaus in die Welt – die für den Erzähler gleichermaßen eine neue Freiheit des Geistes wie ein sexuelles Erwachen bereithält. Axel Schock hat sich mit Gabriel auf die Walz begeben und dabei nicht nur ein literarisches Roadmovie erlebt, sondern auch eine schwule éducation sentimentale.
Franz Siedersleben: Mein Lebenslauf

Franz Siedersleben: Mein Lebenslauf

120 Jahre nachdem Magnus Hirschfeld erstmals die „Lebensgeschichte des urnischen Arbeiters Franz S.“ veröffentlichte, kommt die lange vergriffene Niederschrift von Franz Siederslebens schwuler Biografie neu heraus – diesmal nicht-anonymisiert und mit umfangreichen Ergänzungen. Der Band „Mein Lebenslauf“ ist nicht nur aufgrund der darin versammelten Zeitzeugnisse eine Besonderheit, sondern auch, weil er der letzte in der Buchreihe Bibliothek rosa Winkel ist, den deren Gründer Wolfram Setz vor seinem Tod vollendete. Benedikt Wolf über ein unverdruckstes Ego-Dokument.
Lion Christ: Sauhund

Lion Christ: Sauhund

München 1983. Flori kommt vom Land und sucht in der Stadt von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury das pralle Leben – und einen Mann, der ihn mindestens ewig liebt. Im Labyrinth der Klingelclubs und Klappen muss er aber erst mal seine eigenen Standpunkte finden. Mit seinem Debütroman „Sauhund“ setzt Lion Christ den Liebenden des ersten Aids-Jahrzehnts ein Denkmal. Angelo Algieri über eine literarische Zeitreise, die sich nicht nur wegen ihres unberechenbaren Protagonisten jenseits des Erwartbaren abspielt.