Rafael Chirbes: Von Zeit zu Zeit – Tagebücher 1984-2005

Buch

Der Romancier Rafael Chirbes (1949-2015) gilt als großer Chronist der Gesellschaft seiner spanischen Heimat im 20. Jahrhundert. Sein Schwerpunkt lag bei der Aufarbeitung der Schrecken und Widersprüche der Franco-Ära. Chirbes’ Homosexualität rückte hingegen erst nach seinem Tod, bei Erscheinen der Aids-Novelle „Paris-Austerlitz“, in den Fokus. In seinen kürzlich veröffentlichten Tagebüchern ist sie dagegen durchgehend präsent. Am 27. Juni 2024 wäre Rafael Chirbes 75 Jahre alt geworden. Für Marko Martin ein Grund, den Schriftsteller und seine rückhaltlos ehrlichen Texte genauer zu betrachten.

Realist mit Feingefühl

von Marko Martin

Als 2016 posthum Rafael Chirbes’ Roman „Paris-Austerlitz“ erschien, waren viele überrascht: Sieh an, eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern. Der ein Jahr zuvor in seinem Geburtsort bei Valencia verstorbene spanische Autor und Gesellschaftschronist war also schwul …

War Chirbes also selbst ein Opfer jener (post-)francistischen Bigotterie und Heuchelei, die er in seinen Romanen immer wieder eindrucksvoll beschrieb, und „Paris-Austerlitz“ somit sein später literarischer Befreiungsschlag? Wer den Roman kennt, weiß, dass zumindest letzteres nicht der Fall ist. „Paris-Austerlitz“ ist mit der gleichen illusionslosen Präzision, psychologischen Subtilität und atmosphärischen Genauigkeit geschrieben, die bereits Chirbes’ vorherige Bücher ausgezeichnet hatte. Auch kommt die in den Achtzigerjahren spielende Liebesgeschichte zwischen einem jungen spanischen Maler und einem französischen Vorort-Arbeiter ganz ohne die raunende Körper-Mystik aus, die etwa bei Juan Goytisolo oder Jean Genet die Lektüre häufig zäh macht. Interessanterweise hat das Einzige, was diesem ebenso kitschfreien wie bestürzend einfühlsamen Roman eine gewisse Unwucht verlieh, nichts mit der Homosexualität der beiden Protagonisten zu tun, sondern mit der Klassenfrage. So mutete der behauptete Bourgeois-Status der Figur des Madrider Malers angesichts ihres offensichtlichen down to earth-Charakters etwas irritierend an. Vor allem, wenn man ihre autobiografisch grundierten Züge mit der Herkunft des Schöpfers abglich.

Während nicht wenige seiner linken Generationsgenossen Mimikry betrieben und mit einem proletarischen Touch kokettierten, obwohl sie in Wahrheit Sprösslinge der gehobenen Mittel- wenn nicht gar Oberschicht waren, hatte der 1949 als Sohn eines republikanischen und franco-kritischen Eisenbahners geborene Rafael Chirbes solche Kostümierungen niemals nötig. Und doch, so mag es ihm erschienen sein, wäre in „Paris-Austerlitz“ die Dopplung zweier Arbeiter-Biografien dann doch zu viel gewesen. Zumal dort einer der Liebenden, nämlich der Erzähler, längst in die Welt der Bücher vorgedrungen ist.

Rafel Chirbes – Foto: Volker Hinz

In Chirbes’ literarischem Tagebuch-Werk, dessen 470 Seiten umfassender erster Teil bei Kunstmann in kongenialer deutscher Übersetzung von Dagmar Ploetz und Carsten Regling erschienen ist, lässt sich die lebensweltliche Vorgeschichte des Autors erstmals ausführlicher erschließen. Sie beginnt im Jahr 1984, als der damals 35-Jährige in Madrid die „Movida“ genannten Jahre der hedonistischen Nach-Franco-Zeit miterlebt. Mit dem untrüglichen Gespür eines Arbeiterkindes, das sich eine freischwebende Boheme-Existenz schon aus finanziellen Gründen nicht leisten konnte, sah sich Rafael Chirbes damals schnell nach einem Brotberuf um, der ihm die zwei Grundfesten seiner Existenz ermöglichte: Schreiben und Reisen. Zusammen mit Freunden gründete er die bis heute angesehene Zeitschrift „Sobremesa“ („Nachtisch“), in der sich alles um gutes Essen und guten Wein drehte. Für das Heft bereiste er in den Folgejahren den gesamten Mittelmeerraum, um Restaurants und Weingüter zu testen, und kam auch nach Paris, wo er seine große Liebe, den Arbeiter Francois, kennenlernte.

Obwohl sein Debütroman „Mimoun“ – in Marokko spielend und mit partiell homosexueller Thematik – erst 1988 erschien, sind bereits die frühen Tagebuch-Eintragungen das Werk eines Schriftstellers. Wobei Chirbes nicht larmoyant über die Diskrepanz zwischen Auftragsschreiben und „richtiger“ Literatur räsoniert, sondern sich vielmehr als genauer Beobachter seiner selbst und der ihn umgebenden Gesellschaft artikuliert. Als ihm ein schwuler Freund das wilde Gruppensex-Treiben hinter einer Hecke im Madrider Retiro-Park zeigt, während gleich nebenan sittsame Familien ihre Sonntagsspaziergänge machen oder vor Pavillons traditionellen Musikkapellen lauschen, gehen diese Eindrücke beim Autor sofort mit Assoziationen einher: Da sind auf der einen Seite der „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch und Dantes von Gustave Doré illustriertes „Inferno“, auf der anderen ein Genre-Bildchen aus der Belle Époque. Ähnlich funktionieren die ausgiebig kommentierten Lektüre-Erfahrungen mit Thomas Mann, Hermann Broch oder Marcel Proust (explizit schwuler Belletristik wie etwa jener von Alan Hollinghurst ist dagegen nicht mehr als ein Satz gewidmet). Doch Chirbes’ Notate und Bezüge haben nichts Bildungshuberisches, lassen nirgendwo das aus sozialer Unsicherheit geborene Prunken eines intellektuellen Aufsteigers erkennen.

So ist eine Vielzahl kultureller Bezüge bei Chirbes kein Widerspruch zu geerdeten Beschreibungen der Madrider vida gai, von Clubs, Fixer-Absteigen und Sexkinos. Diese sind bei Weitem nicht so quietschbunt wie bei Pedro Almodóvar, dafür aber wohl ehrlicher. „Die Kneipe ist nicht die Tür, die irgendwo hinführt, auch wenn Papa nicht will, dass du sie betrittst“, schreibt er an einer Stelle in Bezug auf die Gefahr einer abstumpfenden Routine der Ausschweifung im Milieu – der er mit Schreiben und Lesen begegnet. Wo derlei Sublimierungen jedoch zum Beispiel bei Roland Barthes und später bei Didier Eribon immer leicht verschmockt und bemüht wirken, ist der feinfühlige Realist Chirbes keiner, der sich in Posen gefiele. So wirkt die im Tagebuch offenbarte kritische, ja mitunter gar zerquält-verzweifelte Sicht auf sich selbst niemals kokett und exhibitionistisch.

Die jahrelange Liebe zu Francois scheitert schließlich nicht etwa an irgendwelchen Vorurteilen der Gesellschaft, sondern an der strangulierenden Eifersucht des ansonsten eher gutmütig-selbstgenügsamen Franzosen. Während Chirbes in Madrid, gewarnt durch das Beispiel zahlreicher an Aids gestorbener Freunde, jegliche Ansteckungsrisiken zu meiden versucht, infiziert sich Francois in Paris. Die Beschreibung der letzten Begegnung der beiden am Krankenhausbett hat eine Wucht, eine Grausamkeit auch, die alles übersteigt, was Chirbes zwei Jahrzehnte später in „Paris-Austerlitz“ fiktionalisierte.

Das Bewusstsein für die Endlichkeit des Daseins, eine Unzahl vergeblicher Hoffnungen und Enttäuschungen sowie eine scharfsinnige Wahrnehmung der hoch-komplexen (Konsum-)Gesellschaft von heute prägen Rafael Chirbes’ Schreiben. Deshalb konnte für ihn ein monothematisch allein um homosexuelle Identität (von zusätzlichen identitären Verästelungen ganz zu schweigen) kreisendes Schreiben nie von Reiz sein. Noch nicht einmal polemisch setzt er sich mit dieser Form der Selbst-Reduktion auseinander. Stattdessen fügt er im Lauf der Jahre und Jahrzehnte einen Roman an den anderen, von denen jeder auf seine Weise ein faszinierendes Kaleidoskop des modernen Spaniens ist. Seine vielstimmigen, generationen- und milieu-übergreifenden Panorama-Romane wie etwa „Der Fall von Madrid“, „Der lange Marsch“ oder „Krematorium“ beziehen ihre immense, nicht zuletzt stilistische Glaubwürdigkeit aus der gleichen schonungslosen Ehrlichkeit, die auch die Tagebücher auszeichnet.

Dass der Chronist, der dem Alkohol nicht abgeneigt war, schließlich an einem tödlichen Bronchialkarzinom zugrunde gegangen ist und so etwas wie Glück und fortdauernde Liebe nie wirklich hat kennenlernen können, steht auf einem anderen Blatt. Doch auch dieses hat Rafael Chirbes in seinem Tagebuch nicht leer gelassen, sondern ohne jegliches Selbstmitleid beschrieben. Wir müssen uns diesen großen spanischen Schriftsteller als einen verdammt tapferen Menschen vorstellen.



Von Zeit zu Zeit
Tagebücher 1984-2005
von Rafael Chribes
aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Carsten Regling
471 Seiten, € 34
Antje Kunstmann Verlag

 

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