Maurice (1987)

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Großbritannien im Jahre 1909: Maurice und Clive sind Collegeboys in Cambridge und verlieben sich ineinander. Um seine Karriere als Anwalt nicht zu gefährden, beendet Clive die Verbindung und stürzt seinen Geliebten in eine tiefe  Sinn- und Lebenskrise. Die löst sich erst, als Maurice den ungestümen Jagdaufseher Scudder kennenlernt. Regisseur und Drehbuchautor Jamey Ivory und sein Partner und Produzent Ismail Merchant galten jahrzehntelang als Dreamteam und Spezialisten für elegant-subtile Literaturverfilmungen und period pieces. „Maurice“, nach dem gleichnamigen Roman von E. M. Forster, ist ihr explizitester Film und machte einen gewissen Hugh Grant zum Schwarm nicht weniger schwuler Männer. Matthias Frings blickt zurück auf ein bahnbrechendes Liebes- und Entwicklungsdrama, das zusammen mit drei weiteren queeren Filmen Mitte der 1980er Jahre das Coming-out des britischen Kinos markiert.

Foto: Plaion Pictures

Locken am flannellbehosten Knie

von Matthias Frings

Heute, siebenunddreißig Jahre nach ihrer Entstehung, besteht kein Zweifel: Die Literaturverfilmung „Maurice“ markiert das erfolgreiche Aufeinandertreffen dreier Legenden. Zuerst wäre da der große britische Schriftsteller Edward Morgan Forster, dessen Roman schon 1913/14 geschrieben, aber erst 1971 kurz nach der Legalisierung von Homosexualität in Großbritannien veröffentlicht wurde. Christopher Isherwood und andere gute Freunde hatten zwar einen Blick auf das explizite und teilweise autobiographische Manuskript werfen dürfen, ansonsten aber ist das Werk aus Sorge um Forsters literarische Reputation wortwörtlich im Schrank geblieben.

Zweitens agierte hier das in der Filmgeschichte unvergleichliche Paar Ismail Merchant und James Ivory, privat wie beruflich untrennbar miteinander verbunden. Produzent der eine, Regisseur und Drehbuchautor der andere, Legenden beide. Dazu gesellten sich als drittes noch drei bis heute bekannte Jungschauspieler, die seinerzeit vom Guardian als „perhaps prettiest posh-boy triangle in screen history“ bezeichnet wurden. Es ist in der Tat fast ein Schock, all die Jahre später den unfassbar frischwangigen Hugh Grant in seiner ersten größeren Filmrolle zu erleben, daneben James Wilby als strahlende Goldlocke (der ebenfalls in Ivorys „Zimmer mit Aussicht“, 1985, und „Wiedersehen in Howards End“, 1992, auftritt). Der dritte im Trio ist Rupert Graves („Sherlock“, „Doctor Who“), der schon in jungen Jahren immer dann besetzt wurde, wenn ein gewisses Maß an überzeugender Virilität gefordert war.

„Maurice“ also, nach „Zimmer mit Aussicht“ und vor „Wiedersehen in Howards End“ die zweite von drei sehr erfolgreichen Forster-Verfilmungen von Merchant und Ivory. Die Zeit schien endlich reif für ein schwules Thema, das dem Paar besonders am Herzen lag, Forsters sehr persönliches Bekenntnis zur mann-männlichen Liebe. Die Besonderheit von Roman und Film liegt darin, nicht nur der damaligen Zeit angemessen taktvoll von schwuler Liebe zu erzählen, sondern das Bedürfnis nach Körperlichkeit, Leidenschaft, Sex ins Zentrum zu stellen – und dies in einem Land, das traditionell den Körper bei Krieg, Sport und Arbeit feiert, nicht aber als Quelle sexueller Lust.

Fast die gesamte erste Hälfte des Films werden wir Zeuge einer tastenden Annäherung zwischen zwei Collegeboys der Oberschicht. Clive ist ein bildhübscher Snob („Mir ist Musik immer unangenehm“), der  ein Auge auf seinen sportiven Kommilitonen Maurice geworfen hat. Wir befinden uns in der attraktiven Kulisse von Cambridge – wo sonst? – und es folgen die obligatorischen dekorativen Kahnfahrten, die geistreichen Seminardiskussionen, die ausgelassenen Studententreffen. Es dauert, bis es „zum Äußersten“ kommt: Unvergleichlich delikat die Einstellung, als Clive zu Füßen des lesenden Maurice hockt, seine dunklen Locken an dessen champagnerfarbene Flanellhosen schmiegt und dieser ihm in schönster Balance zwischen Beiläufigkeit und Bedeutungsschwere den dunklen Haarschopf wuschelt.

Foto: Plaion Pictures

Maurice, der sich anfangs noch gegen Clives Avancen gewehrt hatte, wird bald vom Gejagten zum Jäger. Dieser Gleichklang zweier Seelen würde noch problemlos in die allseits bekannte Folklore englischer Universitätslieben passen – wir schreiben das Jahr 1909 –, wäre Maurice nicht auf den Geschmack gekommen und verlangte mehr als nur Schwärmen und Streicheln. Clive jedoch sträubt sich, sobald eine Hand unter sein Hemd fährt. „Eine Liebe zwischen Männern ist nur akzeptabel, wenn sie platonisch bleibt“, wird er gegen Ende des Films spitzfindig erklären und damit (s)ein Leben in der Lüge besiegeln. Clives vergeistigte Liebe ist kaum verhüllte romantisierte Angst, die sich zur Panik steigert, als ein Freund aus ihrem Kreis ein paar Jahre später wegen des „unbeschreiblichen Lasters der Griechen“ zu Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt wird, weil er sich mit einem Soldaten verlustiert hat. Zwar bleibt Maurice Clives bester Freund, aber er rettet sich so schnell er kann mit einer standesgemäßen Lady in den sicheren Hafen einer Ehe.

Eine Filmdramaturgie, bei der die Liebe sehr lange nur schwelt und nicht vollzogen wird, könnte etwas fad wirken, aber Ivory weiß dem hinausgezögerten Verlangen eine äußerst attraktive kostbare Form zu geben. In den Familienanwesen der beiden Freunde inszeniert er eine unverschämte Romantik vor der Kulisse der elegant schmallippigen Society zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In ausgesuchten Tableaux und mit geschliffenen Dialogen werden Klassenfragen, Heuchelei und gesellschaftliche Zwänge thematisiert, pointiert, voller Witz und mit einem Ensemble, das bis in die Nebenrollen hinein erstklassig besetzt ist (u.a. mit einem der Lieblingsschauspieler von Merchant/Ivory, Simon Callow, und einem verblüffend jungen Ben Kingsley). Prächtige Bilderwelten tun sich auf, sinnlich in Szene gesetzt: Man fühlt geradezu den Tweed der Jacketts, riecht die Lederschuhe auf kostbaren Orientteppichen, fühlt die fragilen Spitzen der gestärkten Damenblusen.

Foto: Plaion Pictures

Je üppiger Kostüm und Ausstattung, desto klarer wird dem Titelhelden, dass ihm etwas Essentielles fehlt. Im Gegensatz zu Clive spürt er sein Blut und mag Musik, um es einmal so auszudrücken. Den Sex, nach dem er sich so verzehrt, findet er schließlich bei dem attraktiven Jagdaufseher Scudder – und ab sofort ist Schluss mit hingehauchten Küssen, jetzt geht es zur Sache. Diese Szenen sind ein Marker in der Geschichte um Maskulinität und Homosexualität im britischen Kino. Männerkörper werden hier unübersehbar erotisiert, stehen in full frotal nudity für Schönheit und sexuelle Lust, nicht wie sonst üblich für Action. Bezeichnend für Forster (wie für viele andere Werke der bürgerlichen Literatur), dass hier wie in „Auf der Suche nach Indien“ die Inder und in „Zimmer mit Aussicht“ die Italiener, ein Proletarier für die nötige Leibesnähe sorgt.

„England hat noch niemals die Natur des Menschen, wie sie nun einmal ist, akzeptiert“, verkündet Clive einmal, aber Maurice will sich dem nicht beugen, will nicht nach Italien oder Frankreich auswandern. Er entscheidet sich gegen jede Konvention dazu, mit Scudder zusammenzuleben. Forster wusste sehr wohl, dass die Verbindung von Gentry und Proletariat im klassenbewussten England keine Chance gehabt hätte, aber es ehrt ihn, dass er sich schlicht weigerte, die Protagonisten seines einzigen dezidiert schwulen Romans scheitern zu lassen. Er schenkte ihnen ein Happy Ending und damit auch uns. Für Clive wird es hingegen gar nicht happy enden. In seiner letzten Einstellung gibt er der Gattin einen Kuss und schießt sämtliche Fensterläden so dicht, dass ihr Schlafzimmer plötzlich wie eine Gruft wirkt.

Foto: Plaion Pictures

Zusammen mit „Another Country“ (1985), „Mein wunderbarer Waschsalon“ (1985) und „Das stürmische Leben des Joe Orton“ (1987) bezeichnet „Maurice“ das Coming-out des britischen Films. Für Merchant und Ivory hat es sich seinerzeit nicht ausgezahlt: Während „Zimmer mit Aussicht“ acht Oscar-Nominierungen erhielt und drei Auszeichnungen einheimste, war „Maurice“ nur für die Kostüme nominiert und spielte lediglich ein Zehntel des Geldes von „Zimmer mit Aussicht“ ein. Zu früh, zu schwul, darf man wohl vermuten, aber ein weiter Grund Merchant und Ivory zu danken, die auch in ihren sonstigen Filmen, selbst wenn sie scheinbar unschwul waren, ein feines Gefühl für Außenseiter jedweder Art an den Tag legten.

Siebenunddreißig Jahre also, und diese Strecke lässt sich bemessen, indem man den Kinohit von 2017 „Call Me By Your Name“ betrachtet. Von den Locken am flannellbehosten Knie zum frivol zweckentfremdeten Pfirsich war es ein weiter Weg und doch ein ganz kurzer. Ein Blick auf den Drehbuchautor genügt: In beiden Fällen lautet sein Name James Ivory – was ihn zum ältesten Oscar-Gewinner aller Zeiten machte.




Maurice
von James Ivory
UK 1987, 140 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF, deutsche UT,
Plaion Pictures

Als DVD, Blu-Ray und VoD

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