Maurice

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Großbritannien im Jahre 1909. Maurice und Clive studieren in Cambridge – und verlieben sich wider die gesellschaftlichen Normen ineinander. Aber um seine beginnende Karriere als Anwalt nicht zu gefährden, löst Clive die Verbindung auf und stürzt Maurice damit in eine Sinn- und Lebenskrise. Dann begegnet dieser jedoch dem Jagdaufseher Scudder. Der für sein Drehbuch zu „Call Me By Your Name“ mit dem Oscar ausgezeichnete James Ivory inszenierte „Maurice“ (1987) nach dem gleichnamigen Roman von E. M. Forster. Der Film, der nun in einer Special Edition auf Blu-ray erscheint, zeigt Hugh Grant in einer seiner ersten Hauptrollen. Unser Autor Matthias Frings blickt zurück auf das Coming out des britischen Kinos.

Foto: Koch Media

Locken am flannellbehosten Knie

von Matthias Frings

Heute, dreiunddreißig Jahre nach ihrer Entstehung, besteht kein Zweifel: Die Literaturverfilmung „Maurice“ markiert das erfolgreiche Aufeinandertreffen dreier Legenden. Zuerst wäre da der englische Großschriftsteller E.M. Forster, dessen Roman schon 1913/14 geschrieben, aber erst 1971 kurz nach der Legalisierung von Homosexualität in Großbritannien veröffentlicht wurde. Christopher Isherwood und andere gute Freunde hatten zwar einen Blick auf das explizite und teilweise autobiographische Manuskript werfen dürfen, ansonsten aber war das Werk aus Sorge um Forsters literarische Reputation wortwörtlich im Schrank geblieben.

Zweitens agierte hier das in der Filmgeschichte unvergleichliche Paar Ismail Merchant und James Ivory, privat wie beruflich untrennbar miteinander verbunden. Produzent der eine, Regisseur und Drehbuchautor der andere, Legenden beide. Dazu gesellten sich als drittes noch drei Jungschauspieler, die seinerzeit vom Guardian als „perhaps prettiest posh-boy triangle in screen history“ bezeichnet wurden. Es ist in der Tat fast ein Schock, all die Jahre später den unfassbar frischwangigen Hugh Grant in seiner ersten größeren Filmrolle zu erleben, daneben James Wilby als strahlende Goldlocke und den properen Rupert Graves, schon in jungen Jahren immer dann besetzt, wenn ein gewisses Maß an überzeugender Virilität gefordert war.

„Maurice“ also, die erste von mehreren sehr erfolgreichen Forster-Verfilmungen von Merchant und Ivory. Entgegen aller Erwartungen hatten sie sich nicht für die viel berühmteren Romane „Wiedersehen in Howards End“ oder „Zimmer mit Aussicht“ entschieden. Die Zeit schien reif, und dem schwulen Paar lag besonders ein schwules Thema am Herzen, dieses sehr persönliche Bekenntnis zur mann-männlichen Liebe und mehr noch: Die Besonderheit von Roman und Film liegt darin, nicht nur taktvoll von schwuler Liebe zu erzählen, sondern das Bedürfnis nach Körperlichkeit, Leidenschaft, Sex ins Zentrum zu stellen – und dies in einem Land, das den Körper bei Krieg, Sport und Arbeit feiert, nicht aber als Quelle sexueller Lust.

Fast die gesamte erste Hälfte des Films werden wir Zeuge einer tastenden Annäherung zwischen zwei Collegeboys der Upper Class. Clive ist ein bildhübscher Snob („Mir ist Musik immer unangenehm“), der  ein Auge auf seinen sportiven Kommilitonen Maurice geworfen hat. Wir befinden uns in der attraktiven Kulisse von Cambridge – wo sonst? – und es folgen die obligatorischen dekorativen Kahnfahrten, die geistreichen Seminardiskussionen, die ausgelassenen Studententreffen. Es dauert, bis es „zum Äußersten“ kommt: Unvergleichlich delikat die Einstellung, als Clive zu Füßen des lesenden Maurice hockt, seine dunklen Locken an dessen champagnerfarbene Flanellhosen schmiegt und dieser ihm in schönster Balance zwischen Beiläufigkeit und Bedeutungsschwere den dunklen Haarschopf wuschelt.

Foto: Koch Media

Maurice, der sich anfangs noch gegen Clives Avancen gewehrt hatte, wird bald vom Gejagten zum Jäger. Dieser Gleichklang zweier Gefährten würde noch problemlos in die allseits bekannte Folklore englischer Universitätslieben passen – wir schreiben das Jahr 1909 –, wäre Maurice nicht auf den Geschmack gekommen und verlangte mehr als Schwärmen und Streicheln. Clive jedoch sträubt sich, sobald eine Hand unter sein Hemd fährt. „Eine Liebe zwischen Männern ist nur akzeptabel, wenn sie platonisch bleibt“, wird er gegen Ende des Films erklären und damit sein Leben in der Lüge besiegeln. Clives vergeistigte Liebe ist nichts als romantisierte Angst, die sich zur Panik steigert, als ein Freund aus ihrem Kreis ein paar Jahre später wegen der „unbeschreiblichen Laster der Griechen“ zu Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt wird, nachdem er sich mit einem Soldaten verlustiert hat. Zwar bleibt Maurice Clives bester Freund, aber er rettet sich so schnell er kann mit einer standesgemäßen Lady in den sicheren Hafen einer Ehe.

Eine Filmdramaturgie, bei der die Liebe sehr lange nur schwelt und nicht vollzogen wird, könnte ein wenig fad wirken, aber Ivory weiß dem hinausgezögerten Verlangen eine äußerst attraktive kostbare Form zu geben. In den Familienanwesen der beiden Freunde inszeniert er eine unverschämte Romantik vor der Kulisse der elegant schmallippigen Society zu Begin des 20. Jahrhunderts. In ausgesuchten Tableaux und mit geschliffenen Dialogen werden Klassenfragen, Heuchelei und gesellschaftliche Zwänge thematisiert, pointiert, voller Witz und mit einem Ensemble, das bis in die Nebenrollen hinein erstklassig besetzt ist. (u.a. mit Simon Callow und einem verblüffend jungen Ben Kingsley). Prächtige Bilderwelten tun sich auf: Man fühlt geradezu den Tweed der Jacketts, riecht die Lederschuhe auf kostbaren Orientteppichen, fühlt die fragilen Spitzen der gestärkten Damenblusen.

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Je üppiger Kostüm und Ausstattung, desto klarer wird dem Titelhelden, dass ihm etwas Essentielles fehlt. Im Gegensatz zu Clive spürt er sein Blut und mag Musik, um es einmal so auszudrücken. Den Sex, nach dem er sich so verzehrt, findet er schließlich bei dem attraktiven Jagdaufseher Scudder – und jetzt ist Schluss mit hingehauchten Küssen, jetzt geht es zur Sache. Diese Szenen sind ein Marker in der Geschichte um Maskulinität und Homosexualität im britischen Kino. Männerkörper werden hier unübersehbar erotisiert, stehen in full frotal nudity für Schönheit und sexuelle Lust und nicht wie sonst üblich für Action. Bezeichnend für Forster wie für viele Werke der bürgerlichen Literatur, dass hier wie in „Auf der Suche nach Indien“ die Inder und in „Zimmer mit Aussicht“ die Italiener ein Proletarier für die nötige Leibesnähe sorgt.

„England hat noch niemals die Natur des Menschen, wie sie nun einmal ist, akzeptiert“ verkündet Clive einmal, aber Maurice will sich dem nicht beugen, will nicht nach Italien oder Frankreich auswandern. Er entscheidet sich gegen jede Konvention dazu, mit Scudder zusammenzuleben. Forster wusste sehr wohl, dass die Verbindung von Gentry und Proletariat im klassenbewussten England keine Chance gehabt hätte, aber es ehrt ihn, dass er sich schlicht weigerte, die Protagonisten seines einzigen dezidiert schwulen Romans scheitern zu lassen. Er schenkte ihnen ein Happy End und damit auch uns. Für Clive wird es hingegen gar nicht happy enden. In seiner letzten Einstellung gibt er der Gattin einen Kuss und schießt sämtliche Fensterläden so dicht, dass ihr Schlafzimmer plötzlich wie eine Gruft wirkt.

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Noch vor „Another Country, „Mein wunderbarer Waschsalon“ und „Das stürmische Leben des Joe Orton“ bezeichnet „Maurice“ das Coming out des britischen Films. Für Merchant und Ivory hat es sich seinerzeit nicht ausgezahlt: Während „Zimmer mit Aussicht“ acht Oscar-Nominierungen erhielt und drei Auszeichnungen einheimste, erhielt „Maurice“ nur eine Nominierung für die Kostüme und spielte lediglich ein Zehntel des Einspielergebnisses von „Zimmer mit Aussicht“ ein. Zu früh, zu schwul, darf man wohl vermuten, aber ein weiter Grund Merchant und Ivory zu danken, die auch in ihren sonstigen Filmen, selbst wenn sie scheinbar unschwul waren, ein feines Gefühl für Außenseiter jedweder Art an den Tag legten.

Dreiunddreißig Jahre also, und diese Strecke lässt sich bemessen, indem man den Kinohit von 2018 „Call Me By Your Name“ betrachtet. Von den Locken am flannellbehosten Knie zum frivol zweckentfremdeten Pfirsich ist es ein weiter Weg und dennoch ein ganz kurzer. Ein Blick auf den Drehbuchautor genügt: In beiden Fällen lautet sein Name James Ivory – was ihn zum ältesten Oscar-Gewinner aller Zeiten machte.




Maurice
von James Ivory
UK 1987, 140 Minuten, FSK 12,

deutsche SF & englische OF, deutsche UT,
Koch Media

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