Queer Cinema Classics

Queer Cinema Classics

Die queere Filmgeschichte ist ein funkelnder Schatz – reich an widerständigen Figuren, anderen Blicken und ganz eigenen Geschichten. Doch zu vielen wichtigen nicht-heteronormativen Filmen gibt es keine profunde Besprechung, die online verfügbar wäre. Und zu den wenigsten gibt es Texte aus dezidiert queerer Perspektive. Die sissy möchte diese Lücke schließen und wirft in den nächsten zwei Jahren einen besonderen Blick auf jene Filme, die im Laufe der vergangenen 125 Jahre auf die eine oder andere Weise bahnbrechend für das nicht-heteronormative Kino waren und deswegen heute als Klassiker gelten dürfen. Jeden Donnerstag erscheint eine Besprechung. Welche Bedeutung hatten die Filme in der Zeit ihrer Entstehung? Hat sich unser Blick im Laufe der Zeit verändert? Wie nehmen wir die Filme heute wahr? Am Ende soll ein Kanon mit 100 Grundsatztexten stehen, der die Filmgeschichte aus historischer Perspektive und im zeitgenössischem Licht neu ausleuchtet. Das Projekt der Queeren Kulturstiftung wird von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld gefördert. Die sissy bedankt sich!
Happy Together (1997)

Happy Together (1997)

Die Beziehung der zwei jungen Hongkonger Fai und Po-Wing ist zerrüttet. Eine gemeinsame Reise nach Argentinien soll ihre Beziehung retten. Doch nach einem Streit trennen sich ihre Wege und beide stranden in Buenos Aires. Fai wird Türsteher einer Tangobar, Po-Wing hält sich als Callboy über Wasser. Eines Abends erscheint Po-Wing blutend und schwer verletzt wieder bei Fai vor der Tür. Ist das die Chance auf einen Neuanfang? Ein hypnotisierender Blick in einen Wasserfall, eine unvergessliche Taxifahrt, ein letzter Tango – für sein Drama über die Höhen und Tiefen einer großen schwulen Liebe schuf Wong Kar Wai mit den betörenden Bildern seines Kameramann Christopher Doyle und seinen fabelhaften Hauptdarstellern Leslie Cheung und Tony Leung einige der magischsten Momente des queeren Kinos. Für Philipp Stadelmaier schwelgt „Happy Together“ in den träumerischen Farben der Erinnerung einer schon vergangenen Geschichte – aber nur, um dieses imaginäre Territorium zu verlassen und ihm ein neues reales abzugewinnen.
XXY (2007)

XXY (2007)

Alex ist 15 und mit den Eltern gerade von Buenos Aires in ein kleines Küstendorf nach Uruguay gezogen. Hier soll erstmal niemand erfahren, dass Alex inter* ist, finden die Eltern; Alex selbst würde hingegen am liebsten ganz offen damit umgehen. Dann lädt die Mutter einen befreundeten Chirurgen und dessen Familie für ein Wochenende ein, um über die Möglichkeiten einer geschlechtsangleichenden Operation Klarheit zu bekommen. Die Ereignisse im Haus am Meer überschlagen sich... Selbst im queeren Kino gibt es nur wenige Filme, die sich mit dem Thema Intergeschlechtlichkeit beschäftigen. Der Zugang der argentinischen Regisseurin Lucía Puenzo führt tief in die Erlebniswelt zweier Jugendlicher, die sexuelles Erwachen mit dem Neuentdecken des eigenen Körpers in Einklang zu bringen versuchen, und stellt die vielleicht gar nicht so gewagte These auf, dass sich Menschen ineinander verlieben, nicht biologische Geschlechtsträger:innen. Melanie Waelde über einen der wenigen Klassiker des inter* Kinos, der – wenngleich nicht ganz unproblematisch in Bezug auf seine Perspektive auf die Hauptfigur – seiner Zeit weit voraus war.
Sebastian

Sebastian

Tagsüber arbeitet Max bei einem Literaturmagazin, nachts lässt er sich unter dem Pseudonym „Sebastian“ als Escort buchen. Seine Erfahrungen als Sexworker in London fließen in seine Kurzgeschichten ein, die immer mehr Leser:innen erfreuen. Während Max versucht, sein Doppelleben geheim zu halten, muss er sich langsam eingestehen, dass sich die Rolle des Escort nicht ganz falsch anfühlt. „Sebastian“ von Mikko Mäkelä ist ein bemerkenswert sexpositiver Film, der in Transgression und Kinkyness Momente der Befreiung findet, ohne die komplexen Mechanismen und Gefahren von Sexarbeit außer Acht zu lassen. Christian Horn über ein Selbstfindungsdrama zwischen Fiktion und Wirklichkeit, das im Dezember in der Queerfilmnacht zu sehen ist.
The Visitor

The Visitor

Ein nackter Geflüchteter wird in einem Koffer an das Ufer der Themse gespült. Er streift durch London und klopft an die Tür einer wohlsituierten Familie, erhält Einlass und darf als Angestellter bleiben. In den nächsten Tagen verführt der Besucher alle Mitglieder der Familie. So plötzlich wie er gekommen ist, verschwindet er auch wieder – und lässt eine sexuell befreite, aber in ihrer kapitalistisch-bürgerlichen Identität grob verstörte Familie zurück. Der neue Film von Kultregisseur Bruce LaBruce ist eine radikale Neuinterpretation von Pier Paolo Pasolinis Meisterwerk „Teorema“ (1968). Während bei Pasolini ein mysteriöser Fremder ohne akzentuierten sozialen Hintergrund als erotisch-spiritueller Aufrührer in eine Mailänder Industriellenfamilie eindringt, schickt LaBruce einen Schwarzen Geflüchteten in die Londoner Upper Class von heute. Lukas Foerster arbeitet heraus, dass LaBruce im Gegensatz zum marxistischen Pessimisten Pasolini nicht nur weiß, wovon er weg möchte, sondern auch wo er hin will. Über eine queer-feministische Befreiungsfantasie.
Michael Sollorz: Abel und Joe

Michael Sollorz: Abel und Joe

Mit seinem Debütroman „Abel und Joe“ brachte der Berliner Autor Michael Sollorz 1994 das Lebensgefühl einer ganzen Generation schwuler Männer auf den Punkt. Die Geschichte über einen jungen Mann, der auf der Suche nach seinem Freund die Sehnsuchtsorte und Cruising-Spots im wiedervereinten Berlin durchstreift, wurde zum Dauerseller. Sie verschwand nur aus den Buchläden, weil der Verlag rosa Winkel, in dem sie erschienen war, Anfang der 2000er pleiteging. Jetzt, 30 Jahre nach der Erstausgabe und 35 Jahre nach dem Mauerfall, ist der Klassiker als Neuausgabe erschienen. Trifft er auch heute noch einen Nerv? Gabriel Wolkenfeld über ein noch immer waghalsiges und vor Potenz geradezu strotzendes Werk.
Emilia Pérez

Emilia Pérez

Seit „Emilia Pérez“ im Mai Weltpremiere in Cannes feierte und gleich doppelt ausgezeichnet wurde, gehen die Meinungen über den Film weit auseinander. Für die einen ist Jacques Audiards Musical-Thriller-Melodram über die Führungsfigur eines mexikanischen Drogenkartells, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzieht, um zu ihrem wahren Selbst zu finden, aber auch um den Fahndern zu entgehen, größte Filmkunst; für andere hat der Film in Bezug auf die Darstellung der Lebensrealitäten von trans Menschen und der mexikanischen Kultur- und Sozialgeschichte massive Perspektivenprobleme. Für Arabella Wintermayr ist „Emilia Pérez“ ein schrilles Wagnis, das seine eigene Künstlichkeit stetig ausstellt und nur funktioniert, wenn man es als überzeichnete Groteske versteht, die an realistischer Repräsentation überhaupt nicht interessiert ist.
Another Country (1984)

Another Country (1984)

Sommer 1932. Der adelige Internatsschüler Guy Bennett hat die Chance, zu den „Lords“ aufzusteigen – eine innerschulisch herrschende Elite-Gemeinschaft, denen alle Türen für die berufliche Zukunft offen stehen. Doch Guys Affäre mit den jüngeren Mitschüler Harcourt gefährdet den Aufstieg, da die Schule Homosexualität nur bedingt duldet. Mit leuchtenden Bildern und Cambridge-Romantik ebnete Marek Kanievskas sinnliches Internatsdrama „Another Country“ die Karrieren von Rupert Everett und Colin Firth. Matthias Frings ist 40 Jahre später noch einmal in den filmischen College-Kosmos eingetaucht und fördert hinter dem Schmelz der idyllischen Genrebilder eine bis heute faszinierende Abgründigkeit und Gesellschaftskritik zutage.
Baldiga – Entsichertes Herz

Baldiga – Entsichertes Herz

West-Berlin 1979. Jürgen Baldiga, Sohn eines Essener Bergmanns, ist gerade in die Stadt gezogen und beschließt, Künstler zu werden. Mit seiner HIV-Infektion entdeckt er 1984 die Fotografie. Seine Bilder zeigen seine Freunde und Lover, wilden Sex und das Leben auf der Straße und immer wieder die lustvollen Tunten des Schwulenclubs SchwuZ, die zu seiner Wahlfamilie werden. Zwischen Verzweiflung und Begehren, Auflehnung und unbändigem Überlebenswillen wird Baldiga im Angesicht des nahen eigenen Todes zum Chronisten der West-Berliner Subkultur. Als er 1993 im Alter von 34 Jahren stirbt, hinterlässt er ein einzigartiges künstlerisches Vermächtnis. Entlang von Baldigas poetischen Tagebüchern und schonungslosen Bildern sowie über die Erinnerungen von Wegbegleiter:innen zeigt „Baldiga – Entsichertes Herz“ den Künstler nicht nur als bahnbrechenden Fotografen, sondern auch als Aids-Aktivisten und engagierten Kämpfer gegen die Stigmatisierung schwuler Lebensentwürfe. Peter Rehberg, der unter anderem vier Jahre lang das Archiv des Schwulen Museums geleitet hat, wo Baldigas Nachlass lagert, schreibt über einen Film, der Baldigas radikales Leben und seine kompromisslose Kunst in prägnante Kinobilder überträgt.
Hengameh Yaghoobifarah: Schwindel

Hengameh Yaghoobifarah: Schwindel

Freitagabend: Ava hat ein Date mit Robin. Alles läuft super, doch als unerwartet Avas aufgebrachte Liebhaber:innen Delia und Silvia auftauchen, ist es vorbei mit der Harmonie. Überstürzt flüchtet Ava in den 15. Stock aufs Dach, die anderen folgen. Als die Tür hinter ihnen zufällt, merken sie, dass sie in der Falle sitzen, denn in der Aufregung hat niemand einen Schlüssel oder ein Handy mit nach oben gebracht. Na dann, gute Nacht! Nachdem Hengameh Yaghoobifarahs gefeierter Debütroman „Ministerium der Träume“ Liebe und Schrecken im Schatten der Heimatlosigkeit beschwor, verhandelt der neue Roman „Schwindel“ im Rahmen eines zugespitzten „Locked in a room“-Szenarios die Macken und Tücken des Alltags in der queeren Bubble. Anja Kümmel hat sich in das klaustrophobische-komische Setting hineingewagt und einen literarischen Höhenrausch erlebt.