Classics

Queer Cinema Classics

Queer Cinema Classics

Die queere Filmgeschichte ist ein funkelnder Schatz – reich an widerständigen Figuren, anderen Blicken und ganz eigenen Geschichten. Doch zu vielen wichtigen nicht-heteronormativen Filmen gibt es keine profunde Besprechung, die online verfügbar wäre. Und zu den wenigsten gibt es Texte aus dezidiert queerer Perspektive. Die sissy möchte diese Lücke schließen und wirft in den nächsten zwei Jahren einen besonderen Blick auf jene Filme, die im Laufe der vergangenen 125 Jahre auf die eine oder andere Weise bahnbrechend für das nicht-heteronormative Kino waren und deswegen heute als Klassiker gelten dürfen. Jeden Donnerstag erscheint eine Besprechung. Welche Bedeutung hatten die Filme in der Zeit ihrer Entstehung? Hat sich unser Blick im Laufe der Zeit verändert? Wie nehmen wir die Filme heute wahr? Am Ende soll ein Kanon mit 100 Grundsatztexten stehen, der die Filmgeschichte aus historischer Perspektive und im zeitgenössischem Licht neu ausleuchtet. Das Projekt der Queeren Kulturstiftung wird von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld gefördert. Die sissy bedankt sich!
Before Stonewall (1984)

Before Stonewall (1984)

Die Pride Season ist aktuell im vollen Gange, in Berlin wird am Samstag CSD gefeiert. Wie es zu dem jährlich begangenen Fest- und Demonstrationstag kam, darum geht es in unserem queeren Filmklassiker der Woche. Greta Schiller und Robert Rosenberg erzählen in „Before Stonewall“ vom Leben und Alltag queerer US-Amerikaner:innen vor jener berühmten Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969, als sich in der New Yorker Christopher Street eine Gruppe Homosexueller und trans Personen entschlossen der Polizei widersetzte, die eigentlich die Szenebar Stonewall-Inn räumen wollte. Der Aufstand und die sich anschließenden Unruhen und Demonstrationen in den folgenden Tagen gelten als Urknall besonders eines lesbisch-schwulen Selbstbewusstseins – und als Wendepunkt im Kampf um Anerkennung und Gleichstellung. Schillers und Rosenbergs Films ist reich an seltenem Archivmaterial und enthält neben Interviews mit Allen Ginsberg und Audre Lorde vor allem Berichte und Anekdoten von Schwulen und Lesben aus der breiten Bevölkerung. Matthias Frings über die historische Bedeutung von „Before Stonewall“, den Manfred Salzgeber den „Kochbuchfilm zu unserer Geschichte“ nannte.
Orlando (1992)

Orlando (1992)

Zwanzig Jahre vor „Orlando, meine politische Biografie“, Paul B. Preciados filmischem Liebesbrief an Virginia Woolf, adaptierte Sally Potter bereits deren wegweisenden Roman auf kongeniale Weise – mit einer jungen Tilda Swinton in der androgynen Titelrolle. Queen Elizabeth I. verspricht dem jungen Dichter Orlando einen großen Landsitz, wenn er niemals altert. Gegen alle Gesetze der Natur hält sich Orlando an die Bedingung und wird zugleich zu einer Figur in ständiger Bewegung. Er durchlebt vier Jahrhunderte und mehrere Lebensentwürfe, doch keine Epoche kann seine Gestalt halten. Irgendwann erwacht Orlando als Frau. Anne Küper über einen Klassiker des non-binären Kinos, der sich permanent selbst neu entwirft und im Modus des Unvollständigen, des Lückenhaften und Assoziativen funkelt.
Unterwegs (2004)

Unterwegs (2004)

Sandra verbringt mit ihrer kleinen Tochter Jule und Freund Benni den Sommerurlaub auf einem abgelegenen Campingplatz in Brandenburg. Dort begegnen sie dem 19-jährigen Marco. Der charismatische Herumtreiber fordert die Spontaneität des Paars heraus und überredet Sandra und Benni spontan zu einer gemeinsamen Fahrt an die polnische Ostsee. In seinem Debütfilm „Unterwegs“ erzählt Jan Krüger („Rückenwind“, „Auf der Suche“, „Die Geschwister“) eine zerbrechliche Dreiecksgeschichte, die sich ganz aus den Geheimnissen ihrer Figuren entwickelt. Für sein Road Movie voller ungeahnter Sehnsüchte und Möglichkeiten wurde der Regisseur im Jahr 2004 mit dem Tiger Award des Filmfestivals Rotterdam ausgezeichnet. Andreas Wilink über einen Klassiker des jungen queeren Kinos aus Deutschland, der verführerisch vom Ausscheren aus dem Geplanten und Geregelten erzählt.
Priscilla – Königin der Wüste (1994)

Priscilla – Königin der Wüste (1994)

Auf dem Weg zu einem vielversprechenden Job reisen drei Dagqueens in einem aussortierten Reisebus durch halb Australien, von Sydney nach Alice Springs, und haben dabei trotz diverser Anfeindungen die Zeit ihres Lebens. Stephan Elliotts Roadmovie „Priscilla – Königin der Wüste“ avancierte 1994 zu einem der erfolgreichsten Filme der australischen Filmgeschichte und gilt längst als Kult. Axel Schock über ein bahnbrechendes Wüstenabenteuer, das sehr viel Staub aufwirbelt, aber auch nach 30 Jahren keineswegs verstaubt ist.
Maurice (1987)

Maurice (1987)

Großbritannien im Jahre 1909: Maurice und Clive sind Collegeboys in Cambridge und verlieben sich ineinander. Um seine Karriere als Anwalt nicht zu gefährden, beendet Clive die Verbindung und stürzt seinen Geliebten in eine tiefe  Sinn- und Lebenskrise. Die löst sich erst, als Maurice den ungestümen Jagdaufseher Scudder kennenlernt. Regisseur und Drehbuchautor Jamey Ivory und sein Partner und Produzent Ismail Merchant galten jahrzehntelang als Dreamteam und Spezialisten für elegant-subtile Literaturverfilmungen und period pieces. "Maurice", nach dem gleichnamigen Roman von E. M. Forster, ist ihr explizitester Film und machte einen gewissen Hugh Grant zum Schwarm nicht weniger schwuler Männer. Matthias Frings blickt zurück auf ein bahnbrechendes Liebes- und Entwicklungsdrama, das zusammen mit drei weiteren queeren Filmen Mitte der 1980er Jahre das Coming-out des britischen Kinos markiert.
Gesang der Meerjungfrauen (1987)

Gesang der Meerjungfrauen (1987)

Bei seiner Premiere in Cannes im Jahr 1987 wurde „Gesang der Meerjungfrauen“ als Entdeckung gefeiert. Heute gilt Patricia Rozemas bittersüße Komödie als einer der zentralen kanadischen Filme der 1980er Jahre – und als Klassiker des lesbischen Kinos. Die skurrile und höchst liebenswürdige Hauptfigur Polly träumt sich in Toronto durch die Tage und verliebt sich auf ganze eigene Weise in ihre neue Chefin, die Galeriebesitzerin und Kuratorin Gabrielle. Anja Kümmel ist vor allem von der modernen Selbstverständlichkeit beeindruckt, mit der lesbische Liebe und queere Lebensentwürfe in den Plot eingeflochten werden und die Identitätsfrage gar nicht erst gestellt wird.
Buddies (1985)

Buddies (1985)

New York im Sommer 1985. Der 25-jährige schwule Schriftsetzer David will etwas gegen die Aids-Epidemie tun und meldet sich freiwillig bei einem Community-Programm an, das „buddies“ an Menschen vermittelt, die von HIV betroffen sind. So lernt er den 32-jährigen Aktivisten Robert kennen, der nach seiner Erkrankung von Partner und Freunden im Stich gelassen wurde. In einem kleinen Krankenhauszimmer reden die zwei jungen Männer über ihr Leben, die richtige Haltung zum Schwulsein, über leidenschaftlichen Sex und die Angst vor dem Tod. Arthur J. Bressan Jr.s „Buddies“ war 1985 der erste Spielfilm über die Aids-Epidemie. Sein Kammerspiel ist eine zutiefst berührende Studie über Leben und Sterben zu Zeiten von Aids – und ein zeitloses Dokument schwuler Solidarität. Matthias Frings über einen filmischen Meilenstein, für dessen Herausbringung einst der Verleih Salzgeber gegründet wurde.
Sommersturm (2004)

Sommersturm (2004)

Vor 20 Jahren startete „Sommersturm“ in den Kinos. Marco Kreuzpaintners Film über den jungen Ruderer Tobi, der sich in seinen besten Freund verliebt, lockte damals Hunderttausende vor die Leinwände, setzte Maßstäbe für das schwule Repräsentationskino in Deutschland und gilt heute als Coming-out-Klassiker. Zum runden Geburtstag hat sich Fabian Schäfer „Sommersturm“ noch einmal angesehen und findet: Der Film ist im Gegensatz zu anderen deutschen Kassenschlagern mit schwulen Figuren von damals richtig gut gealtert und noch immer sehenswert!
Wild Side (2004)

Wild Side (2004)

Stéphanie lebt in Paris und verdient ihr Geld als Sexworkerin. Ein Anruf führt sie zurück in die Vergangenheit: Ihre Mutter ist schwer erkrankt und braucht ihre Hilfe. Stéphanie reist in das Dorf, das sie vor 17 Jahren verlassen hat, als ihr noch ein anderes Geschlecht zugeordnet wurde und sie einen anderen Namen trug. Zwischen ihr und der Mutter liegen nur Schweigen und Misstrauen. Da kommen Stéphanies Liebhaber nach: Djamel, ein Migrant aus Algerien, und Mikhail, der aus der russischen Armee nach Frankreich geflüchtet ist. Regisseur Sébastien Lifshitz zeigt drei Entwurzelte, die im rauen Pariser Rotlichtmilieu zueinanderfinden, aber erst in der Weite der nordfranzösischen Provinz zu einer Ersatzfamilie zusammenwachsen. Sein Film wechselt virtuos zwischen Erinnerung und Gegenwart, Abschied und Neubeginn, Momenten tiefster Verletzung und höchster Zärtlichkeit. „Wild Side“ ist ein Meilenstein des französischen Queer Cinema und hat auch 20 Jahre nach seiner Uraufführung nichts von seiner poetischen Kraft verloren.