Before Stonewall (1984)

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Die Pride Season ist aktuell im vollen Gange, in Berlin wird am Samstag CSD gefeiert. Wie es zu dem jährlich begangenen Fest- und Demonstrationstag kam, darum geht es in unserem queeren Filmklassiker der Woche. Greta Schiller und Robert Rosenberg erzählen in „Before Stonewall“ vom Leben und Alltag queerer US-Amerikaner:innen vor jener berühmten Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969, als sich in der New Yorker Christopher Street eine Gruppe Homosexueller und trans Personen entschlossen der Polizei widersetzte, die eigentlich die Szenebar Stonewall-Inn räumen wollte. Der Aufstand und die sich anschließenden Unruhen und Demonstrationen in den folgenden Tagen gelten als Urknall besonders eines lesbisch-schwulen Selbstbewusstseins – und als Wendepunkt im Kampf um Anerkennung und Gleichstellung. Schillers und Rosenbergs Films ist reich an seltenem Archivmaterial und enthält neben Interviews mit Allen Ginsberg und Audre Lorde vor allem Berichte und Anekdoten von Schwulen und Lesben aus der breiten Bevölkerung. Matthias Frings über die historische Bedeutung von „Before Stonewall“, den Manfred Salzgeber den „Kochbuchfilm zu unserer Geschichte“ nannte.

Foto: Salzgeber

Als temperamentvolle Männer mit Sweethearts tanzten

von Matthias Frings

Niemand weiß genau, wie es entsteht. Jahrelang, jahrzehntelang scheint die Geschichte zu stagnieren, doch dann ist es, als balle sich auf ein geheimes Signal hin an einem willkürlichen, Ort unbändige Energie zusammen, um sich machtvoll und nachhaltig zu entladen. Danach ist nichts mehr, wie es war.

Es kann auf einer x-beliebigen Pressekonferenz geschehen, wo ein verhuschter Politfunktionär im grauen Anzug nicht mehr durch seine Zettelwirtschaft blickt – und Stunden später ist die Berliner Mauer gefallen. Oder in einer unscheinbaren Bar im New Yorker Village findet eine Polizeirazzia wie unzählige andere vor ihr statt – doch kurz darauf, brennen die Straßen und immer mehr Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transmenschen und Dragqueens jeder Hautfarbe stehen johlend und singend auf den Barrikaden. Ein Urknall.

Warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Warum gerade diese Bar? Jahrzehntelang wird man über das Wer? Wie? Warum? rätseln, aber eines ist gewiss: Das Leben hunderttausender LGBTQ hat an diesem Abend eine entscheidende Wendung erfahren. Ab diesem Moment unterschied man – zumindest was die westliche Welt betrifft – zwischen „Vor Stonewall“ und „Nach Stonewall“ .

Was am Abend des 27. Juni 1969 und in den gewalttätigen Nächten darauf geschah, wurde ausgiebig besprochen und beschrieben. Weil Geschichte nie Punkt, sondern stets Linie ist, war es erstaunlich vorausblickend, dass Greta Schiller und Robert Rosenberg sich schon im Jahr 1984 daranmachten, einen Blick zurück zu werfen. Sie begannen mit „Before Stonewall“ filmisch zu untersuchen und zu dokumentieren, was eigentlich dazu geführt hatte, dass unsere LGBTQ-Vorfahren endgültig die Schnauze davon voll hatten, ständig etwas auf dieselbe zu kriegen, und dass sie statt zum Drink zum Ziegelstein griffen, statt zum Glas zur Flasche, statt zur Kippe zum Brandbeschleuniger.

Eine Geschichtsstunde von Stonehenge bis Stonewall? Ja, bitte! Und zum Glück ist der Stoff dieser filmischen Unterrichtsstunde nicht dröge ausgefallen, sondern ausgesprochen spannend, lustig, traurig, erschütternd, erhellend und packend, besonders weil er mit einer überwältigenden Fülle an Bildern und Tönen daherkommt. „Nein, das glaube ich nicht … das kann doch nicht wahr sein …  ist das wirklich passiert?“ werden viele Zuschauer fragen – und die Antwort lautet immer: Es war alles viel schlimmer, wilder, abstruser, schöner, lächerlicher.

Foto: Salzgeber

Wie klug von den Macher:innen, dieses Projekt schon 1984 anzugehen, denn inzwischen dürften die meisten der hier so berührend erzählenden Zeitzeugen nicht mehr leben. Ganz nebenbei beweist der Film, dass es nicht immer (wie heutzutage ehernes Gesetz) „Big Names“ als Interviewpartner sein müssen, um einem Dokumentarfilm Gewicht und Gesicht zu verleihen. Sicher, die berühmte Poetin und Aktivistin Audre Lorde kommt ebenso zu Wort wie der ebenso berühmte Dichter Allen Ginsberg, aber alle anderen gewöhnlichen Peters, Pauls and Marys unter den Zeitzeug:innen tragen Einschätzungen und Beobachtungen von ebenso unschätzbarem Wert bei. Wann hat man schon mal gehört, wie ein netter älterer Herr ganz en passant von einer New Yorker Dinnerparty erzählt, bei der ein gewisser Dr. Hirschfeld aus Deutschland einen Vortrag hielt?

„Before Stonewall“ setzt in den USA der 1920er an und muss, wenn es keine Lektion mit Zeigefinger werden soll, Kopf, Herz, Humor und vor allem die Augen bedienen. Nur: Wie an Filmmaterial über eine Szene kommen, deren Überleben nur durch Anonymität und Verschwiegenheit gesichert werden konnte? Hier haben Schiller und Rosenberg aus großer Not eine echte Tugend gemacht. Lesben, Schwule, Tunten, Transmenschen gibt es natürlich haufenweise in Filmen des letzten Jahrhunderts zu sehen, aber fast nur als Karikaturen, Lachfiguren, als Warnung vor Dekadenz, dem Untergang von Sitte und Moral, als Krankengeschichte, Melodram und Erpresserschmonzette. Indem die beiden Regisseur:innen genau diese Filmausschnitte einsetzen, die bewusst verteufeln sollten und die übelsten Klischees transportieren, wird sinnlich und eindrücklich nachvollziehbar, wie groß die Vorurteile gegenüber sexuellen Minderheiten waren, wie wenig man über sie wusste, aber auch, wie viel Angst man anscheinend vor ihnen hatte. Denn wer ernsthaft glaubt, ein bisschen homosexueller (Geschlechts)Verkehr würde ganze Zivilisationen stürzen, kann sich seiner (heteronormativen) Sache so sicher nicht sein.

Foto: Salzgeber

Interessant ist bei „Before Stonewall“ auch, dass zum Zeitpunkt der Uraufführung des Films ganz offensichtlich noch nicht die Panik herrschte, Zuschauer:innen bei jedem kurzen Innehalten zu langweilen. Es gibt zwar jede Menge Bildmaterial, aber keine Schnittorgie, kein atemloses Rasen durch die queere Geschichte jenseits aller Chronologie, keine technischen Kunststückchen als Selbstzweck, kein Locken mit nacktem Fleisch. Und siehe da: Wenn die Bilder und Worte das tun, was sie sollen – interessant erzählen nämlich –, braucht es den ganzen hektischen Zauber nicht.

„Before Stonewall“ beginnt mit Ronald Reagan – ausgerechnet. Zu seiner Zeit als Schauspieler wohlgemerkt, nicht als Präsident. In einer Militärklamotte bittet er seinen Vorgesetzten um „Fummel“ für seine Jungs, die in einer Show zur Belustigung der Kameraden als Dragqueens tanzen und herumtunten. Später im Film werden wir Reagan wiederbegegnen, diesmal als Präsident, dem Mann, der jahrelang das Wort Aids nicht in den Mund nehmen konnte, sich hier aber nicht zu schade ist, Homosexualität als Krankheit und Neurose zu diffamieren. So funktioniert das Verfahren dieses Films: Vom Klischee zur Ideologie und dann direkt in die Realität zu den Männern und Frauen und allen dazwischen, die mit solchen ideologischen Zuschreibungen und ihren Folgen leben und überleben mussten.

Foto: Salzgeber

Natürlich ist die queere Geschichte kein Festival des Zuckerschleckens. Die Interviewpartner:innen erzählen viel über Angst, Scham und Unkenntnis, über die unheiligen Allianz zwischen Polizei, Politik und Psychiatrie, über die irrsinnigsten Gesetze, wie dem, dass eine Person in der Öffentlichkeit mindestens drei Kleidungsstücke tragen muss, die eindeutig dem „eigenen“ Geschlecht zuzuordnen sind. Gruselig auch, wie bei Polizeirazzien in queeren Bars die ebenfalls anwesenden Pressevertreter noch bis in die frühen 60er Jahren Fotos schießen dürfen, die dann in der nächsten Zeitungsausgabe mit Name und Adresse der Abgelichteten veröffentlicht wurden. Reputation, Ehe und Karriere vorbei.

Klugerweise betet „Before Stonewall“ nicht sämtliche Strophen der allseits bekannten Diskriminierungslitanei herunter. Gegen den Strich gebürstet, begegnet man auch Realitäten, die man so niemals für möglich gehalten hätte. Die Zeit der Prohibition? Großartige Idee, denn eine ganze Gesellschaft ging in den Untergrund, dorthin, wo die sexuellen Minderheiten sich bestens auskannten und schon prima eingerichtet hatten! Die Armee? Ein Eldorado für Lesben und Schwule! Ziemlich nachvollziehbar, wenn eine Lesbe erklärt, dass nur die Armee Frauen ein verantwortungsreiches Leben jenseits von Heim und Herd erlaubte. Die Männer waren weg, die Frauen wurden gebraucht, und sie war nicht die einzige Lesbe, die das schnell begriff und eintrat. „Es war eine großartige Zeit mit den Mädels“, sagt sie – nur leider hieß es nach Kriegsende: Husch, husch, zurück ins häusliche Körbchen. Same same but different bei den schwulen Männern. Er wäre ein naives Landei gewesen, erinnert sich einer, der nichts und niemanden kannte, erst recht keine anderen Schwulen. Und dann lernt er nicht nur, dass außerhalb seines Kaffs eine ganze, große Welt existiert; sie ist auch noch voll mit Männern, die genauso fühlen wie er.

Foto: Salzgeber

Überraschend und erhellend sind auch die Geschichten, die hier aus Harlem erzählt werden, etwa von der phänomenalen Bluessängerin, die stets darauf bestand, im Anzug aufzutreten. Afroamerikaner:in zu sein war auch im kosmopolitischen New York kein Vergnügen, erst recht nicht, wenn man auch noch queer war, und dennoch hatte ausgerechnet Harlem frühe Schutzräume zu bieten. Es war eben nicht nur Ghetto, sondern auch offen und großzügig, zumindest, was die sexuellen Outcasts betraf. Und so begaben sich die wagemutigeren weißen Homos nach Harlem um auszugehen und Leute kennenzulernen, weil sie sich dort willkommen fühlten. Von dort lässt sich eine direkte Linie in den Süden ziehen, als manch weißer Schwule zu Dr. King ging, um sich gegen den alltäglichen Rassismus zu engagieren.

Es gäbe noch viel zu erzählen, etwa über die rote Krawatte mit dem farblich passenden Einstecktuch als Erkennungszeichen der Homosexuellen, über die erstaunlich vielen Bücher mit lesbischem Inhalt – Schund zumeist, aber eine Offenbarung für alle, die glaubten, die einzigen „temperamentvollen Männer“ oder „Sweethearts“ zu sein, wie zwei der Umschreibungen von Schwulen bzw. Lesben lauteten. Wir erfahren, dass es neben den Beatniks um Ginsberg und Kerouac auch die „gay girls“ als lesbische Variante in Greenwich Village gab und erleben das Aufziehen des Flirts der sexuellen Minderheiten mit dem Mainstream in den 60ern. Das alles und noch sehr viel mehr könnte man erzählen, aber dann müsste man sich diesen Film, der seiner Genrebezeichnung „Dokumentarfilm“ alle Ehre macht, ja nicht mehr ansehen. Und das wäre wirklich schade.




Before Stonewall
von Greta Schiller & Robert Rosenberg
US 1984, 87 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Auf DVD und VoD

 


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