Crossing: Auf der Suche nach Tekla

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Lia, eine pensionierte Lehrerin in Georgien, erfährt von ihrem jungen Nachbarn Achi, dass ihre lang verschollene Nichte Tekla mittlerweile in der Türkei leben soll. In der Hoffnung, Tekla nach langer Entfremdung zurück nach Hause zu holen, reist Lia mit Achi nach Istanbul, um sie aufzuspüren. Bei ihren Streifzügen durch die verborgenen Winkel der Stadt lernen sie die trans Anwältin Evrim kennen, die ihnen bei ihrer Suche hilft. Vor fünf Jahren riss uns Levan Akin mit seinem Liebesdrama „Als wir tanzten“ mit. In seinem neuen Film erzählt er nun zärtlich und vielschichtig von der Suche nach Identität über nationale, Generations- und Gendergrenzen hinweg. Andreas Köhnemann über einen zutiefst humanistischen Film, der für die Kraft der queeren Gemeinschaft bewegende Bilder findet.

Foto: MUBI / Haydar Tastan

Zusammen im Dazwischen

von Andreas Köhnemann

Von der Überschreitung innerer und äußerer Grenzen erzählte Levan Akin bereits in seinem queeren Liebesdrama „Als wir tanzten“ (2019). Der schwedische Drehbuchautor und Regisseur mit georgischen Wurzeln zeigte darin einen jungen Mann, der gegen das homophobe Umfeld an der Akademie des Georgischen Nationalballetts in Tiflis rebellierte. Auch Akins neuer Film „Crossing: Auf der Suche nach Tekla“ beginnt in Georgien, wird aber bald zum Roadmovie, das zwei Hauptfiguren nach Istanbul führt.

Geografische Grenzen werden hier überquert, Kulturen kreuzen sich – und damit auch die Leben von Menschen, die sich zunächst fremd sind. Zugleich steckt im Titel „Crossing“ die Bedeutung eines Übergangs. Die Figuren des Films lassen eine vertraute Umgebung hinter sich, verabschieden sich von einem überkommenen Mindset – oder haben eine Transition, eine Anpassung an ihre Geschlechtsidentität.

In der Schilderung dieser Vorgänge übertritt Akin zudem noch beherzt Genregrenzen. Die Ernsthaftigkeit eines Sozialdramas blendet den leisen Humor einzelner Momente nicht aus. Die überraschende Konfliktfreiheit einer aufkeimenden Romanze voller Flirtblicke und Dialogwitz lässt wiederum die Komplexität der behandelten Themen nicht vergessen. So können sich auch Schwere und Leichtigkeit, Schönheit und Tragik mühelos kreuzen – und neben- sowie miteinander existieren.

Zu Beginn des Plots bildet sich in der Hafenstadt Batumi am Schwarzen Meer ein ungewöhnliches Duo. Lia ist eine Lehrerin im Ruhestand. Kürzlich verstarb ihre Schwester; nun sucht sie nach ihrer verschwundenen Nichte Tekla. Die junge trans Frau hatte ihr Elternhaus vor einigen Jahren verlassen und jeglichen Kontakt abgebrochen. Der orientierungslose Teenager Achi, der seit dem Verlust seiner Eltern bei seinem älteren Halbbruder und dessen Familie auf der Couch schläft, erfährt von Lias Suche – und behauptet kurzerhand, dass Tekla ihm eine Adresse in Istanbul hinterlassen habe.

Foto: MUBI / Haydar Tastan

Da Achi ein bisschen die türkische und die englische Sprache beherrscht, geht Lia widerwillig auf seinen Vorschlag ein, sich gemeinsam auf die Reise in die Metropole am Bosporus zu begeben. Den Jugendlichen hält nichts in seiner Heimat. Er hofft auf ein neues Leben – während sich Lia nach einem versöhnlichen Abschluss sehnt, nach der Gewissheit, dass alles irgendwie gut (geworden) ist. Die beiden übernachten in einem billigen Hostel. Schnell erweist sich die geplante Suche als ziemlich zermürbend. Auch deshalb, weil Lia mit dem bitteren Gedanken konfrontiert wird, dass Tekla womöglich gar nicht gefunden werden will oder es vielleicht längst zu spät ist.

Bereits bei Lias und Achis Ankunft mit einem Schiff in Istanbul eröffnet Akin einen parallelen Handlungsstrang um die trans Aktivistin und frischgebackene Anwältin Evrim, die sich im Rahmen einer NGO unter anderem für Sexworker:innen aus der LGBTQ+-Community stark macht. Zusammen mit seiner Kamerafrau Lisabi Fridell, mit der er schon bei „Als wir tanzten“ eine intensive Bildsprache entwickelte, lässt Akin die Erlebnisse der beiden Neuankömmlinge und den Alltag der engagierten Jungjuristin sich eine Zeit lang immer wieder durch Berührungspunkte und Beinahe-Begegnungen überschneiden.

Foto: MUBI / Lisabi Fridell

Zu den verbindenden Elementen der zwei Erzählstränge gehören die Straßenkinder Izzet und Gülpembe, die stets die Chance zu ergreifen versuchen, ein paar türkische Lira zu verdienen – natürlich auch bei Lia und Achi, die ohne Ortskenntnis in den Gassen der Stadt umherirren. Als alle zentralen Figuren schließlich aufeinandertreffen, will Evrim den beiden Suchenden aus Georgien helfen.

Der Film macht dabei das Netz aus Solidarität sichtbar, das zwischen vielen Einwohner:innen herrscht. So bemüht sich Evrim, auf Izzet aufzupassen, dessen Mutter gerade nicht vor Ort sein kann. Der Junge wiederum kümmert sich um die noch kleinere Gülpembe, die gerade ohne Aufsicht ist. „Crossing“ hebt das Humanistische, den Glauben an eine Gemeinschaft und an eine Wahlfamilie hervor, ohne die Lebensumstände der Menschen in Istanbul zu romantisieren und dadurch zum Kitsch zu werden.

Foto: MUBI

Mit der empathischen Beobachtung der Verbundenheit zwischen den Personen im urbanen Raum geht eine Erfassung des Ortes abseits eines touristischen Blicks einher. Achi schließt sich in einer schlaflosen Nacht einer munteren Truppe zum Feiern an. Lia schäkert bei einem abendlichen Restaurantbesuch mit einem kontaktfreudigen älteren Herrn. An späterer Stelle landen Lia, Achi und Evrim als Trio auf einer Hochzeitsfeier. Erneut gelingt es Akin, Musik und Tanz mitreißend als wirksames Mittel der Kommunikation und der Grenzüberwindung einzufangen.

Durch Teklas Geschichte werden die Schwierigkeiten vieler trans Personen deutlich, von ihren Familien anerkannt zu werden – ebenso wie das (zu) späte Bedauern und die plagenden Schuldgefühle der Familienmitglieder im Nachhinein. Evrims Weg bietet zugleich eine erfreulich positive und empowernde Perspektive als Gegengewicht. Wir begleiten eine selbstbewusste Frau, die sich anfangs die Bestätigung ihrer weiblichen Identität im Ausweis erkämpft und sich in ihrem Job kompetent und hingebungsvoll für andere einsetzt.

Foto: MUBI

Evrims Meet-Cute mit dem charmanten Ahmet, der ein „Piratentaxi“ fährt, um sich sein Studium finanzieren zu können, verzichtet auf erfrischende Weise auf sämtliche dramaturgische Hürden und schmerzvolle Erfahrungen, die hier denkbar wären. Stattdessen entfaltet sich ein zauberhafter RomCom-Subplot, der ganz vom einnehmenden Spiel von Deniz Dumanlı getragen wird.

„Crossing“ verschließt nicht die Augen vor der Realität, legt es aber auch nicht darauf an, uns die Zuversicht zu nehmen. Der Film animiert zu Achtsamkeit, zu genauem Hinschauen und zu gegenseitigem Verständnis. Er lässt uns auf den Übergang in eine Welt hoffen, in der all das endlich vorhanden sein könnte, was heute noch mit großem Kraftaufwand gesucht werden muss.




Crossing – Auf der Suche nach Tekla
von Levan Akin
SW/DK/FR/TR/GE 2024, 105 Minuten, FSK 12,
deutsche SF und georgisch-türkisch-englische OF mit deutschen UT

Ab 18. Juli im Kino