Orlando (1992)

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Zwanzig Jahre vor „Orlando, meine politische Biografie“, Paul B. Preciados filmischem Liebesbrief an Virginia Woolf, adaptierte Sally Potter bereits deren wegweisenden Roman auf kongeniale Weise – mit einer jungen Tilda Swinton in der androgynen Titelrolle. Queen Elizabeth I. verspricht dem jungen Dichter Orlando einen großen Landsitz, wenn er niemals altert. Gegen alle Gesetze der Natur hält sich Orlando an die Bedingung und wird zugleich zu einer Figur in ständiger Bewegung. Er durchlebt vier Jahrhunderte und mehrere Lebensentwürfe, doch keine Epoche kann seine Gestalt halten. Irgendwann erwacht Orlando als Frau. Anne Küper über einen Klassiker des non-binären Kinos, der sich permanent selbst neu entwirft und im Modus des Unvollständigen, des Lückenhaften und Assoziativen funkelt.

Foto: Studio Canal

Kein Anfang, kein Ende

von Anne Küper

Die Augen sind es, die verraten, dass dem verschmitzten Lächeln dieses Prinzen nicht zu glauben ist. In ihnen liegt eine Traurigkeit, die älter ist als er und ihn von den anderen Menschen am Hofe trennt, für die Glück und Melancholie als Kategorien eindeutig voneinander zu unterscheiden sind. Wehmütig schaut Orlando (Tilda Swinton) auf das Leben zurück, obwohl er sich doch eigentlich mit seinem Alter von 16 Jahren in dessen erster Blüte befindet. Im Voraus würde der junge Mann in den engen Strumpfhosen leiden, heißt es. Weil das Morgen keine Chance bereit hält für ihn, keine Hoffnung, sondern stattdessen den nie überwindbaren Verlust von dem, was gerade noch ein Heute war.

Der Engel singt (Jimmy Somerville von Broski Beat), die Königin (Quentin Crisp) wird sterben und mit ihr ein ganzes Zeitalter. Am Totenbett wird sie Orlando aber einen Tauschhandel vorschlagen. Ihre Besitztümer erhält er gegen das Versprechen, für immer so schön und jung zu bleiben – so wie Elisabeth I. ihn im Gedächtnis behalten will. Er willigt ein, auch wenn das Schloss den blassen, staksigen Knaben nicht vor dem Kummer schützen wird, der hinter eben diesen Augen wohnt. Er wird sich verlieben und das Herz brechen lassen, nach Anerkennung suchen, auf Ablehnung stoßen, tanzen gehen. Er wird schreiben, lesen, England verlassen, über verschiedene Kontinente reisen. Diejenigen, die seine Tätigkeiten mit großer Genauigkeit beobachten, sagen, dass es an seinem Geschlecht keinen Zweifel gäbe. Er soll seinen Status sichern, von dem er als weißer Mann profitiert und der auf der Unterdrückung derjenigen beruht, die sich im Hintergrund der Bilder befinden.

Zwischen diesen Erwartungen, Privilegien und Zeiten wandelt die Titelfigur aus Virginia Woolfs Roman „Orlando: A Biography“ (1928), der die Grundlange von Sally Potters Film bildet. „Orlando“ eröffnet und endet mit dem Blick auf ein Feld. Dort sitzt Orlando, lehnt mit dem Rücken an einer Eiche. Keine Spuren des Älterwerdens sind zu erkennen, weder am Baum noch im Gesicht, das die roten Haare sanft umspielen, als wären zwischen den Bildern nicht die Jahre ins Land gegangen. Fast vier Jahrhunderte werden es gewesen sein, zeigen die Texttafeln an. Außer der Kleidung hat sich nichts verändert, während zugleich alles anders geworden zu sein scheint. Denn Orlando wird als Frau Mitte 30 erwachen.

Die Gewalt der Zahlen und der Buchstaben dient nicht als angemessenes Mittel, um einen Körper zu fassen zu kriegen, da sind sich Woolf und Potter einig. Beide suchen stattdessen nach Formen der Geschichtsschreibung, die sich der kausalen Ordnung entziehen. Folglich inszeniert Potter keinen adeligen Alltag, der durch den fantastischen Geschlechtswechsel plötzlich unterbrochen würde. Die Unterbrechung selbst ist es, in der „Orlando“ Platz nimmt. Durch und durch funktioniert der Film im Modus des Unvollständigen, des Lückenhaften und Assoziativen. Die sieben Zwischentitel, die im Laufe von „Orlando“ eingeblendet werden, spalten weiter das auf, was längst zergliedert vorliegt.

Foto: Studio Canal

Vom „Tod“ bis zur „Geburt“, von „1600“ bis „1992“: Wie wir der Sprache unterworfen sind, uns ihr wiederum selbst permanent unterwerfen und sie unsere Wahrnehmung formt, das steht in Potters Adaption im Vordergrund. Dass sie mit dem Ort schließt, an dem sie begonnen hat, und mit dem Jahr, in dem der Film in die Kinos kam, kann in diesem Sinne keine Geste der Beendigung bedeuten. Vielmehr zeigt sich die biografische Erzählung als zyklische Bewegung, die bis ins Unendliche wiederholbar ist, eine beständige, dennoch sprunghafte Tätigkeit, zu der immer wieder angesetzt werden muss, wie mit dem Stift auf dem Blatt Papier, auf das Orlando unter der Eiche ein Gedicht verfasst.

In jeder Zeile wartet ein neuer Selbstentwurf, der doch nur aus dem zusammengesetzt werden kann, was schon besteht, und der auf ewig unvollständig bleibt. Weil es „das Ganze“ oder „das Fertige“ halt nicht gibt in einem Leben und vielleicht noch nie gegeben hat abseits von Erzählungen, die sowas konstruieren. Kein Anfang also und auch kein Ende meint die wiederkehrende Einstellung in „Orlando“. Vielleicht eine Rückkehr ins Jetzt, das ein Aufbruch ist? Gegensätze bestimmen augenscheinlich diesen Film, nur um sich in ihrer widersprüchlichen Beschaffenheit letztlich aufzulösen und zusammenzufallen, je länger wir mit Potter über sie nachdenken.

Ich oder er, Tag oder Nacht, Verliebtheit oder Einsamkeit, Umbruch oder Konstanz, Mann oder Frau. Von Grenzen handelt dieser Film, um sich doch gänzlich der Freiheit zu verschreiben. Orlando ist Orlando geblieben, auch wenn sie sich dazu entschieden hat, fortan als Lady das Leben zu bestreiten. Überfordert ist ihre Umwelt, die nun auf einen Ehemann beharrt, damit die Eigentumsverhältnisse gesichert bleiben. Interessierte gibt es reichlich, bloß Orlando will nicht. Oder will nur, wenn es in dem Verhältnis an Luft und Liebe nicht fehlt. Da ist sie sich gänzlich treu geblieben. Die roten Haare sind länger geworden, der Staub schimmert, wenn er durch die Sonnenstrahlen in der Bücherei schwebt. Er legt sich über die 36-jährige Haut, die nicht mehr vom Staub, sondern von einer anderen Hand berührt werden mag. Neugierig ist sie, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn sie sich am Bauch wölbte als fände darunter ein Kind Platz.

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Finanzieren will Potters Projekt in den 1990er-Jahren niemand. Ob seiner Form gilt der Roman von Woolf, den sie ihrer zehn Jahre jüngeren Freundin Vita Sackville-West widmete und der gerne als „längster und schönster Liebesbrief der Welt“ gilt, als unverfilmbar. Zu herausfordernd sei er für das Publikum in seinem teils strikt ersthaften, teils spaßig ironisch-parodistischem Unterton, zu kostenintensiv in Anbetracht der Ausstattung, die für die Darstellung von nichts weniger als vier Jahrhunderten nötig wäre. Um das nötige Geld aufzutreiben, startet die britische Regisseurin das, was wir heute Crowdfunding-Kampagne nennen würden: Sie schnappt sich die damals aufstrebende Schauspielerin Tilda Swinton, die bereits in den Filmen von Derek Jarman in Erscheinung getreten ist, und lichtet sie mit Kostümteilen bekleidet an historischen Orten wie dem ehemaligen Anwesen von Sackville-West ab. Potter ergänzt die Fotografien um Texte, gestaltet ein aufwendiges Storyboard in Buchform. 100 Exemplare verschickt sie an die potentiellen europäischen Geldgeber:innen. Die Arbeit wird sich lohnen – und „Orlando“ für Swinton den endgültigen internationalen Durchbruch bedeuten.

Bis heute prägt die Rolle entscheidend die öffentliche Wahrnehmung der schottischen Schauspielerin. Dabei ist Androgynität kein Konzept, das sich nur im Hinblick auf die geschlechtliche Uneindeutigkeit von Swintons eleganter, ruhiger Körperlichkeit diskutieren ließe. Woolf verstehe den kreativen Geist als androgyn, merkt Swinton in dem US-Kunstmagazin „Aperture“ an, für das sie 2019 Gastredeakteurin war. Obwohl sich „Orlando“ in erster Linie als eine fantastische Geschichte über einen Menschen verstehen lässt, der sich von bestehenden Vorstellungen von Geschlecht und sozialen Normen emanzipiert, ist der Roman genauso eine Abhandlung über das, was die Künste können und welche Fantasien sie hervorbringen, sowie eine Feier all diejeniger, die in der Literatur oder im Film an den Illusionen fleißig mitarbeiten.

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Der Mode als Maskerade, als Verhüllung und Spiel mit Identitäten kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Genauso wie das Setdesign von Ben von Os und Jan Roelfs zitiert Sandy Powells Kostümbild im Film die jeweiligen Epochen, durch die sich Orlando mit unsterblicher Leichtigkeit manövriert. Ausschließlich für Verortungen in Raum und Zeit sorgt das nicht, stattdessen findet in dem Zugriff des Films auf die Zeichen von Üppigkeit und Opulenz ein Nachempfinden dessen statt, welche gesellschaftliche Atmosphäre die jeweilige Kleidung überhaupt hervorgebracht hat.

Dass „Orlando“ selbst eine Fantasie dieser Zeitgeister beschwört, eine Vorstellung jener Vorstellungen aus der Perspektive der 1990er-Jahren ist, darum weiß der Film, daraus gibt es kein Entkommen. Mit Lockenperücke und hellblauem, bauschig-breiten Rokoko-Rock betritt Orlando ein Labyrinth, um seine Gänge nach der nächsten Abbiegung mit Klammern im langen Haar und einem schwarz-dunkelgrünen, für die viktorianische Ära üblichem Kleid fortzusetzen. Eine Wendung beim Laufen, ein Schritt, ein Schnitt, ein Sprung in der Zeit. So schnell gehen die Jahrzehnte manchmal vorbei und ineinander über, dass es sich niemals gänzlich in ihnen ankommen lässt.

Ständig ist Orlando in Bewegung, keine Epoche kann diese Gestalt halten. Auch der Mann auf dem Pferd wird es nicht tun, zumindest nicht für eine lange Dauer. Shelmerdine (Billy Zane) heißt er und verschwinden wird er wieder, sobald der Wind richtig steht. Mit seinem Erscheinen wird die Zukunft auf einmal ganz konkret, die vorher im Nebel lag. Die Eisenbahnen werden erfunden, die Güter verteilt, die Fabriken erbaut. Die Industrialisierung wird in den Aufnahmen sichtbar und mit ihr eine Geschichte der Gewalt, die kontinuierlich aus dem Hintergrund die Bedingungen setzt für das, was es zu sehen gibt.

Foto: Studio Canal

Dass Prozesse der Transition nicht nur märchenhaft, sondern definitiv schmerzvoll sein können; dass die Romanvorlage von Woolf eine große Faszination für das Fremde hegt, die sich definitiv problematisieren lässt; dass die Frage, wer schon spricht und wer noch schreibt, wer für was stehen kann oder es jedenfalls muss in einer Öffentlichkeit, die immer noch an eindeutigen Stellvertretungen interessiert ist – mit all dem hat sich zuletzt Paul B. Preciado in seinem Film „Orlando, meine politische Biografie“ (2023) beschäftigt. Neben Preciado treten darin 25 trans und nicht-binäre Menschen auf, die mit Halskrausen in die Rolle Orlandos schlüpfen.

Aus ihren individuellen Berichten wird im Film eine kollektive Erzählung, die Woolfs Roman zelebriert, weiterspinnt und hinterfragt. In gewisser Weise lassen sich solche Prozesse der Kommentierung ebenfalls bei Potter bemerken, zum Beispiel wenn Swinton wiederholt die vierte Wand durchbricht und wir uns als Zuschauer:innen in ihren Augen spiegeln können. „Orlando“ ist eine Erinnerung an das, was ein Leben gewesen sein könnte. Es ist zu schnell vorbei, um es in all seinen Szenen zu begreifen, verläuft jedoch langsam genug, um stets dem Rausch der Projektionen zu erliegen, wenn diese in der Dunkelheit funkeln. Keine stabile, distanzierte Haltung ist mehr möglich, kein fester Stand, das Eis geht sich unter den Füßen entzwei. Ein Sohn wird geboren, doch ein ganzes Geschlecht wird er nicht retten können, es vielleicht auch nicht mehr müssen auf diesen Straßen, die Orlando mit dem Motorrad hinunterbraust.




Orlando
von Sally Potter
UK 1992, 93 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT

Als DVD, BluRay und VoD