Orlando, meine politische Biografie

TrailerKino

In ihrem Roman „Orlando“ (1928) erzählte Virginia Woolf die Geschichte eines jungen Mannes, der am Ende eine Frau ist. Knapp 100 Jahre später schreibt Philosoph und trans Aktivist Paul B. Preciado einen filmischen Brief an Woolf und ruft ihr zu: Deine Figur ist wahr geworden, die Welt ist heute voller Orlandos! In „Orlando, meine politische Biografie“ zeichnet Preciado seine eigene Verwandlung nach und lässt 25 andere trans und nicht-binäre Menschen im Alter zwischen 8 und 70 Jahren zu Wort kommen. Für seinen Film wurde Preciado schon auf der Berlinale gefeiert und u.a. mit dem Teddy für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Jetzt ist „Orlando“ auch im Kino zu sehen. Philipp Stadelmaier über einen Safe-Space-Film, der Woolfs Text mit den Waffen der Theorie und den Geschichten seiner Protagonst:innen überschreibt und so aus der Fiktion herauslöst.

Bild: Salzgeber

Orlando + Orlando

von Philipp Stadelmaier

Vielleicht muss damit begonnen werden: Paul B. Preciados „Orlando, meine politische Biografie“, basierend auf Virginia Woolfs Roman „Orlando – Eine Biografie“ von 1928 und nach der Premiere in der Encounters-Sektion der diesjährigen Berlinale mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, ist keine Biografie des Autors. „Vielleicht“, weil das Kommentieren, Zuweisen oder Urteilen über diesen Film und die in ihm auftauchenden Personen kompliziert ist, nur aus dem Film selbst heraus geschehen kann. Also ausgehend von der Überschreitung der cis-hetero-patriarchalen Geschlechterbinarität und den Aussagen der im Film auftauchenden trans Personen, deren non-binäre Geschlechtsidentitäten sich durch diese Überschreitung formen. Identitäten, von denen im Film mehrfach gesagt wird, dass sie „außer Zweifel stehen, auch wenn die Mode der Zeit sie verbirgt.“

Preciado, der aus Nordspanien stammende Queer-Theoretiker, Philosoph, trans Aktivist und Auflöser traditioneller Vorstellungen von Gender, Sex und Sexualität; Preciado, Autor des „Kontrasexuellen Manifestes“ (2000), das Anus und Dildo zu den weapons of choice im Kampf gegen die hegemoniale Heterosexualität erklärt, sowie von „Testo Junkie“ (2008), in dem er die rauschhafte Geschlechtsangleichung, oder eher offene Geschlechtswerdung im „pharmapornographische“ Selbstversuch unter Zuhilfenahme von Testosteron nachvollzieht – Preciado also hat einen Film gemacht, der sich den Kategorien des Titels, Woolfs „Orlando“ und der eigenen (politischen) Biografie, gleich wieder entzieht. Denn, wie Preciado anfangs aus dem Off darlegt, hat „fucking“ Virginia Woolf, für die Preciado Bewunderung, Zuneigung, aber auch Wut empfindet, mit ihrem „Orlando“ Preciados Biografie ja längst geschrieben ­– und damit das eigene (auto-)biografische Vorhaben von vornherein verunmöglicht.

Woolfs Roman handelt von einer Person, die eine Geschlechtsmetamorphose durchläuft: Orlando wird im 17. Jahrhundert als Mann geboren und stirbt 1928, im Jahr der Publikation von Woolfs Buch, als mehr als dreihundertjährige Frau. Die Geschichte, inspiriert von Woolfs zeitweiliger Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Vita Sackville-West, wird von Preciado zur Urform heutiger trans Biografien erklärt – und zu ihrem größten Hindernis. Zumal die Geschichte einer englischen aristokratischen Person nicht weiter entfernt liegen könnte für den Sohn eines Mechanikers und einer Näherin aus Burgos, der, vereinfacht gesagt, den umgekehrten Weg eingeschlagen hat, vom „weiblichen“ zum „männlichen“ Geschlecht, als würden solche Kategorien oder Richtungen noch irgendetwas bedeuten. Außerdem, so Preciado, wird man nicht einfach mal so eben trans und wacht nicht „eines Morgens als Frau auf“, wie es Orlando in Woolfs Roman während eines Aufenthalts in Konstantinopel widerfährt. Es ist komplizierter. „Wir riskieren dabei unser Leben“, erklärt Preciado.

Auf diese Art beginnt Preciados „Orlando“ mit einem Akt des Empowerments, der sich nicht nur gegen jegliche Art von binärer Geschlechtszuschreibung (bezogen auf Sex wie auf Gender), sondern auch noch gegen jene literarische Vorlage wendet, nach der die biografische Auslotung von trans Identitäten (wie jener Preciados) im Film vollzogen werden soll. Von dieser ursprünglichen Infragestellung des Vorhabens aus, in der sich die Liebe zu Woolf mit einem rant verbindet, kann der Film dann zweierlei werden. Zum einen wird er zu einem Filmbrief an die Autorin Woolf, der die Grenzen der organischen Endlichkeit des Lebens, also die Grenzen der Biografie überschreitet – denn das Leben, sagt Preciado, „beginnt vor der Geburt und endet nach dem Tod“. Zum anderen wird er – und darin besteht sein „politisch-biografischer“ Anspruch – zum Porträt vieler anderer „Orlandos“, die hier auftreten, von trans und nicht-binären Personen jeglichen Alters, die sich mit Blick in die Kamera vorstellen und dann, in Interviews, mal Aspekte des eigenen Lebens vortragen, mal solche des Lebens von Woolfs Orlando. Dieser ist nur schließlich ein:e Orlando unter vielen anderen, heutigen; „die Welt ist voller Orlandos.“

Bild: Salzgeber

„Orlando“ ist ein Safe-Space-Film, gefilmt in der Abgeschiedenheit der Natur, von Filmstudios oder angedeuteten Dekors, deren Geschlossen- und Abgeschiedenheit dem Film eine intime Atmosphäre verleiht. Das Setting hat nach außen hin etwas Didaktisches, nach innen etwas von Gruppentherapie, Healing und Happening. Da begegnen sich einige Orlandos in Vorzimmer des Psychiaters Dr. Reine, Diplomand der „patriarchalen-kolonialistischen Schule“, der nichts kapiert hat von Nicht-Binarität und femininen Penissen, eine Karikatur, die die Welt in zwei Geschlechter eingeteilt haben will. So müssen die Patient:innen dem Arzt und Diagnostiker Eindeutigkeit vorgaukeln (sich entweder als Mann oder Frau inszenieren), um an entsprechende Gutachten und Rezepte zu kommen, während sie gleichzeitig im Wartezimmer eine illegale Hormonparty veranstalten, sich Testosteron und Östrogen schmeißen und sich so aus dem medizinisch-pharmazeutischen Regime des Verordnens und Verschreibens befreien, dem sie ausgeliefert sind.

„Orlando“ ist auch, wenig verwunderlich, ein hochtheoretischer Film. Aber die Theorie wird bei Preciado zur Waffe. Ihr Endgegner ist die Fiktion. Nicht nur, wie schon erwähnt, in Form der Woolfschen Vorlage, sondern vor allem in Form der Fiktion des „es gibt nur zwei Geschlechter“. Und ist nicht auch die Konzeption von „trans“ noch eine Fiktion des Patriarchats, um eine als abnormal verstandene Übertretung der binären Struktur zu kennzeichnen? Die dokumentarische Vorstellung der nicht-binären und/oder trans Personen im Film widersteht ihrer Repräsentation als trans Personen und beharrt eben auf ihrer jeweiligen Einzigartigkeit. Die Stärke des Films liegt in den Interviews mit den Gezeigten, insofern sie von sich selbst sprechen. Sie erzählen von ihren Erfahrungen mit Zuschreibungen, Hormonen, Psychiater:innen, den Eltern. Sie alle sind auf ihre Art bewundernswert direkt, souverän und klar in ihren Aussagen, gezeichnet und doch wenig beeindruckt von der cis-patriarchalen Gewalt, die sie ständig erleben.

Bild: Salzgeber

Umgekehrt wirkt daher der Orlando-Charakter ein wenig aufgesetzt. Preciado „adaptiert“ Woolfs Text nicht, und schreibt ihn auch nicht um, sondern überschreibt ihn vielmehr, so dass Diazepam neben Pfauengalle stehen darf, und Orlando, um „digitalen Übergriffen“ im Internet zu entkommen, sich von König Charles auf weite Reisen schicken lässt. Nur: Auf diese Weise entstehen hier keine neuen Figuren und es entsteht auch nicht die Poesie, die Preciado immer wieder als eine der Metamorphosen Orlandos beschwört. Die im Film Vorkommenden sind eben keine „Orlandos“ im Plural, sondern immer nur sie selbst + Orlando; entweder erzählen sie von sich oder aus der Perspektive der Woolfschen Figur. Orlando ist und bleibt daher immer nur Orlando, jener von Woolf und von Preciado, eine intransitive literarische Figur, an die Preciado nicht glaubt, egal, wie präsent sie in dem Film ist, und die, getrennt von den lebendigen Körpern und neben ihnen lauernd, im Film nie lebendig wird. Der Film soll seiner Fiktion ja gerade widerstehen, die nur angedeuteten Kostüme, die offensichtlichen Dekors, die angerissenen Zitate sollen den Glauben an Orlando brechen. Auf diese Weise kommt es aber niemals zu einer Synthese, einer Verschmelzung und damit auch zu keiner Genese neuer Singularitäten. Orlando ist eine sich selbst gleichbleibende Maske, durch die wir die (wirklich singulären) Menschen dahinter sehen sollen, eine Maske, die stets nur neu aufgesetzt wird, um wieder weggezogen zu werden. Theorie (Orlando) und Evidenz (die auftauchenden Personen) bleiben voneinander getrennt.

Dieses mechanische, formalistische Spiel wird gelegentlich durchbrochen. Dann verbindet sich die Theorie mit der Evidenz, die Fiktion mit dem Realen und die Dokumentation mit der Faszination einer orlandesken Welt: im Halbdunkel entblößte abgenommene Brüste und Narben, oder das kurze Auftauchen dreier phantastischer Dragqueens, der „Gött:innen der Hormone, des Gender-Fuckings und des Aufstandes“.

Dieser Aufstand wendet sich gegen die politischen Fiktionen, die uns individuelle Körper auf bestimmte Weise wahrnehmen, uns bestimmte ästhetische Urteile über sie fällen lassen – wie in dieser Filmkritik. Es sind diese Fiktionen, die „umoperiert“ werden müssen. Auf einem Operations-Tisch am Ende liegt kein individueller Körper, sondern Woolfs Buch, in dem Bilder ausgeschnitten und durch andere ersetzt werden. Es sind die Personen des Films, die diese Operation vornehmen. Als würden sie selbst mit auf dem Tisch liegen, mediziniert und reguliert vom heteronormativ-patriarchalen Regime, aber auch selbst aktiv und alles andere operierend: die Geschichte, die Fiktionen, die (Körper-)Bilder und die Augen, mit denen wir das alles sehen.




Orlando, meine politische Biografie
von Paul B. Preciado
FR 2023, 98 Minuten,
französische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Ab 14. September im Kino.

 


↑ nach oben