I Killed My Mother

TrailerDVD/VoD

Xavier Dolan war erst 16, als er das Buch für „I Killed My Mother“ schrieb, und 19, als er seinen Debütfilm drehte. Bei der Weltpremiere in Cannes 2009 wurde der smarte und wahnsinnig gut aussehende Jungregisseur als neues Wunderkind gefeiert. Das autobiografisch grundierte Coming-of-Drama ist nicht nur der ultimative Film für alle Söhne und Töchter, die von ihren Müttern genervt sind. Es markiert mit seiner zugleich wunderschönen und tieftraurigen Formsprache auch die Geburt eines großen Filmemachers des (queeren) Weltkinos, der jüngst in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País seinen Rückzug aus dem Regiefach im Alter von erst 34 Jahren angekündigt hat. Auf die Wiederveröffentlichung von „I Killed My Mother“ als DVD und VoD reagieren wir mit einer eigenen Wiederveröffentlichung: Hier ist noch einmal die Rezension von Thomas Abeltshauser zu lesen, die im Jahr 2011 der erste sissy-Text zu Dolan überhaupt war.

Foto: Salzgeber

Muttermord

von Thomas Abeltshauser

Eine Szene, wie sie so oder ähnlich jeder kennt, der sich als Jugendlicher für seine Eltern geschämt hat oder zumindest von ihnen genervt war: Mutter und Sohn sitzen am Küchentisch und die Frau im geschmacklosen Pullover isst recht unbeholfen ein Brötchen, Reste des cremigen Belags bleiben in ihren Mundwinkeln hängen. Der Sohn verdreht nur die Augen und weist sie auf ihren Fauxpax hin. Überhaupt hat der 16-jährige Hubert dauernd was an ihr auszusetzen: Wenn sie sich während der Autofahrt am Steuer schminkt, wenn sie nicht zuhört oder Dinge vergisst, wenn sie ihre Soaps im Fernsehen ansieht. In der Schule behauptet er, seine Mutter sei tot. In ebenso brillanten wie bösartigen Dialogen breiten Mutter und Sohn ihr neurotisches Verhältnis aus, das durchaus ambivalent ist. Wenn ihr jemand etwas antun würde, wäre Hubert zum Rachemord bereit. Und trotzdem kann er locker 100 Leute aufzählen, die er mehr liebt als sie.

Einer von ihnen ist sein Freund Antonin, mit dem er seit zwei Monaten zusammen ist. Seine Mutter erfährt das nebenbei im Sonnenstudio, von Antonins Mutter. Und während sie sich mit ihrem Sohn wegen jeder Kleinigkeit in die Haare kriegt, versucht er sein eigenes verwirrendes Leben auf die Reihe zu bringen.

Gespielt und inszeniert wird dieser Hubert von Xavier Dolan. Das Buch schrieb er ebenfalls, es basiert lose auf der Beziehung zu seiner eigenen Mutter. Im Mai 2009 hatte der Film seine Weltpremiere auf dem Filmfest in Cannes, wo er gleich drei Preise abräumte. Und über Nacht wurde aus einem 20-jährigen Jungen das Phänomen „Xavier Dolan“, das kanadische Wunderkind. Jung, smart, wahnsinnig gutaussehend, aber auch leicht arrogant, wurde er zunächst in Frankreich, dann weltweit zum Festival- und Mediendarling. Im Februar 2010 ging der Film dann sogar als kanadischer Beitrag ins Oscar-Rennen für den Besten nicht-englischsprachigen Film. Da war Xavier Dolan nach US-amerikanischem Recht noch nicht einmal volljährig.

Geboren wurde der Sohn eines Schauspielers am 20. März 1989 in Québec. Als Kind spielte er in zahlreichen kanadischen Filmen und Serien mit, bevor er mit 16 ein Drehbuch schrieb, in einem Alter also, in dem die anderen Jungs eher mit Hormonen und dem Erkunden des eigenen Körpers und denen anderer beschäftigt sind und sich ihre libidinöse Kreativität aufs Verfassen schwülstiger Gedichte beschränkt. Es war sein erstes Drehbuch und sein erster Film, ohne jedes Vorwissen, finanziert von den 150.000 Dollar, die er sich als Kinderstar verdient hatte.

Foto: Salzgeber

Woher hatte er mit 16 dieses Selbstvertrauen? „Das ist weniger Selbstvertrauen als Ignoranz. Der Film hat etwas Amateurhaftes. Das heißt nicht, dass ich nicht stolz auf einige Ideen darin bin, aber es war doch eher ein Suchen nach einer eigenen Handschrift, eine Art Experiment.“ Eines freilich, das ihn auf den Roten Teppich in Cannes und danach so ziemlich jedes Filmfest dieser Welt brachte. Das deutlichste Ergebnis dieses Ausprobierens, sein prägnantestes Stilmittel sind Szenen von oft banaler Alltäglichkeit, die durch Zeitlupe und den Einsatz musikalischer Motive überhöht werden. Sie sind zugleich schön, fast zu schön, und tieftraurig. Aber so formal ungewöhnlich sie auch scheinen, neu sind sie nicht. Mit ganz ähnlichem Effekt (und ähnlichem Score) hat das auch schon Wong Kar-Wai in „In the Mood for Love“ (2000) getan. Das macht Xaviers Szenen freilich nicht weniger berückend.

Foto: Salzgeber

Auch sein zweiter Film „Herzensbrecher“, den er gleich im Anschluss drehte, sei zum Teil autobiografisch, sagt Xavier. „Nicht eins zu eins, aber für mich ist Liebeskummer wie eine Platte mit einem Sprung – alles wiederholt sich immer wieder. Ich werde in Liebesdingen einfach nicht erwachsen. Auch wenn ich es in der Theorie besser weiß, benehme ich mich doch noch immer wie ein unbeholfener Teenager.“ Er kokettiert überhaupt gern mit seinem Alter. Wenn er Fragen nach der Bedeutung seiner Filme nicht mag, sagt er gern Sätze wie „Ich bin jung. Ich habe keine Ahnung, was ich tue.“ Wie arbeitest du? „Ich schreibe und dann drehe ich.“ So einfach? „Ja. Bisher zumindest. Aber es ist einfach, weil es ignorant ist. Es ist jung und unbedarft und frei und liebevoll. Filmemachen ist für mich wie Liebemachen, ich denke nicht viel darüber nach. Es sind einfach Dinge, die raus müssen.“ Deshalb fing er auch sofort nach dem Erfolg in Cannes mit seinem zweiten Film an. „Es war mir unvorstellbar, nach ‚I Killed My Mother‘ warten zu müssen, bis ich den nächsten Film machen kann. Das ist für mich kein Job. Es ist eine Droge, eine Lebenseinstellung. Mein Modus Vivendi.“ Seinen dritten Film „Laurence Anyways“ beschreibt er als noch ambitionierter. „Ein tragischer Liebesfilm über einen Mann, der zur Frau werden will und seine Verlobte bittet, bei ihm zu bleiben und ihm bei seiner Transformation beizustehen.“ Und mit einem ironischen Grinsen fügt er hinzu: „Nicht biografisch.“ Und er spielt auch nicht selbst mit. Überhaupt scheint die Schauspielerei ein sensibles Thema zu sein.

Foto: Salzgeber

Auf die offensichtlich nervige Frage, ob er auch wieder für andere Regisseure vor der Kamera stehen wird, verdreht er ganz Hubert-isch die Augen. „Ich werde einfach nicht als Schauspieler gesehen. Ich bekomme keine Anfragen. Wenn mich jemand fragen würde, würde ich ja sagen. Vielleicht denken sie, ich sei ein Laiendarsteller oder einfach nur schlecht und ein Loser, der sich in seinen Filmen selbst besetzt, weil er sonst keine Rollen bekommt.“ Wenn man leise Zweifel anbringt, schnaubt er verächtlich: „Das ist die Realität! All die Preise waren für den Film, nicht für meine Performance.“

Die Aversion gegen den Vergleich mit seiner Generation hat Xavier mit Hubert gemein: „Hör auf, mich mit den anderen zu vergleichen. Ich bin nicht wie sie!“, schreit der seine Mutter an, und man kann nur ahnen, worauf Xavier damit in seiner eigenen Biografie anspielt. Denn da will er sich nicht so richtig festlegen: „Einiges passierte so in meinem Leben, aber das ist heute längst anders. Und ich habe viel dazuerfunden.“ Vielleicht erklärt das auch den Hype um ihn, als Filmemacher und als Person. Klar, da ist die Faszination fürs Wunderkind, die Entdeckung eines Talents quasi aus dem Nichts, der Drang zum Geniekult, aber es ist mehr. Da ist endlich wieder einer, der sich was traut, mit einem unbedingten Stilwillen. Und einer, der seine Neurosen und seinen Herzschmerz mit jugendlicher Grandezza und Übertreibung in Bilder verwandelt, die zum Sterben schön sind. Wong Kar-Wai fällt da ein, aber auch Tom Ford. Nur ist Xavier Dolan halb so alt wie sie. Kaum auszumalen, was aus ihm noch werden kann. Möge er nicht allzu schnell erwachsen werden.




I Killed My Mother
von Xavier Dolan
CA 2009, 100 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & französische OF mit deutschen UT

Jetzt als DVD und VoD.