Herzensbrecher

TrailerDVD/VoD

Stilbewusst, selbstsicher und wahnsinnig romantisch: Zwei Jahre nach seinem weltweit umjubelten Debüt „I Killed My Mother“ (2009) legte der damals erst 21-jährige Xavier Dolan diese wunderbare Liebeskomödie nach und verzauberte damit eine ganze Generation junger Romantiker:innen. Dolan selbst spielt den schmachtenden Francis, Monia Choukri und Niels Schneider die beiden anderen Spitzen des amourösen Dreiecks. „Herzensbrecher“ ist ein leidenschaftlicher Fluss voller unvergesslicher Bilder, melancholischer Songs und hinreißender filmischer Referenzen. Nostalgisch und modern zugleich – und jetzt als VoD im Salzgeber Club verfügbar. Sascha Westphal über einen Klassiker des queeren Kinos, in dem Liebe und Selbstliebe groß geschrieben werden.

Foto: Salzgeber

Narzissten unter sich

von Sascha Westphal

Es muss einfach Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Alles andere wäre auch undenkbar. Schließlich war sie mit einmal da, die Antwort auf alle seit langem schwelenden, aber immer wieder verdrängten Hoffnungen und Sehnsüchte. Jeder von ihnen wusste, dass etwas fehlte in ihrem Leben, dass da eine Leere war, die weiter und weiter wuchs und gefüllt werden wollte. Und nun stand es also vor ihnen, in greifbarer Nähe, das ideale Objekt aller Begierden: bildschön und unberechenbar, impulsiv und geheimnisvoll, ein wenig zu selbstverliebt, aber dabei irgendwie doch ganz natürlich, fast schon unschuldig. Es ist Projektionsfläche und mehr noch Spiegel. Wenn der verklärte, allein von Wunschvorstellungen und Idealen erfüllte Blick des Betrachters darauf fällt, dann sieht er im Anderen nichts als seine scheinbar endlich wahr gewordenen Fantasien und Träume, also letzten Endes doch nur sich selbst.

So in etwa ließe sich die Grundkonstellation in „Herzensbrecher“, Xavier Dolans zweitem Spielfilm, beschreiben, der im Original den noch weitaus verräterischeren Titel „Les amours imaginaires“ trägt … die eingebildete Liebe, gleich auch noch in der Mehrzahl, so als ob es gar keine andere gäbe, und zumindest in der Welt dieses Films gibt es sie auch nicht. Jede Liebe ist reine Imagination, Wunschdenken, das umschlägt in Obsession und Stalking. Doch erst einmal soll hier von einer ganz anderen Liebe auf den ersten Blick die Rede sein.

Es muss ein denkwürdiger Frühlingstag gewesen sein, dieser 18. Mai 2009, an dem Xavier Dolans Regiedebüt „I Killed My Mother“ seine Premiere in Cannes feierte. Die Geschichte des Films, dessen autobiografisch eingefärbtes Drehbuch Dolan mit 16 geschrieben und dann mit 19 selbst in Szene gesetzt hat, ist mittlerweile eine Legende, genauso wie der Festivalauftritt seines Regisseurs, der zugleich auch noch sein eigener Hauptdarsteller und Produzent war. Seither sind es immer wieder die gleichen Adjektive und Formulierungen, die in den Texten über ihn und seine Filme auftauchen. Er selbst wird als jung und schön, wenn auch ein wenig selbstverliebt und eitel beschrieben. Und das sind dann auch gleich die Etiketten, mit denen „I Killed My Mother“ und „Herzensbrecher“, der nur ein Jahr später, wieder in Cannes, uraufgeführt wurde, immer wieder gerne versehen werden.

Es geht schließlich auch alles so perfekt zusammen: Dolans Alter und der betont jugendliche Habitus seiner Filme, sein Aussehen wie sein Auftreten und die Selbstsicherheit, mit der er sich durch die Geschichte des Autorenkinos zitiert. In einer Welt, die sich nach dem noch nie Dagewesenen verzehrt, die immer auf der Suche ist nach neuen Moden, in der Jugend an sich schon etwas Kultisches hat und also verehrt wird, musste Dolan einfach zum It-Boy der Saison werden, und dass er dann auch noch derart selbstverständlich schwul ist, passte nun endlich auch einmal perfekt ins Bild.

Wie schon erwähnt, es war einfach Liebe auf den ersten Blick, und wahrscheinlich hatten weder das Publikum noch die ansonsten eher etwas zurückhaltende Kritik je eine Chance. Der Zauber musste sie einfach erfassen. Schließlich glichen Filmemacher und Werk einer Antwort auf ihre Kinostoßgebete. Mit ihnen wurde wenigstens dem Anschein nach alles real, was zuvor nur als vage Sehnsucht durch Köpfe und Herzen geisterte. Eine große Liebe war geboren … und wie alle welterschütternden Leidenschaften kann auch diese – folgt man Xavier Dolan – nur eine imaginäre sein, eine einseitige Einbildung, die ihr Objekt eigentlich gar nicht berührt und es doch in Krisen und Konflikte stürzen kann.

Am Anfang ist der Blick, und der fällt sogleich auf den blond gelockten Nicolas, in dessen rechtem Mundwinkel gerade eine noch nicht angezündete Zigarette äußerst lässig hängt. Er ist ohne Frage der Star dieses Abends unter Freunden. Sie sitzen zwar alle im Kreis um einen runden Esstisch, aber er, der Neue, der gerade aus der Provinz nach Montreal gekommen ist, steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die versammelte Clique von hippen Twentysomethings setzt sich für ihn in Szene, und er lässt es sich mit größter Nonchalance gefallen, als wäre er sich seiner Wirkung gar nicht bewusst.

Foto: Salzgeber

Die Blicke, die ihn isolieren und die anderen um ihn herum einfach ausblenden, kommen indes aus der Küche, in der Marie und Francis, zwei gleichgesinnte Außenseiter:innen, die glauben, über allem zu stehen, gerade den nächsten Gang zubereiten. Während sie nebeneinander an der Arbeitsplatte stehen und Gemüse schneiden, drehen sie immer wieder den Kopf zur Seite, um Nicolas zu beobachten. Dann geschieht alles in Zeitlupe. Jede seiner so selbstvergessen wirkenden Gesten hat für Marie und Francis etwas Verheißungsvolles, wird zu einem Versprechen. Selbst der Rauch seiner Zigarette steigt in magischen Formen auf. Es ist eben Liebe auf den ersten Blick, auch wenn Marie ihren besten Freund voller aufgesetzter Verachtung fragt, wer denn dieser „selbstgefällige Adonis“ sei. Sie muss ihre Gefühle in Schach halten und die Form wahren … für Francis, aber mehr noch für sich selbst. In Wahrheit ist es da jedoch schon längst um sie geschehen.

Wir müssen uns Narcissus als glücklichen Menschen vorstellen. Diese Idee erscheint absurd, geradezu abstrus und abwegig, aber nur wenn wir Ovids Erzählung folgen und uns dessen moralische Haltung zu eigen machen. Der so überaus schöne Jüngling wird das Opfer seines „fühllosen Hochmuts“ (Ovid), er muss dafür bezahlen, dass er all jene, die ihn bedrängt und verfolgt, begehrt und verehrt haben, verschmäht hat. Das mag gerecht erscheinen, ist es aber nicht: Schließlich haben sie alle nicht ihn, sondern allein seine Schönheit geliebt. Sie wollten sie besitzen, denn sie war ein Versprechen, das ihnen Antwort auf ihre Wünsche und Sehnsüchte war. Doch die Moral der Geschichte misst eben mit zweierlei Maß. Also muss er sich in sein eigenes Bild, eine Spiegelung auf der Oberfläche eines Sees, verlieben. Selbst als er sein so nahes und doch unerreichbares Gegenüber erkennt, kommt er doch nicht von ihm los. Erst der Tod befreit ihn. Die Rache der Götter und der Verschmähten, die sich doch nur selbst belügen, ist wahrhaft grausam.

Immer wieder kreist Dolans frühes Schaffen um den Mythos von Narcissus. In Etienne Desrosiers’ Kurzfilm „Im Spiegel des Sommers“ (2007) spielt er einen modernen Narcissus, einen Jüngling von atemberaubender Schönheit, auf den sich alle Blicke richten, die des älteren schwulen Freundes der Eltern wie auch die von dessen Geliebten. Immer wieder zeigt Desrosiers diesen Julien, wie er ganz im Einklang mit sich und der Welt in einem See schwimmt. Wie einstmals James Bidgood, der mit „Pink Narcissus“ (1971) eine ganz private Obsession in ein Meisterwerk des Camps verwandelt hat, frönt auch Desrosiers unzweifelhaft seinen Fantasien, und Xavier Dolan spielt mit. Aber auch wenn dieser doch sehr konventionelle Kurzfilm sich heillos in schon unzählige Male gesehenen Arthouse-Prätentionen verliert und sich damit jeder Vergleich mit Bidgoods Underground-Klassiker eigentlich verbietet, bleiben diese Bilder von Xavier Dolan im See: Narcissus schwimmt und entkommt seinem Schicksal: „In the waters made holy, an angel he found / With the key to the lock of his chains he was bound“ (Kris Rowley, „Narcissus“).

Foto: Salzgeber

Von allen Künsten war die siebte eigentlich immer schon die narzisstischste. Jeder Star, den sie hervorgebracht hat, hat etwas von Narcissus. Wie der Nymphensohn der griechischen Mythologie, der von Männern genauso begehrt wurde wie von Frauen, zieht auch er die Blicke und Begierden aller auf sich und bleibt davon ganz ungerührt. Aber auch das Publikum unten im Kinosaal wandelt auf Narcissus’ Spuren: Die Leinwand ist sein Spiegel, auf den sich all sein Begehren richtet. Die projizierten Bilder werden von seinen eigenen Projektionen übermalt.

Mit dieser Ambivalenz, diesen beiden Spielarten einer auf sich selbst gerichteten Liebe, spielt Xavier Dolan meisterhaft. Dazu gehört selbstverständlich, dass er sich selbst und sein Äußeres plakativ in Szene setzt: „I Killed My Mother“ ist eben nicht nur das Dokument einer obsessiven Mutter-Sohn-Hassliebe, er ist auch ein Liebesbrief, den Dolan sich selbst geschrieben hat. Aber entscheidender ist am Ende dann doch das Spiel, das er mit den Betrachter:innen treibt. Mit all seinen Verweisen auf die Nouvelle Vague und Wong Kar-wai, die schon sein Debüt prägten und nun in „Herzensbrecher“, dieser von Godard-Zitaten durchsetzten queeren Überschreibung von François Truffauts „Jules und Jim“ (1962), noch einmal einen tieferen Resonanzraum erhalten, bedient er virtuos den Cinenarzissmus des globalen Kunstkinopublikums.

All die kleinen filmischen Spielereien, die extrem schnellen Zooms in den direkt in die Kamera gesprochenen, pseudo-dokumentarischen Interviewsequenzen und die monochromen Bettszenen sind dabei genauso Teil von Dolans postmodern ironischem Konzept wie all die salopp eingestreuten Kunst- und Pop-Verweise. Natürlich muss die von Monia Chokri gespielte Marie, eine 50 Jahre zu spät geborene Wiedergängerin Audrey Hepburns, in Nicolas gleich Michelangelos David sehen, während für Dolans Francis, diesen James Dean der Post-Histoire, mit ihm die Zeichnungen und Skizzen Jean Cocteaus Gestalt angenommen haben. Style ist alles in Dolans Welt- und Lebensentwurf wie in dem seiner beiden spiegelbildlichen Alter-Ego-Figuren. Die 1960er Jahre werden zum Fluchtpunkt aller Sehnsüchte, die in der profanen Wirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts unerfüllt bleiben müssen: Dalidas italienische Version von „Bang Bang“ ist nicht nur der ideale Soundtrack eingebildeter Liebe, sie ist auch das grandiose Vintage-Leitmotiv eines Rückzugs in die Vergangenheit, in eine Zeit der überhöhten und idealisierten Gefühle. Retro ist die einzige Zukunft, die noch bleibt, zumindest für den Schwärmer Dolan und all die, die wiederum ihn umschwärmen.

Foto: Salzgeber

Wieder und wieder stehen Marie und Francis vor Spiegeln, vertieft in ihr eigenes Antlitz. Ihre Blicke in den Spiegel sind wie ihre Blicke auf Nicolas, daran lässt Xavier Dolan keinen Zweifel. Darin liegt ihr Schmerz, aber letzten Endes eben auch ihr Glück. Ein Jahr danach, ihre Kämpfe um das gemeinsame Objekt ihrer Begierde sind Vergangenheit und nur mehr Stoff für launige Anekdoten, werden sie Nicolas auf einer Party zufällig wiedertreffen. Von ihrer Leidenschaft ist nichts mehr übriggeblieben als Hohn, dem Francis dann auch in bizarren Lauten Ausdruck verleiht. Die Verschmähten verschmähen ihn, um sich wenige Momente später schon gemeinsam einem neuen Nicolas zuzuwenden. Wie sie zusammen in Zeitlupe – wie sollte es auch anders sein – auf ihn zugehen, hat etwas beinahe Raubtierhaftes. Dazu erklingt noch einmal Dalidas „Bang Bang“. Das Spiel kann von vorne beginnen.

Ein riesiges Spiegelkabinett des Narzissmus, so ließe sich „Herzensbrecher“ wohl am besten beschreiben. Ein Entkommen gibt es nicht, aber das will in Wahrheit auch gar keiner. Auf der Oberfläche hat Niels Schneider als Nicolas die Rolle des Narcissus von Xavier Dolan übernommen, der nun einen der Verschmähten spielt. Doch so einfach war es noch nie mit diesem Mythos. Der schöne Jüngling und seine zurückgewiesenen Verfolger waren letztendlich immer eins: Happiness in stalking, und jede:r, vor wie hinter der Kamera, auf der Leinwand wie vor ihr, liebt die eigenen „amours imaginaires“, Projektionen und Wunschbilder. Das weiß Xavier Dolan, und so bietet er sich der rein narzisstischen Schaulust des Kinopublikums als Objekt wie auch als Subjekt an. Er ist Ideal und Identifikationsfigur, unerreichbar und doch eins mit seinen Bewunder:innen. Nun bleibt abzuwarten, wie lange Dolan ihnen, diesen Traum-Stalker:innen, noch einen Schritt voraus bleiben kann. Aber zumindest bis es so weit ist, müssen wir uns Narcissus als glücklichen Menschen vorstellen.




Herzensbrecher
von Xavier Dolan
CA 2010, 100 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & französische OF mit deutschen UT

Jetzt als DVD und VoD.