Suzette Mayr: Der Schlafwagendiener

Buch

„The Sleeping Car Porter“ erhielt 2022 als erster queer-thematischer Roman Kanadas renommierten Scotiabank Giller Prize. Nun ist Suzette Mayrs Buch unter dem Titel „Der Schlafwagendiener“ in deutscher Übersetzung erschienen. Eisenbahn-Page Baxter erfüllt im Jahr 1929 stumm lächelnd alle Wünsche der reichen, weißen, oft skurrilen Fahrgäste. Er darf sich nicht den kleinsten Fehler erlauben und schon gar nicht seine Hingabe an Männer preisgeben – denn das würde ihn ins Gefängnis bringen. Als die Fahrt unerwartet unterbrochen wird, gerät Baxters Überstundenschicht zur „Tour d’emotion“. Dennis Stephan ist mit in den Zug gestiegen.

Ein anstößiger Freund

von Dennis Stephan

Toronto, Ende der 1920er Jahre: Der 29-jährige Baxter träumt davon, Zahnarzt zu werden. Im Kanada jener Zeit ist das für jemanden wie ihn gar nicht so einfach. Denn Baxter ist schwarz, schwul und gehört der Arbeiterklasse an. Um die Studiengebühren zusammenzubekommen, malocht er von früh bis spät als Schlafwagendiener. Doch die mehrtägige Fahrt quer durch Kanada wird zu einem nicht enden wollenden Wachtraum aus delirierender Übermüdung, absurdem Snobismus, spiritistischem Ulk und verbotener Liebelei …

Mit ihrem sechsten Roman „Der Schlafwagendiener“ gewann die Autorin Suzette Mayr eine ganze Reihe von Preisen. Allen voran den Scotiabank-Giller-Prize – mit 100.000 Dollar der höchstdotierte Literaturpreis Kanadas. Und das höchst verdient. „Der Schlafwagendiener“ ist gleichzeitig Kammerspiel und Wimmelbild, historischer Roman und zeitlose Gesellschaftssatire und überzeugt durch bildhafte Sprache, pointierten Humor und gut recherchierte Detailverliebtheit. Und nicht zuletzt bereitet Suzette Mayr in dem Buch der eher selten in der Literatur aufbereiteten Black Queerness zu Zeiten der Rassentrennung eine Bühne. In ihrer Dankesrede bei der Giller-Prize-Gala bekannte die lesbische Kanadierin mit dem deutschen Vater und der afrokaribischen Mutter unter Tränen, sie habe das Buch für all jene „LGBTQIA2S+-Schwestern, -Brüder und -Geschwister“ geschrieben, „von denen viele, wie meine Hauptfigur Baxter, immer noch zu viel Angst haben, sich zu outen“.

„WANT A JOB? Sleeping-car Porters wanted for summer and permanent service. No experience necessary. Write to-day for full information“. Dieses authentische Inserat, das 1913 in einer Ausgabe des Quartals-Journals der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung „The Crisis“ erschien, stellt Mayr dem Roman voran. Danach beginnt die Geschichte – wie die fast 4.000 Kilometer lange Reise des Trans Canada Express von Montreal nach Vancouver – in gemächlichem Schritttempo. Wir begleiten Baxter durch den Trott seiner beruflichen Routine. Er trägt immer ein dezentes Grinsen im Gesicht, ist immer höflich, zuvorkommend und stets zu Diensten der gutsituierten Passagiere – so wie es erwartet wird von einem Schlafwagenschaffner (so die wörtliche Übersetzung seiner Position, die im deutschen Titel wohl zur Unterstreichung ihres knechtischen Charakters mit „Schlafwagendiener“ übersetzt wurde).

Suzette Mayr – Bild: newestpress

Mit ihren ausführlichen Beschreibungen von Baxters sich wiederholenden Tätigkeiten, vermittelt Mayr ein Gefühl des eintönigen Arbeitsalltags der Schlafwagendiener: Sie richten Schlafkojen her, springen nach dem Klingeln der Fahrgäste, zählen Handtücher, beziehen Betten, falten Laken, polieren Schuhe, wechseln Seifenstücke, schrubben Klos und versuchen, sich bei alledem peinlichst genau an das Handbuch der Zuggesellschaft zu halten. Für jede Verfehlung, für jede Unzufriedenheit drohen Strafpunkte oder die Kündigung. Feierabend? Fehlanzeige! Arbeitsschutz und geregelte Ruhezeiten? Wo denkst du hin!

So etwas könnte auf langer Strecke fade oder deprimierend werden, hätte Mayr ihren Protagonisten nicht mit einer sarkastischen Beobachtungsgabe, einem eigenwilligen Zahnfetisch und einer verbotenen Affäre ausgestattet. Zudem stellt sie Baxter wunderbar illustre Charaktere zur Seite, die nicht nur die sklavische Natur seiner Arbeit betonen, sondern das Buch auch äußerst unterhaltsam machen: ein frisch gebackenes Ehepaar; einen inkognito reisenden Schauspieler; ein Medium, das zwischen den Lebenden und den Toten vermittelt; eine Groschenroman-Autorin und ihre zänkische Tochter; temperamentvolle Geschäftsmänner; eine alte Dame mit ihrer verwaisten Enkelin; einen Doktor mit gewissen Vorlieben; einen jähzornigen Vorgesetzten … Genügend Zündstoff also, um dem Dampfkessel Feuer zu geben.

Gekonnt führt uns der Alltag an Bord der rollenden Luxuslok die Absurdität einer von der Rassentrennung gespaltenen Dienstleistungsgesellschaft vor Augen. In einer Welt, in der die Passagiere Baxter nur „George“ nennen, hat dieser höflich zu nicken – der Kunde ist immerhin König. Aber nicht nur die Tretminen der Dienstfertigkeit bringen „George“ ins Schleudern, sondern auch seine heimliche Homosexualität. Denn bis 1967 waren sexuelle Beziehungen zwischen Männern in Kanada ein Garant fürs Gefängnis. Als Baxter beim Reinigen des Waschraums eine pornografische Postkarte mit schwulem Motiv findet, wird die transkontinentale Reise für ihn endgültig zur holperigen Achterbahnfahrt. Statt den anstößigen Fund vorschriftsgerecht zu melden oder zu entsorgen, lässt Baxter sich von ihm in einen Zustand hineintreiben, der ihn permanent zwischen Erregung und Angst oszillieren lässt. Gleichzeitig dient die Postkarte einem weiteren Narrativ: Sie beschwört Baxters Erinnerungen an Edwin Drew herauf, seinen einstigen Ausbilder und ersten Liebhaber, den er seit einem Zwischenfall mit der Polizei nie wiedergesehen hat.

Zu allem Überfluss zwingt auch noch eine Schlammlawine den Zug zum Stillstand, was Baxters Dienst auf unbestimmte Zeit verlängert. Während die Luft in den Waggons und zwischen den Fahrgästen merklich dicker wird, beginnt die Realität Baxter zwischen Übernächtigung und Sekundenschlaf immer mehr zu entgleiten. Nun lässt Mayr die einzelnen Geschichten und verqueren Figuren endgültig mit der dichten Atmosphäre verschmelzen und unterwirft sie den Spannungsbögen um verbotene Liebe und Sexualität, mysteriöse Charakterzüge und existentielle Nöte. Erzähltechnisch ist hier noch einmal hervorzuheben, wie meisterhaft sich die Autorin darauf versteht, den Nebenakteuren eigene kleine Kurzgeschichten zuzuschreiben, die ihren Status, ihr Weltbild und ihre Hintergründe greifbar machen, ohne dass sie auserzählt werden. Damit macht sie auch uns Lesende zu Passagieren, die von den Mitfahrenden immer nur so viel erfahren, wie die Dauer der Reise zulässt.

Ob als Reiselektüre oder für zwischendurch im Alltag: „Der Schlafwagendiener“ ist ein auf ganzer Linie gelungener, extrem unterhaltsamer, historischer Roman, der auf humorvolle Weise von Queerness, Rassismus und gesellschaftlichen Strukturen der 1920er-Jahre erzählt und in Windeseile ausgelesen ist. Große Leseempfehlung!



Der Schlafwagendiener
von Suzette Mayr
aus dem Englischen von Anne Emmert
Hardcover, 240 Seiten, € 25,
Verlag Klaus Wagenbach

 

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