Pink Narcissus

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Seinen 89. Geburtstag am 28. März hat James Bidgood nicht mehr erlebt, er starb Ende Januar. Um an den visionären Filmemacher und Fotografen zu erinnern, gibt es sein Meisterwerk „Pink Narcissus“ ab dem 24. März im Salzgeber Club. Der Kultklassiker zelebriert die Schönheit einer einzigen Person: Bobby Kendall. Der begehrenswerte Narziss entführt in obsessiv erotische Traumwelten, in denen er sich wahlweise als Torero, römischer Sklave, Stricher oder verliebter Draufgänger stilisiert. Jochen Werner über ein faszinierendes Artefakt – und wie man es heute zu fassen bekommt.

Foto: Salzgeber

Im schwulen Zauberlicht

von Jochen Werner

Am Anfang gleitet die Kamera durch einen blau leuchtenden Märchenwald, eine verzauberte, somnambule Dschungelphantasmagorie, die ihre Nachtschatten auf die großen (und durchaus queeren) Dschungelfilmer des Gegenwartskinos vorauswirft – mehr noch auf Raya Martins „Independencia“ als auf die tropischen Malaisen eines Apichatpong Weerasethakul. Dann tritt das Leben in diese hochartifizielle Welt hinein. Eine pinkfarbene Sonne wirft ihr Licht auf die Szenerie, ein Blütenkelch öffnet sich, räkelt sich nachgerade obszön, wird von einem knallgelben Schmetterling begattet. Dann: der Mensch. Und seine Narreteien: „La folie des hommes“, so der erste Zwischentitel in „Pink Narcissus“, diesem bis heute enigmatischen, bezauberten Monument des frühen schwulen Kinos.

Der Titel verweist dabei nicht nur auf die – vielleicht auf Powell/Pressburgers kaum weniger farbenfrohe und von unterschwelligem sexuellen Begehren pulsierende „Black Narcissus“ rekurrierende – Narzisse, sondern auch und zuerst auf den Narziss. Der unwirklich schöne Bobby Kendall multipliziert sich in einem glitzernden Spiegelkabinett in scheinbar unbegrenzte Potenzialitäten seiner selbst hinein, vom perlenbehangenen Haremsjungen über den schillernden Torero bis hin zur nackten Naturgottheit Pan.

Im Land hinter den Spiegeln warten aber nicht nur herbeigeträumte Fantasiewelten, sondern auch konsequent ästhetisierte Orte eines schwulen Begehrens, das noch nicht selbstverständlich öffentlich sein durfte. Die Klappe, die anonyme sexuelle Begegnung am vermüllten Urinal, steht hier, stets in dieses farbige Zauberlicht getaucht, neben den aus Sage, Mythos, Märchen oder radikal idiosynkratisch verstandener Historiographie entliehenen, homophil überformten Nirgendorten, die fortwährend ineinanderfließen und wieder auseinanderstreben. Das Filmbild selbst reflektiert, vervielfacht, bricht unseren Blick immer wieder aufs Neue, bis wir erkennen, dass wir selbst als Schauende Protagonisten in diesem scheinbar so hermetischen Spiegelkabinett sind. Am Ende zerbricht ein Spiegel, die Risse ziehen sich durch das Filmbild selbst und werden, in einen weiteren Traum hineingespiegelt, zum Spinnennetz in jenem Naturidyll, durch das hindurch wir „Pink Narcissus“ bereits betraten. Ein Wunderwerk ist dieses Netz, das Produkt poetischer Bestrebung in der Natur selbst. Eine Raupe kriecht langsam darauf zu. Poiesis, Eros und Thanatos sind in diesem Wunderland dasselbe.

Wie bekommt man dieses faszinierende, einzig- und eigenartige Artefakt, das „Pink Narcissus“ ist, heute zu fassen? So ganz und gar am Ende (glücklicherweise) wohl überhaupt nicht, aber einige Punkte zur Annäherung bieten sich doch an. Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass „Pink Narcissus“ eine Art Zeitkapsel aus einer präpornografischen Ära des schwulen Kinos ist. Das Geschehen auf der Leinwand ist zwar durch und durch sexualisiert, bleibt aber strikt softcore. Stattdessen gleiten die Pin-up-Szenarien in symbolisch vollzogene Sexakte hinüber: Verknotete Perlenketten werden gewichst wie ein Schwanz, die folgende Ejakulation versprüht animierte Lichtbläschen in die Kamera. (Und im Gegenzug findet man dann, in einem ganz anderen Szenario, nach dem Zerreiben eines vertrockneten Blattes eine spermaverklebte Hand vor.)

Foto: Salzgeber

Man muss die Ästhetik des Films entschieden aus der Zeit seiner Entstehung heraus lesen – von 1963 bis 1970 zogen sich die Dreharbeiten hin, eine Zeit, in der es ein hohes persönliches Risiko bedeutete, zu seiner homosexuellen Orientierung zu stehen und sie gar in filmischer Form öffentlich zu präsentieren. „Pink Narcissus“ wurde sechs Jahre vor den Stonewall Riots begonnen und kurz nach diesem Meilenstein der amerikanischen Schwulenbewegung fertiggestellt. Nur ein Jahr später veröffentlichte Wakefield Poole seinen wegweisenden Pornofilm „Boys in the Sand“, und die Welt war fortan nicht mehr dieselbe. Eine Reihe engagierter, aktivistischer Filmemacher um den legendären Jack Deveau zogen bald nach und erklärten es in ihrer Company Hand in Hand Films zur Firmenpolitik, auf Pseudonyme zu verzichten – man wollte stolz sein auf die eigene Sexualität und auf die Filme, die man darüber machte.

Wem die Kinogeschichte „Pink Narcissus“ zu verdanken hatte, gehörte hingegen jahrzehntelang zu den großen Mysterien des queeren Kinos. „Produced/Written/Photographed/Directed by: Anonymous“, so stand es lediglich geschrieben, und von diesem schlichten Credit aus entzündeten sich zahllose Theorien und Träume und errichteten sich von Geisterhand mitunter prächtige Luftschlösser. Andy Warhol war ein Name, der in diesen zauberhaften Spinnereien häufig vorkam, und warum auch nicht? Dass der tatsächliche Schöpfer von „Pink Narcissus“ aber hartnäckig im Dunkel blieb, während Warhol schon in den 1960er Jahren Blowjobs filmte, nahm der schönen Theorie aber irgendwann doch die Plausibilität. Eine andere Denkschule vermutete einen etablierten Hollywood-Regisseur hinter den Kulissen, der aus Angst, mit einem Outing seine Karriere zu zerstören, ungenannt blieb – auch das im Grunde nicht unplausibel, arbeiteten doch später im erblühenden Goldenen Zeitalter des Pornofilms in den 1970er Jahren jedenfalls im Hetero-Segment spätere Hollywood-Größen wie Wes Craven, Abel Ferrara oder Barry Sonnenfeld. Die Grenzen zwischen Pornofilm und „seriösem“ Kino waren folglich noch permeabel, die Segregation noch längst nicht so gefestigt wie in den folgenden Dekaden.

Foto: Salzgeber

Beinahe dreißig Jahre dauerte es, bis 1999, kurz vor der Jahrtausendwende, das Geheimnis um die Urheberschaft von „Pink Narcissus“ endlich aufgeklärt wurde und der Film sich als Werk des Fotografen James Bidgood entpuppte. Bidgood hatte im Verlauf der 1950er Jahre einigen Erfolg als Modedesigner, Kostümbildner und Aktfotograf für diverse homoerotische Magazine gehabt und hatte „Pink Narcissus“ über einen Zeitraum von sieben Jahren vollständig in seinem winzigen Apartment in Manhattan gedreht – als ein wahres Werk der Liebe. Und James Bidgood war nicht nur ein obsessiver, sondern auch ein eifersüchtiger Liebhaber! Obsessiv, weil ungemein perfektionistisch, denn auch nach siebenjähriger Drehzeit schien sich der gewissermaßen in Millimeterarbeit zusammengestückelte Film noch immer nicht entscheidend der Fertigstellung zu nähern. Und eifersüchtig, letztlich nicht ohne Anlass, wurde ihm „Pink Narcissus“ doch an diesem entscheidenden Punkt tatsächlich entrissen. Den Finanziers riss der Geduldsfaden, und ohne Bidgoods Wissen ließen sie das gefilmte Material von Martin Jay Sadoff sichten und zu einem 65-minütigen Film montieren. Bidgood war entsetzt, warf den Verantwortlichen vor, seine Vision zerstört zu haben und zog seinen Namen vom fertiggestellten Film zurück. „Pink Narcissus“ ist somit nicht ein aus persönlicher Angst anonymisierter, sondern ein aus künstlerischer Enttäuschung enterbter Film.

Gleichwohl – oder gerade deshalb – bleibt die Frage im Raume stehen, warum Bidgood jahrzehntelang schwieg, die enttäuschte und sicherlich noch immer schmerzende Liebe seines Lebens als verstoßene Waise allein stehen ließ und sogar ertrug, dass sie dem von ihm nie sehr geschätzten Andy Warhol („First of all he would never put that much effort into anything“, so Bidgood einmal in einem Interview) zugeschrieben wurde. Nun, „Pink Narcissus“ wurde zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung schlichtweg nicht so stark beachtet, dass irgendwer auf die Idee kam zu fragen, und es bedurfte einer Neuentdeckung mit historischer Differenz, um dieses späte Outing zu provozieren. Der Film selbst kam einst vielleicht einfach entweder zwei, drei Jahre zu spät – oder aber er war zwei, drei Jahrzehnte seiner Zeit voraus. Die Zeit war in den frühen 1970ern reif für Wakefield Poole, Jack Deveau und all die anderen Filmemacher dieser Generation, die nichts mehr verstecken, verheimlichen und kodieren wollten. Die explizite Poetik ihrer Filme musste wohl zunächst durchlebt werden, um die schillernde, symbolüberladene Schönheit eines Filmes wie „Pink Narcissus“ wieder mit ganz freiem Blick lieben zu können. Und das ist, mit all seinen Farbexplosionen, ganz klar ein Film, der nicht nur betrachtet, sondern der geliebt werden will.




Pink Narcissus
von James Bidgood
US 1971, 65 Minuten, FSK 16,
Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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