Kaśka Bryla: Die Eistaucher

Buch

Iga, Jess und Ras sind Außenseiter:innen in ihrer Klasse, doch gemeinsam bilden sie eine verschworene Truppe: die Eistaucher. Als die Jugendlichen eines Nachts einen polizeilichen Übergriff beobachten und die Tat folgenlos bleibt, nehmen sie das Recht in die eigenen Hände. Zwanzig Jahre später taucht ein geheimnisvoller Fremder auf, der von dem damaligen Racheakt zu wissen scheint … Kaśka Bryla („Roter Affe“) geht in ihrem zweiten Roman „Die Eistaucher“ den Ursachen von Radikalisierung nach und verbindet ihre Suche mit einem Plädoyer für Solidarität und Liebe. Gabriel Wolkenfeld über eine queere Geschichte, die sogar einen Gegenentwurf zu klassischen Jugendromanen in sich trägt.

Zu allem bereit

von Gabriel Wolkenfeld

Fiele mir dieses Longboard zu, auf dem Kaśka Brylas kühne Heldin durch die Zeit reist, unternähme ich gern eine Reise ins Jahr 1996, in dem die Handlung einsetzt – und drückte es meinem 16-jährigen Ich in die Hand. Das würde sich freuen und meinen, nie etwas Ähnliches gelesen zu haben.

Es ist mein jüngeres Ich, das hier angesprochen wird, von Themen, die das Wesen des Menschen berühren, Gedanken, die uns in jüngeren Jahren begleiten – weniger im mittleren oder fortgeschrittenen Alter, wenn wir bereits müde sind ob der Schrecken und Grausamkeiten, die wir in unserem Leben aus Nähe und Ferne gesehen haben. Bryla geht in ihrem zweiten Roman der Frage nach, wie ein Mensch in einer Welt voller Lügen und Betrug bestehen soll. Was es bedeutet, normal zu sein. Oder anders. Allein zu sein – und Teil einer Gruppe. Ob sich das Geschehene korrigieren lässt, etwa ein Fehler, den man begangen hat. Ob man, wenn man etwas wirklich Schlimmes getan hat, aufhört, Mensch zu sein oder ob es, im Gegenteil, zum Menschsein dazugehört, gegen den Nächsten oder den Fernsten zu handeln. Dostojevski lässt grüßen: Gibt es ein Vergehen, das so schwer wiegt, dass es den Mord am Täter rechtfertigt? Und Schuld – verblasst Schuld, die man auf sich geladen hat, mit den Jahren oder trägt man sie bis zum Lebensende als zweite Haut oder kratzigen Pullover?

Kaśka Bryla – Foto: Carolin Krahl

Erzählt wird die Geschichte auf zwei Ebenen: Die leicht widerspenstige Iga wechselt zum dritten Mal in Folge die Schule. Die neuen Lehrer sind überfordert. Denn Iga ist ein Wildfang, frühreif, vorlaut, unangepasst. Sie fürchtet sich vor nichts. Und zu allem Überfluss löst sie ihre Schulaufgaben, ohne sich auch nur im Geringsten anzustrengen. Ebenfalls neu ist Ras. Wie Iga hat auch er einen Migrationshintergrund, allerdings stinkt er in Sachen Coolness gewaltig gegen Iga ab. Introvertiert ist er, leicht phlegmatisch, nicht gerade attraktiv, im besten Fall Nerd oder bemitleidenswerter Loser. Dann ist da noch Jess, das sympathische Plappermaul, die Schönste des Jahrgangs, die im neuen Schuljahr intensiv damit beschäftigt ist, ihrer Sommerliebe nachzutrauern, einem Mädchen von der französischen Atlantikküste. Diese drei bilden den Kern einer Gruppe, die sich „Die Eistaucher“ nennt. Sie tauchen nicht unter Eis. Genau genommen kommen sie nicht einmal mit Wasser in Berührung. Zwei schreiben Gedichte. Einer schmilzt dahin, wenn sein Schwarm Rilke oder Bachmann rezitiert. Was die anderen in der Gruppe suchen, ist nicht ganz klar. Iga, als letzte aufgenommen und doch heimliche Anführerin, belächelt denn auch diese Gruppenbildung anfänglich, bis sie akzeptiert: Sie sind die Auserwählten.

Lange passiert nicht viel. Iga verliebt sich in ihre Lehrerin und schwänzt oft die Schule. Die Seiten blättern sich trotzdem fast von alleine um. Leichtfüßig kommt dieser in schlichter, ungekünstelter Sprache gehaltene Jugendroman daher. Wäre da nicht die zweite Handlungsebene, ließe sich das Buch als ein klassischer Schulroman beschreiben, mit all den Zutaten, die es dafür braucht – ein paar Jugendliche, darunter natürlich auch Außenseiter, die sich zu einer Gruppe zusammenfinden, das erste Verliebtsein, eine Liebe, die nicht sein darf, ein Ereignis, das alles verändert. Kapitelweise zwischengeschaltet ist Sašas Monolog: Rückblickend beleuchtet er die Umstände einer Tat, die sich auf der ersten Handlungsebene noch nicht ereignet hat. Ein dunkler Schatten schwebt über den sonst eher wenig ereignisreichen Teenagertagen.

Es sind Momente der Unschärfe, die den Reiz des Buches ausmachen. Natürlich möchte man wissen: Was ist da vorgefallen? Was führt dazu, dass sich eine Gruppe ganz normaler Teenager radikalisiert und ein Verbrechen – wahrscheinlich das schlimmste Verbrechen überhaupt – begeht? Leider lässt die Autorin ihre Leser:innen zu lange im Dunkeln tappen. Figuren etwa lassen sich nicht einordnen, weil sie erst viel später in der erzählten Geschichte auftauchen. Dieses Verwirrspiel kann unbefriedigt zurücklassen. Vielleicht zu Recht will der Verlag seinen Leser:innen so viel Desorientierung nicht zumuten und nimmt im Klappentext vorweg, was der Text erst gegen Ende enthüllt. Auch Igas Freund Saša, der die Geschichte im Abstand von zwanzig Jahren erzählt, bleibt merkwürdig farblos. Ereignisse und Details des Geschehens hingegen werden mehrfach wiederholt, so dass man selbst das Gefühl bekommt, sich beim Lesen in einer Zeitschleife zu bewegen – ein interessanter Effekt, der jedoch schnell auf den Wecker geht. Wiederum andere, durchaus vielversprechende Ideen werden nicht ausgestaltet, sondern eher nebenbei erwähnt. Der Einfall, auf einem Longboard durch die Zeit zu reisen, verkommt zu einem hübschen Gimmick und ist im Hinblick auf die Geschichte eher irrelevant.

Während der seichtere, leicht zu konsumierende Part ganz von seinen drei Protagonist:innen lebt, sind es im zweiten Handlungsstrang vor allem Bilder der Apokalypse, die berühren. Dass der Text die Fragen, die er aufwirft, nicht selbst beantwortet, ist der fehlenden psychologischen Tiefe der Figuren geschuldet. Die Entscheidung der Jugendlichen, auf ein von Staatsbeamten begangenes Verbrechen mit Selbstjustiz zu reagieren, wirkt überzogen. Problematisch auch, dass ausgespart wird, was die von der Gruppe verübte Tat mit den Jugendlichen selbst macht: Wie beurteilen sie selbst ihr kriminelles Handeln? Als unglücklich erweist sich die Entscheidung, keine der handelnden Figuren zu Wort kommen zu lassen, sondern den Freund sprechen zu lassen, der außerhalb der Kerngruppe steht. Erzähltechnisch hätte sich dies als spannender Schachzug erweisen können, doch bleiben die Nebenfiguren zu schablonenhaft, als dass man sich für sie interessieren könnte. Zu oft wird behauptet, anstatt zu zeigen: Die Lehrerin etwa, in welche sich Iga verliebt, wird als unwiderstehlich beschrieben. Schülerinnen und Schüler verfallen ihr reihenweise. Was aber hat sie, das andere nicht haben? Warum muss sich der schöne Sebastian 200 Seiten lang mit einem einzigen Adjektiv begnügen, bevor er seinen Mund auftun darf und seinem Schwarm Rilke-Rainer seine Liebe gestehen darf?

Während sich mein älteres Ich an den aufgezeigten Unstimmigkeiten stört, blickt mein jüngeres Ich gern auf eine Lektüre zurück, die Mut zum Experiment beweist, nicht auserzählt, was angedeutet wird, nicht auflöst und nicht ausleuchtet und gerade dadurch Raum für eine eigene Geschichte lässt, die, verfeinert mit einer ordentlichen Portion Queerness, möglicherweise sogar als Gegenentwurf zu klassischen Jugendromanen taugt.




Die Eistaucher
von Káska Bryla
Gebunden, 320 Seiten, € 24,00
Residenz Verlag

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