Im Kino

Orlando, meine politische Biografie

Orlando, meine politische Biografie

In ihrem Roman „Orlando“ (1928) erzählte Virginia Woolf die Geschichte eines jungen Mannes, der am Ende eine Frau ist. Knapp 100 Jahre später schreibt Philosoph und trans Aktivist Paul B. Preciado einen filmischen Brief an Woolf und ruft ihr zu: Deine Figur ist wahr geworden, die Welt ist heute voller Orlandos! In „Orlando, meine politische Biografie“ zeichnet Preciado seine eigene Verwandlung nach und lässt 25 andere trans und nicht-binäre Menschen im Alter zwischen 8 und 70 Jahren zu Wort kommen. Für seinen Film wurde Preciado schon auf der Berlinale gefeiert und u.a. mit dem Teddy für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Jetzt ist „Orlando“ auch im Kino zu sehen. Philipp Stadelmaier über einen Safe-Space-Film, der Woolfs Text mit den Waffen der Theorie und den Geschichten seiner Protagonst:innen überschreibt und so aus der Fiktion herauslöst.
Blue Jean

Blue Jean

Im September in der Queerfilmnacht: Georgia Oakleys preisgekröntes Regiedebüt über eine junge Sportlehrerin im England der späten 1980er Jahre. Margaret Thatcher hat mit ihrer konservativen Mehrheit im Parlament gerade Section 28 verabschiedet – ein homophobes Gesetz, das „die Förderung von Homosexualität“ verbietet. Deswegen darf in der Schule niemand wissen, dass Jean lesbisch ist, andernfalls könnte sie ihren Job verlieren. Doch als sie in einer Lesben-Bar einer ihrer Schülerinnen begegnet, muss sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Packend und vielschichtig erzählt „Blue Jean“ von einer zutiefst repressiven Zeit in Groß­britannien, in der die Leben von zahllosen Lesben und Schwulen durch politische Entscheidungen maßgeblich eingeschränkt oder gar zerstört wurden. Zugleich zeugt der Film aber auch von der widerständigen Kraft einer queeren Gemeinschaft, die sich in Opposition gegen die Eiserne Lady erst richtig formierte. Merle Gronewald über ein bewegendes Figuren- und Zeitporträt.
Passages

Passages

Filmemacher Tomas (Franz Rogowski) und Grafikdesigner Martin (Ben Whishaw) leben in Paris und sind seit Jahren glücklich verheiratet. Bei der Abschlussparty zu den Dreharbeiten seines neuen Films lernt Tomas die junge Grundschullehrerin Agathe (Adèle Exarchopoulos) kennen, mit der er sich ohne Rücksicht auf seinen Mann in eine wilde Affäre stürzt. Ira Sachs („The Delta“, „Keep the Lights On“, „Little Men“) entwirft in seinem neuen Film mit der Schauspielkunst gleich dreier Stars des europäischen Arthouse-Kinos ein scharfkantiges Liebesdreieck, an dessen Spitze ein narzisstischer Regisseur steht, der nicht nur von weitem an Rainer Werner Fassbinder erinnert. Andreas Köhnemann über ein Drama, dessen ungemeine Intimität sich ganz unmittelbar über die Körperlichkeit seiner Figuren, ihrer Bewegungen und Gesten vermittelt.
Nachtkatzen

Nachtkatzen

Da will man nur mal einen erotisch angehauchten Autorenfilm in der französischen Provinz drehen, und dann das: Die Darsteller:innen verlieren sich im Wald und werden zu Zombies. Der Regisseur verschwindet auf mysteriöse Weise und wird als einbalsamierte Leiche gefunden. Ein Inspektor soll Licht ins Dunkel bringen und interessiert sich vor allem für die sexuellen Vorlieben der Befragten. Valentin Merz’ polymorph-perverse Komödie über das Filmemachen war vergangenes Jahr eine der queeren Entdeckungen in Locarno – und ist jetzt im Kino zu sehen. Philipp Stadelmaier folgt den Spuren des toten Autors in einem vielsprachigen, höchst referentiellen und metareflexiven Filmreich zwischen Horror und Erotik, und kann einfach keinen Fluchtpunkt finden.
Bis ans Ende der Nacht

Bis ans Ende der Nacht

Um das Vertrauen eines Großdealers zu gewinnen, soll sich der verdeckte Ermittler Robert als Partner von trans Frau Leni ins Milieu einschleusen lassen. Eine komplizierte Angelegenheit, denn er und Leni waren früher wirklich mal ein Paar. Für Robert verschiebt sich im Laufe des Einsatzes die Linie zwischen Spiel und echten Gefühlen immer mehr; für Leni hängt von der Mission ab, ob sie wieder zurück ins Gefängnis muss. Christoph Hochhäuslers neuer Großstadt-Thriller „Bis ans Ende der Nacht“ feierte Weltpremiere im Wettbewerb der Berlinale, Leni-Darstellerin Thea Ehre wurde mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Doch für Philipp Stadelmaier klafft in der sehr offensichtlichen und visuell exzellenten Fassbinder-Hommage zwischen Genreerzählung und Beziehungsgeschichte eine Lücke.
Der Gymnasiast

Der Gymnasiast

Jetzt als DVD und VoD: In seinem neuen und bisher wohl persönlichsten Film erzählt Christophe Honoré („Chanson der Liebe“, „Sorry Angel“), vom schmerzhaften Erwachsenwerden eines Teenagers. Lucas ist 17 und kann es kaum abwarten, endlich das Internat und die Provinz hinter sich zu lassen, um nach Paris zu ziehen, wo sein großer Bruder Quentin lebt. Auch sein erster Freund Oscar wird ihn nicht davon abhalten. Doch ein tragischer Unfall reißt Lucas‘ hoffnungsvollen Blick auf die Welt in Stücke. Weil selbst seine Mutter ihn nicht trösten kann, macht er sich auf nach Paris, wo er eine Woche bei Quentin und dessen Mitbewohner Lilio wohnen wird. Neben den Kinostars Vincent Lacoste und Juliette Binoche glänzt Newcomer Paul Kircher als Lucas, der erst nach und nach eine Sprache für seine Wut findet und die große Stadt, die Liebe und das Leben instinktiv erkundet. Philipp Stadelmaier über einen hochgradig selbstreflexiven Film und Honorés romantisches Kino des unbedingten Wollens.
All the Beauty and the Bloodshed

All the Beauty and the Bloodshed

Nan Goldin gilt als eine der wichtigsten Fotograf:innen der letzten 50 Jahre. Ihre „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ (1986) mit Bildern aus ihrem sozialen Umfeld ist ein Schlüsselwerk der Fotokunst des 20. Jahrhunderts. „Citizenfour“-Regisseurin Laura Poitras porträtiert Goldin in ihrem neuen Film als Chronistin queeren Lebens seit den 1970ern und als politische Kämpferin, die ihren Status in den letzten Jahren vor allem gegen das problematische Treiben eines US-Pharmakonzerns eingesetzt hat. Im Herbst wurde „All the Beauty and the Bloodshed“ in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, jetzt ist er in den deutschen Kino zu sehen. Cosima Lutz über einen Film, der Aktivismus als natürliche Fortsetzung eines künstlerischen Ausbruchs aus der normativen Hölle versteht.
Das Blau des Kaftans

Das Blau des Kaftans

Halim und Mina betreiben eine traditionelle Schneiderei in der Medina von Salé, einer der usrprünglichsten in Marokko. Um den Anforderungen der anspruchsvollen Kundschaft gerecht zu werden, heuern sie einen talentierten jungen Mann namens Youssef als Lehrling an. Mit der Zeit jedoch bemerkt Mina, wie sehr die Anwesenheit Youssefs ihren Mann berührt und er sich zu ihm hingezogen fühlt. „Das Blau des Kaftans“ von Maryam Touzani gewann letztes Jahr in Cannes den FIPRESCI-Preis in der Reihe „Un Certain Regard“ und ist jetzt in den deutschen Kinos zu sehen. Matthias Frings über ein Liebesdrama voll puren Sinnlichkeit.
Tár

Tár

Cate Blanchett spielt die begnatete amerikanische Dirigentin und Komponistin Lydia Tár, die als erste Frau ein großes deutsches Orchester leitet. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bereitet die offen lesbische Musikerin die mit Spannung erwartete Einspielung von Gustav Mahlers 5. Sinfonie vor. Doch als sie mit dem Freitod eines ehemaligen Protegés in Verbindung gebracht wird, gerät ihre streng durchgetaktete Welt ins Wanken. Für ihre formidable Darstellung einer hochkomplexen Frauenfigur wird Cate Blanchett aller Wahrscheinlichkeit nach am Montag ihren dritten Oscar entgegennehmen. Barbara Schweizerhof über die vielen Schichten eines meisterhaften Dramas zwischen feministischem Porträt und abgründigem Geisterfilm.
Girls Girls Girls

Girls Girls Girls

Rönkkö will endlich richtigen Sex haben. Mimmi ist da prinzipiell schon einen Schritt weiter, aber ansonsten ziemlich wütend. Zusammen arbeiten die Freundinnen in einem Smoothie-Laden. Als eines Tages die ehrgeizige Eiskunstläuferin Emma einen Drink bestellt, bröckelt Mimmis Toughness, und eine Party später lässt sie sich von Emma schon den dreifachen Lutz zeigen. Die finnische Regisseurin Alli Haapasalo erzählt in „Girls Girls Girls“ authentisch und mitreißend vom Jungsein und dem Gefühl, dass man einem anderen Menschen so nah sein will, dass es nicht reicht, nur seine Haut zu berühren. Anne Küper über einen Film, der weiß, wie Flirten und gute Smoothies gehen.