Nachtkatzen

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Da will man nur mal einen erotisch angehauchten Autorenfilm in der französischen Provinz drehen, und dann das: Die Darsteller:innen verlieren sich im Wald und werden zu Zombies. Der Regisseur verschwindet auf mysteriöse Weise und wird als einbalsamierte Leiche gefunden. Ein Inspektor soll Licht ins Dunkel bringen und interessiert sich vor allem für die sexuellen Vorlieben der Befragten. Valentin Merz’ polymorph-perverse Komödie über das Filmemachen war vergangenes Jahr eine der queeren Entdeckungen in Locarno – und ist jetzt im Kino zu sehen. Philipp Stadelmaier folgt den Spuren des toten Autors in einem vielsprachigen, höchst referentiellen und metareflexiven Filmreich zwischen Horror und Erotik, und kann einfach keinen Fluchtpunkt finden.

Foto: GMfilms

Schleiertänze im Nebeldunst

von Philipp Stadelmaier

„Nachtkatzen“ ist ein äußerst seltsamer Titel für einen äußerst seltsamen Film. Der Titel könnte auch „Naschkatzen“ lauten, oder „Nebelkerzen“, ohne dass sich damit etwas für den Film – oder den Titel – ändern würde. Nebelkerze wäre insofern interessant, weil der Begriff einen Vorgang der Verschleierung oder Ablenkung bezeichnet, eine Nebelwand, die etwas verbirgt, in die Irre führen soll. Hinter den zahlreichen Nebelkerzen, die Valentin Merz in seinem Film aufstellt, huschen also die Katzen durch die Nacht, in denen man die Mitglieder der Filmcrew erkennen kann, die einen Film im Film drehen. Ohne, dass die Trennung zwischen dem Film von Valentin Merz, der letztes Jahr beim Filmfestival in Locarno seine Premiere hatte, und jenem von Valentin Tanören, dem Regisseur im Film, der von Merz selbst gespielt wird, immer ganz klar wird. Ein weiteres Verschleierungsmanöver.

Fragt sich, für was: der Sinn der Verschleierung wird nicht klar, und es bleibt offen, ob dies eine Qualität des Films ist oder eher seine Schwäche. Fragt sich auch, ob es sich überhaupt um eine Verschleierung handelt, oder nicht doch um etwas anderes, praktischeres, demokratischeres. Um eine Herstellung von flachen Hierarchien beim queeren Filmemachen zum Beispiel, die Merz hier auf allen Ebenen durchexerziert. Wie der Regisseur spielen die Mitglieder des Teams (von Merz und von Tanören) sich selbst, tauchen sie auf vor und hinter der Kamera. Was hier allerdings nicht zu einem Werkstattfilm führt, bei dem die Fabrikation der Fiktion wichtiger wird als die Fiktion selbst, wie in einigen Filmen Godard, Rivette, Duras oder Wenders; oder wie, um aktuellere Beispiele zu nennen, in „The Tsugua Diaries“ (2021) von Miguel Gomes oder „The Kegelstatt Trio“ (2022) von Rita Azevedo Gomes.

Eher verselbständigt sich dieses queere, größtenteils in Wäldern und Wiesen spielende Filmexperiment, um zu einer größeren, wilderen Fiktion zu mutieren, zu einem wahrhaft fiktionalen Wildwuchs, der keine Form mehr erkennen lässt oder jede hinter sich lässt, und dabei über die handwerkliche Ebene und deren Reflexion hinausgeht. Auch in den Filmen von João Pedro Rodrigues lässt sich die Form von den Metamorphosen der Körper und Figuren anstecken, ohne dass Merz auch nur im Entferntesten zu der – tragischen, spannungsreichen, unruhigen, schmerzhaften – poetischen Kohärenz findet, welche das Kino des portugiesischen Meisters auszeichnet.

Aber was heißt schon „Meister“! Der Tod des Autoren steht im Zentrum von Merz’ kollektiver Arbeit, denn genau darum geht es: Regisseur Valentin (Tanören) wird unter mysteriösen Umständen ermordet, oder ist auf einmal tot, und das Team bleibt übrig, eine Gruppe von Schauspieler:innen und Filmemacher:innen, von Personen also, die weniger „auf der Suche nach einem Autor“ sind, wie in dem Stück von Pirandello, als auf der Suche nach seiner Leiche (nur ein toter Autor ist ein guter Autor), deren Asche nach ihrer hochgradig illegalen Verbrennung in alle Winde verstreut wird. Wie der Film selbst, der irgendwo in Frankreich oder der Schweiz beginnt, um am Ende bis nach Mexiko zu reisen…

Foto: GMfilms

„Film“, „Kino“, „Autor:innen“: all diese Begriffe ziehen bei Merz nicht mehr. „Images by Robin Mognetti“ steht im Abspann, als hätten wir weniger einen Film als ein spielerisches Fotoshooting gesehen. Aktionskunst, Happening, Body-Art: alle Begriffe scheinen hier eher zuzutreffen als jene, die mit dem alten Bewegtbild in Zusammenhang stehen. Es handelt sich „nur“ um einen Film, wird am Ende in einem Kinosaal festgestellt (für den Film im Film ebenso wie für jenen von Merz), womit die von ihrem filmischen Zauber entkleidete Wirklichkeitsillusion einer körperlichen, diversen Wirklichkeit Platz machen soll (von der man sich jedoch fragen kann, ob sie dann nicht auch nur eine Illusion ist).

Das Rollen und Balgen der Figuren auf einer Wiese, das Spielen mit den Gesichtern der anderen oder mit Kaninchen: all das steht nicht im Dienst einer queeren „Empowerment“-Erzählung, also einer „Handlung“ des Films im Film (von dem wir nur erfahren, dass er ein „Gegenwartsfilm“ sein soll), sondern eines queeren Performance-Theaters (man denkt an Paul B. Preciados „Orlando“, der bald in die deutschen Kinos kommt), dessen Agenda auf die demonstrative Entfaltung von vielfältigen Personen, sexuellen Orientierungen, Berufen und Berufungen abzielt (von der „adult performer and sometimes actress“ zum Fußfetischisten und Call-Boy). Es handelt sich auch um eine Entfaltung von Sprachen, die in diesem polyglotten Team vom (Schweizer-)Deutschen übers Französische und Englische bis zum Spanischen reichen. So wird die Szene, in der die Crew im nächtlichen Wald nach dem bereits verschollenen Valentin sucht, zum Resonanzraum, in dem verschiedene Idiome, Aussprachen, Betonungen zu hören sind, die verschiedenen nationalen oder geschlechtlichen Identitäten zugeordnet werden können oder auch nicht; Idiome, welche die Stelle des (einen, autoritären) ausgelöschten Autoren, Entscheiders und Sprechers im Zentrum ersetzen und überschreiben.

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Ein bewusst amateurhaftes, „unprofessionelles“ Spiel koppelt sich mit musikclipartigen Szenen, symbolischen Einlagen und Mini-Performances, die so uneinheitlich wie unverständlich sind, ohne sich (im Guten wie im Schlechten) in irgendetwas „einzufügen“, sich irgendetwas oder jemandem zu „unterwerfen“. Es gibt Annäherungen zwischen zwei Männern im Wald, das Ausgießen von Milchkrügen, Sex mit einem Akkordeon. Im Wald begegnet eine Figur einem Waldgeist (à la Weeasethakul), die Nacht wird erhellt von einem rot-blauen Licht (à la Bertrand Mandico). Eine nackte Nonne erinnert an Nunsploitation-Filme, die Vampire auf der Wiese an Vampir-Filme. Und klar kann man in Valentin einen Ableger von Jeff sehen, dem von Lou Castell gespielten Regisseur aus Fassbinders „Warnungen vor einer heiligen Hure“ (1971), in dem Fassbinder seine eigenen Dreharbeiten verarbeitet hat. Aber dieser Aneinanderreihung von Referenzen und Ideen fehlt ein Ziel, ein Fluchtpunkt, und sei er so imaginär und paranoid wie jener in Albert Serras „Pacifiction“, in dem ein suspendierter, aber hartnäckiger, allem übergeordneter Verdacht ein Ganzes davor bewahrt, sich aufzulösen.

Gerade diese Auflösung wird von Merz jedoch zelebriert, gerade in Anbetracht der – ihrerseits verhältnismäßig queeren – Polizei, die kommt, um das Verbrechen aufzuklären, und sich dabei zumindest ansatzweise als jene Ordnungsmacht geriert, die eine narrative Organisation der Ereignisse einfordert, eine Logik, einen Sinn. Ohne dabei auch nur im mindesten Erfolg zu haben. Das Interesse des Kommissars verlagert sich schnell auf die einzige Quelle, die als halbwegs verlässlich gelten kann: auf die Träume einer der Figuren.

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Die unorganisierte Vielfalt löst letztlich eine binäre filmische („Genre“-)Ordnung auf, die durch zwei Pole gegeben ist: den Horror und die Erotik. Am Ende befindet sich eine der Personen (gegenüber einem Polizisten) vor dem Kino zwischen zwei Filmplakaten. Das eine ist Werbung für einen „Lady Chatterlay“-Film des Edelsoftporn-Machers Just Jaeckin, das andere für einen Horrorfilm aus der Schmiede des Exploitation-Produzenten Anthony Nelson Keys. Was auf den ersten Blick wie eine Signatur des Autoren wirkt, der seine cinephilen Referenzen in den Film einträgt, weist eher darauf hin, was zwischen diesen beiden Referenzen und Plakaten liegt: auf den singulären Körper einer Person, und damit auf eine Zone, die der Kontrolle des Filmemachers (und seinem Geschmack) entweicht. Zwischen Bodyhorror und Bodyerotik, dem Zergliedern von Körpern oder ihrer symbiotisch-sexuellen Zusammenführung, liegt das merkwürdige Reich dieser Nachtkatzen, Naschkatzen und Nebelkerzen. Ein Kollektiv? Ja. Aber eines, in dem jede:r für sich allein unterwegs ist, ohne Ziel, ohne Schicksal, gesegnet mit der Möglichkeit, sich ausagieren zu können. Für sich alleine, für das eigene Begehren, den eigenen Schrecken.




Nachtkatzen
von Valentin Merz
CH 2022, 110 Minuten, FSK 16,
deutsch-englisch-französisch-kastilisch-
schweizerdeutsche OF, teilweise mit deutschen UT

Ab 3. August im Kino.