Luise

TrailerKino

Oktober 1918 im Elsass. Luise lebt alleine auf einem kleinen Bauernhof nahe der französischen Grenze. Eines Morgens steht Hélène in ihrer Küche, eine junge Französin auf der Flucht vor einem deutschen Soldaten. Kurz darauf erscheint auch Hélènes verletzter Verfolger Hermann. Luise gewährt beiden Unterschlupf, doch während sich die Frauen bald immer näher kommen, wird der Soldat zunehmend gereizter. Inspiriert von D.H. Lawrences Novelle „Der Fuchs“ bringt Regisseur Matthias Luthardt in „Luise“ drei Menschen in einer moralischen Grenzsituation zusammen. Cosima Lutz über ein präzise inszeniertes und nuanciert gespieltes Kammerspiel über zwei Eindringlinge und eine junge Frau, die sexuell und emotional erwacht.

Bild: Salzgeber

Ich will …

von Cosima Lutz

Was Körper tun und wie mit ihnen umzugehen ist, das weiß die junge Bäuerin Luise: Sie nähren und sie arbeiten, und man muss sie pflegen. Wie die einzige Kuh, die Luise besitzt. Von Gott gegeben ist der Leib, rein halten muss man ihn, bis in den Tod. Wie den Leichnam der Mutter, der ordentlich zurechtgemacht auf dem Bett liegt, von oben gefilmt, von dort, woher in diesem engen Bauernstübchen alles Gute kommt und wohin alles Gute geht. Bald wird Luise sie begraben, am Waldrand, neben dem Vater.

Dass es auch andere Richtungen gibt als das Oben und das Unten, zum Beispiel das Hinaus zum Horizont, und dass ein Körper auch genießen und begehren kann, das alles scheint keine Option zu sein in diesem abgeschiedenen Gehöft im Elsass des Jahres 1918. Wenn Luise in ihren schweren Holzpantoffeln und mit tadellosem Haarknoten die Hühner versorgt und den selbst gemachten Käse mit Salz einreibt, wenn sie das Wasser schöpft und das Brot schneidet, liegt der Ernst des Notwendigen auf ihrem Gesicht. Konzentration und Würde prägen jede ihrer Bewegungen.

In diese Einsiedelei lässt der Regisseur Matthias Luthardt gleich zu Beginn drei Fremde eindringen. Das passiert so unvermittelt, dass es bei aller Bedrohlichkeit fast schon Situationskomik entfaltet, wie in einem düsteren Schwank. Da steht also auf einmal eine junge Französin in der Speisekammer, offenbar wird sie verfolgt. Luise, kurz um Fassung ringend, schickt sie wieder hinaus, doch den Weg zur Tür versperrt ein ebenfalls plötzlich aufgetauchter deutscher Soldat. Der richtet sein Gewehr auf die Französin, der er vorwirft, seinen Kameraden ermordet zu haben. Anstatt nun beide hinauszuwerfen, versorgt Luise die Wunde des Deutschen und nötigt die fremde Frau, ihr dabei zu helfen. Körper müssen versorgt, Wunden müssen geschlossen werden. Draußen ist Krieg.

Drinnen kommen ständig Kruzifixe ins Bild. Eines baumelt an Luises Hals, und immer hängt irgendwo eines an der Wand. Dann klopft auch noch ein Hauptmann an der Tür, er sucht den Deutschen. Er wird ihn nicht finden, denn die beiden Frauen haben den Ohnmächtigen gut hinter einem Verschlag versteckt. Es bleibt kaum Zeit, einander vorzustellen, so schnell sind Luise, Hélène und Hermann schon in den ersten Minuten eine bizarre Schicksalsgemeinschaft eingegangen. Nicht auf Sympathie beruht sie. Worauf dann? Auf Nächstenliebe? Instinkt? Hunger? Wonach?

Bild: Salzgeber

Schon in seinem Debüt „Pingpong“ von 2005 inszenierte Luthardt ein Kammerspiel mit Eindringling. In dem Drama um einen jungen Mann, der unangemeldet bei Verwandten auftaucht, ging es auch um die Frage, wo die Grenzen von Haus und Ich verlaufen, und um die unberechenbare Dynamik der jähen Konstellationsverschiebung.

Für „Luise“ ließen sich Luthardt und sein Drehbuchautor Sebastian Bleyl von D. H. Lawrences Novelle „Der Fuchs“ von 1923 inspirieren. Sie verlegten die Handlung von England ins Elsass, damals deutsches Reichsgebiet. Die knorrig düstere Landschaft mit den alles begrenzenden Waldsäumen passt zur Beschränkung dieser auf Frömmigkeit und Pflicht beruhenden Existenz. Lotta Kilians Kamera bewegt sich kaum jemals nach links oder rechts, schwenkt höchstens hinauf oder hinunter. Wenige zwischengeschnittene Stillleben aus der grauen Natur oder dem Inneren des dunklen Hauses bekräftigen das Verharren. Alle Schritte haben maßvoll und geregelt zu sein.

Bild: Salzgeber

Zur Not, und davon macht Luise mehrmals Gebrauch, kann man den Soldaten einfach aufs Zimmer schicken und so stillstellen mit dem Hinweis auf seine erneut blutende Wunde. Der wiederum bohrt absichtlich darin herum, um bleiben zu dürfen. Wie lange wird der Krieg noch dauern? Die Ewigkeit hockt in jeder Zimmerecke, und dazwischen verrinnt spürbar die Lebenszeit dieser zugleich historisch und zeitgenössisch wirkenden jungen Menschen.

Die verschiedenen Sprachzugehörigkeiten der Grenzregion bedeuten ein grundsätzlich schwelendes Risiko: als jemand Falsches oder als Feind erkannt zu werden, sich womöglich selbst verkehrt vorzukommen. Elsässisch, Hochdeutsch und Französisch zu beherrschen, so wie Luise, birgt aber auch die Chance, sich im Dazwischen bewegen und gezielt andere ausschließen zu können. Es entstehen Ambiguitäten der Verständigung: Täuscht Hélène beim Schachspiel mit Hermann nur vor, ihn nicht zu verstehen?

In dieses Möglichkeitsfeld der sprachlichen Maskerade schiebt sich die Polarität von Glauben und Atheismus: Eine fromme Allianz von Hermann und Luise hätte die Kraft, die atheistische Hélène auszuschließen. Die will ohnehin weiter nach Holland, erklärt sie der furcht- und aufmerksam zuhörenden Luise, „um ich selbst sein zu können“. Was das bedeutet, versteht Luise noch nicht.

Bild: Salzgeber

Obwohl Luise anfangs deutlich macht, dass weibliche Solidarität für sie kein Automatismus ist, sondern dass Hélène wie Hermann gleichermaßen Fremde für sie sind, denen sie lediglich geholfen habe, wird Hermann bald der sprachlich Ausgeschlossene, später auch der Ausgesperrte in einer erwachenden Liebe. Dass die beiden Frauen sich körperlich näher kommen, schließlich auch geistig-intellektuell, versucht Hermann zunächst mittels seiner pathetisch ausgestellten, wie angelesen wirkenden Frömmigkeit zu unterbinden. Und schließlich auch mit Gewalt. Seine Anmaßungen steigern sich allmählich: Da spricht er ungefragt das Gebet bei der Beisetzung von Luises Mutter. Da zimmert er ein Holzkreuz für das Grab. Und da erschießt er den von Luise stets verschonten Fuchs, dessen Hühnermord er als Strafe für eine „Krankheit“ interpretiert – die „Krankheit“ der gleichgeschlechtlichen Liebe, eingeschleppt von der „gottlosen Französin“.

Luthardts und Bleyls Drehbuch erzählt von der wachsenden Nähe der Frauen auch mit einem scheinbaren Logikfehler: Dass Luise am Esstisch überrascht und entsetzt ist über Hélènes Bekenntnis, nicht an Gott zu glauben, wirkt selbst unglaubwürdig, weil in der Nacht zuvor Hélène von Misshandlungen berichtet hatte, die ihr eigener Vater ihr „im Namen deines Gottes“ zugefügt hat. Doch dieses Paradox wird durch ein zweites aufgewogen, indem Luise mitten in ihr Entsetzen hinein sagt: „Ich will, dass du bleibst“. Dass da jemand ist, der sagt, was er denkt, erscheint ihr mindestens so unerhört, verstörend und verlockend wie die körperlichen Freuden, die Hélène ihr beschert hat. Mit welcher unausgestellten Prägnanz Luise Aschenbrenner diese Gefühls- und Gedankenturbulenzen in ihr wortkarges Spiel zu übersetzen versteht, erzeugt einen Sog, als versenke man seinen Blick auf das Bild einer Vorfahrin, einer jungen Frau am Ende des Ersten Weltkriegs, fremd und doch auch ein Mensch, der man selbst hätte sein können.

Bild: Salzgeber

Fast komisch wirkt es, als Luise zur empirischen Überprüfung der christlichen Lehre sich zu Sex mit Hermann entschließt. Der ist so grotesk schlecht, dass selbst für eine so glaubensfeste Bäuerin klar ist: Lieber guten Sex mit einer Frau als gottgefälligen schlechten mit einem Mann. Dieser schnelle Paradigmenwechsel weg von der heiligen Schrift der Väter hin zum von der Frau vermittelten „Gefühl“ als Mittel der Erkenntnis mag arg naiv binär wirken. Dass der Film dabei aber nicht unterkomplex gerät, liegt an dem klaren, dabei fein nuancierten Spiel des Ensembles: Leonard Kunz gibt ähnlich wie in „Das schönste Paar“ (2018) von Sven Taddicken den schwer zu durchschauenden Eindringling, dessen ausgestelltem Erwachsensein hier aber etwas gekonnt Lächerliches anhaftet. Kunz trägt genau die eine Spur zu dick auf, die es braucht, um Hermann als schlechten Schauspieler zu markieren und ihm dennoch die Möglichkeit offenzuhalten, vielleicht doch ein braver Mann zu sein.

Die ästhetische Einbindung der eigentlich simplen Geschichte in etwas Höheres gelingt auch durch die Musik: Nur an wenigen Stellen kommen die geisterhaft schimmernden, sich himmelwärts aufschwingenden Kompositionen für Streicher des lettischen Komponisten Pēteris Vasks zum Einsatz, flankiert von erdig vermittelnden Stücken von Matthias Petsche. Als rängen zwei Zeitalter miteinander, oder zwei ewige Antagonisten, das Autoritäre und das Liberale. Die Frage, ob das Heil dort oben zu finden ist oder in der Weite, hinter den Grenzen, oder ob nicht das Kreuz beide Dimensionen schon immer in sich vereint, beantwortet am Ende kein Wort, sondern das Bild.




Luise
von Matthias Luthardt
FR/DE 2022, 95 Minuten,
französisch-deutsche OF, teilweise mit deutschen UT,
Salzgeber

Ab 31. August im Kino.

 


↑ nach oben