Lion Christ: Sauhund

Buch

München 1983. Flori kommt vom Land und sucht in der Stadt von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury das pralle Leben – und einen Mann, der ihn mindestens ewig liebt. Im Labyrinth der Klingelclubs und Klappen muss er aber erst mal seine eigenen Standpunkte finden. Mit seinem Debütroman „Sauhund“ setzt Lion Christ den Liebenden des ersten Aids-Jahrzehnts ein Denkmal. Angelo Algieri über eine literarische Zeitreise, die sich nicht nur wegen ihres unberechenbaren Protagonisten jenseits des Erwartbaren abspielt.

Bairischer Cowboy

von Angelo Algieri

„Raum Bad Tölz-Wolfratshausen: Wehrersatzdienstleistender (21), naturschlank, große Augen (kirschholzbraun), sucht liebevollen Freund bis allerhöchstens Ende 20 für gemeinsame Unternehmungen und eine schöne Zeit zusammen.“

Mit dieser Kontaktanzeige, die Protagonist Flori im März 1983 in der schwulen Zeitschrift ADAM aufgibt, beginnt „Sauhund“, der Debütroman des queeren Autors Lion Christ. Der wurde 1994 in Bad Tölz geboren, studierte an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film und hat unter seinem bürgerlichen Namen Christian Hödl u.a. Drehbücher für zwei Folgen der ZDF-Dramaserie „WatchMe – Sex sells“ geschrieben. Seine schriftstellerischen Fähigkeiten schulte er am Literaturinstitut Leipzig. Erste Texte erschienen in Literaturzeitschriften wie BELLA triste, und in Anthologien wie „Tippgemeinschaft“. 2018 war er Finalist im Berliner Literaturwettbewerb „open mike“ und 2020 belegte er den dritten Platz bei „Wortlaut“, dem renommierten Kurzgeschichtenwettbewerb des österreichischen Senders FM4.

Aber zurück zum Roman: Im Juni 1983 glaubt Ich-Erzähler Flori, der mittlerweile seinen Zivildienst absolviert hat, die große Liebe gefunden zu haben. Er kommt am Johannistag mit dem gleichaltrigen Schreiner Gregor zusammen. Um sich vor Anfeindungen im Dorf zu schützen und weil Gregor ungeoutet ist, leben sie ihre Beziehung nur im Geheimen aus. Ein paar Wochen später merkt Flori, dass ihm der Freund nicht mehr genügt: „Er wird nie selber irgendetwas sein, durchfährt es mich, kein Schauspieler, kein Arzt, nicht mal verbeamteter Erdkundelehrer mit Pensionsansprüchen und es tut mir überall weh, am ganzen Körper, dass ich solche gemeinen Sachen über meinen eigenen Freund denke. Der ist und bleibt der Gregor Förg Junior, nichts weiter. Ist das genug für mich?“

Eines Morgens packt Flori seine Sachen und verschwindet aus seinem fiktiven Heimatort Sonnkirchen, ohne Eltern und Gregor Bescheid zu geben. Er fährt nach München und wohnt bei seiner Freundin Resl. Sie gehen gemeinsam in den queeren Klenzehof aus, wo Flori „Brusthaartyp“ Kenny kennenlernt. Die Beiden kommen für ein paar Wochen zusammen: Flori kommt sich toll vor, da er sich mit dem Philosophiestudenten über Kunst und Kultur austauschen kann. Doch als Kenny im Henderson (das Freddie Mercury im Musikvideo von „Living on My Own“ verewigte, das dort an seinem 39. Geburtstag gedreht wurde) heiß mit einem anderen tanzt, haut Flori enttäuscht ab. In den folgenden Tagen ersäuft er seinen Kummer im Alkohol. Währenddessen setzt ihn Resl unter Druck, Geld zu verdienen. Sie organisiert sogar einen Bewerbungstermin für ihn, den er verschwitzt. Die Folge: Resl sperrt ihn aus. Ausgerechnet jetzt, wo in München der Herbst eingezogen ist.

Lion Christ – Bild: Peter-Andreas Hassiepen

Nun fristet Flori sein Dasein als Obdachloser. Er säuft weiter und prostituiert sich, wird depressiv. Als er seinem Leben ein Ende setzen möchte, gabelt ihn Travestiekünstler Miguel auf. Er lässt Flori in seine Wohnung einziehen, die er zusammen mit seinem Partner Armin bewohnt. Flori fühlt sich bei dem Paar gut aufgehoben, nicht mehr verloren und leer.

Im Januar 1986 findet er eine eigene Bleibe und arbeitet in der Travestiebar Die Spinne als Aushilfe am Tresen. Er hofft allerdings, es bald mit einer eigenen Travestieshow auf die Bühne zu schaffen. Sein Leben scheint „ruhiger“ zu laufen. Er lädt sogar seine Mutter ein. Weil sie sich seit zweieinhalb Jahren nicht gesehen haben, macht sie ihm Vorwürfe, ist aber letztlich nachsichtig. Alles gut also? Nicht ganz: Flori lernt Jakob kennen, der bereits von Aids gezeichnet ist. Sie kommen zusammen. Doch wie lange hält Flori es diesmal aus?

Lion Christ gelingt es, in seinem Roman das schwule München der 1980er Jahre meisterlich einzufangen. Man merkt, dass er viel recherchiert hat – wie die Danksagung verrät, hat er u.a. den bekannten Münchner Travestiekünstler Peter Ambacher aka Miss Piggy befragt. Der Autor erzählt das Jahrzehnt aber nicht nur über die damaligen Kneipen und Klappen, sondern auch über die Popkultur, etwa über Fernsehserien wie „Denver Clan“ und „Kir Royal“, die Hits der Zeit (Songs von Jennifer Rush über Nicole bis Palais Schaumburg) oder Magazine wie ADAM und München von hinten. Eine weitere Besonderheit: Der Protagonist spricht teils auf Bairisch – damit tritt Christ in die Fußstapfen des schwulen Münchner Autors Gustl Angstmann (1947-1998), der die queeren 1970er und 80er Jahre in der Isarmetropole ebenfalls in Mundart porträtierte.

Doch das Hauptthema, das den ganzen Roman durchzieht, ist HIV/Aids. Christ erinnert uns daran, dass die ersten Meldungen über das HI-Virus zu Beginn der 1980er Jahre von vielen Schwulen als Panikmache abgestempelt wurden, auch aus der Angst heraus, dass die libertären Errungenschaften der Schwulenbewegung aus den 1970er Jahren rückgängig gemacht werden könnten. Weiterhin macht er deutlich, wie HIV-Positive und Aids-Kranke von Community und Gesellschaft diskriminiert wurden. Besonders schlimm war es in Bayern, als Peter Gauweiler (CSU) – im Gegensatz zur damaligen Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth – mit Angstmache und Hetze gegen HIV-Positive und Aids-Kranke vorging, Zwangstests und Absonderungen forderte sowie Lokale wie die oben erwähnte Spinne schließen ließ. Viele Schwule wanderten damals aus München ab. Indem Christ uns an diese Vorgänge erinnert, macht er deutlich, dass wir uns auch heute nicht leichtfertig auf queeren Errungenschaften ausruhen dürfen.

Fazit: Christ ist ein beachtliches Debüt über einen ambivalenten Protagonisten im München der 1980er Jahre gelungen, das weit über die üblichen Verdächtigen Freddie Mercury und Deutsche Eiche hinauserzählt. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er das schwule München in den Mittelpunkt genommen hat, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten kaum im Fokus der Belletristik lag. Zudem thematisiert er eine queere Community, die solidarischer war als die von heute. Und nicht zuletzt hat er einen Realschulabgänger als Hauptfigur gewählt, was viel zu selten in der queeren Literatur vorkommt. Um es also wie Flori zu sagen: Zefix, lests des Buch!




Sauhund
von Lion Christ
368 Seiten, € 24,
Carl Hanser Verlag

 

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