All of Us Strangers

TrailerKino

Drehbuchautor Adam lebt in einem fast leeren Hochhaus am Rande von London. Eines Nachts steht sein mysteriöser Nachbar Harry vor der Tür, flirtet mit ihm und bittet um Einlass. In den nächsten Tagen und Wochen entwickelt sich zwischen den beiden eine Beziehung von höchster Intimität. Währenddessen schreibt Adam an seinem neuen Drehbuch, das ihn zum Ort seiner Kindheit führt. In dem alten Haus der Familie trifft er auf seine Eltern, die noch immer genauso alt sind wie an dem Tag, an dem sie 30 Jahre zuvor tödlich verunglückten. Wie kaum ein anderer Regisseur kann der Brite Andrew Haigh („Weekend“, „Looking“) schwule Erfahrungen und Gefühle in die Sprache des Kinos übersetzen. „All of Us Strangers“ mit dem Leinwandtraumpaar Andrew Scott und Paul Mescal ist sein bisher schönstes und tiefgreifendstes Werk – und einer der berührendsten Filme der letzten Jahre. Andreas Köhnemann über eine bittersüße Kinoerfahrung.

Foto: Searchlight Pictures

The Power of Love

von Andreas Köhnemann

Das Kino kann ein Ort der Wunscherfüllung sein, wo das Unmögliche möglich wird. Dies kann wiederum rasch zum Kitsch führen – zu süßen Lügen, die kurzzeitig satt und glücklich machen, auf lange Sicht aber eher frustrieren. Wer ist schon dauerhaft bereit, an ein formelhaftes Happy End zu glauben, das sämtliche Konflikte auf magische Weise verschwinden lässt? Wenn Wünsche und Träume auf der Leinwand in allzu trivialer Form erfüllt werden, entsteht letztlich nichts wahrhaft Schönes, sondern lediglich ein billiges Trugbild.

Dem Briten Andrew Haigh gelingt es in seinen Filmen indes, das Süße so zwingend mit dem Bitteren zu vermengen, dass die Wirklichkeit seiner Figuren immer etwas Traumhaftes und die in Erfüllung gehenden Träume stets etwas sehr Wirkliches an sich haben. Zum Beispiel in „Weekend“ (2011): Einem interessanten Typ in einem Club begegnen, mit dem man spannende Gespräche führen und auch noch guten Sex haben kann? Wie großartig! Aber eventuell führen diesen Mann dann gerade jetzt berufliche Pläne ins ferne Ausland, sodass nur ein einziges gemeinsames Wochenende bleibt. Oder in „45 Years“ (2015): Viereinhalb zu zweit verbrachte Dekaden im Kreise der engsten Freund:innen feiern? Wie romantisch! Doch vielleicht sind die inneren Gräben zwischen dem zentralen Paar deutlich tiefer als gedacht, weshalb eine Trennung selbst nach all den Jahren der Zweisamkeit nicht auszuschließen ist.

Für sein Skript zu „All of Us Strangers“ hat Haigh den 1987 veröffentlichten Roman „Sommer mit Fremden“ des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada adaptiert. Er hat die Kernthemen des Romans – die urbane Einsamkeit und die unverhoffte Intimität, die Trauer um die vor langer Zeit verstorbenen Eltern und die Vorstellung einer Reise in die Vergangenheit – übernommen und aus dem komplexen Stoff mit höchster Feinfühligkeit und Stimmigkeit eine dezidiert schwule Geschichte, einen spürbar persönlichen Film gemacht.

Wie in der Vorlage geht es um einen Mann in seinen Vierzigern, der als Drehbuchautor tätig ist und in einem fast leeren Apartmentkomplex wohnt. Hier heißt der Protagonist Adam; angesiedelt ist der Plot im heutigen London. Der Versuch, über seine Eltern zu schreiben, die er als 12-Jähriger durch einen Autounfall verlor, führt Adam mehrmals zurück in die heimatliche Vorstadt. Dort beginnt ein Teil der Wunscherfüllung: Seine Mum und sein Dad sind, wie es scheint, am Leben! Sie sind seit dem Unglück auf wundersame Weise um keinen Tag gealtert – und empfangen ihren erwachsenen Sohn mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit.

Foto: Searchlight Pictures

Darüber hinaus lernt Adam in London den jüngeren Harry kennen, den offenbar einzigen anderen Bewohner des verlassen wirkenden Hochhauses. Nachdem er den Kontakt suchenden Harry an der Wohnungstür zunächst abweist, lässt Adam es schließlich zu, dass sie sich näherkommen. Die Liebesszenen, die von den beiden Hauptdarstellern Andrew Scott und Paul Mescal mit maximaler Sinnlichkeit gespielt werden, gehören zu den erotischsten des aktuellen queeren Kinos. Das Sexuelle hat hier nichts stumpfsinnig Provokatives, auch nichts verlegen Angedeutetes, sondern etwas tatsächlich Intimes.

„Das ist eigentlich kein Thema für ein nachbarliches Geplauder“, heißt es an einer Stelle im Roman. In dieser Aussage steckt viel von der Essenz dieser Erzählung: Die Figuren reden so erstaunlich offen, klar und ehrlich miteinander, wie Menschen es in Büchern, auf der Bühne, auf der Leinwand und im Leben entschieden zu selten tun. Adam und Harry enthüllen einander ihre Narben. Alles wird ausgesprochen, jede Verletzung, jede Angst – aber auch jede Hoffnung, was nicht weniger Mut erfordert.

Foto: Searchlight Pictures

Ebenso kommt in der Interaktion mit den Eltern alles zur Sprache. Adam, der als Zeitreisender nun älter als seine Eltern ist, kann sein Coming-out ihnen gegenüber nachholen. Seine Mutter und sein Vater reagieren darauf wie zwei liebende Menschen, die dennoch ihrer Zeit, den ausklingenden 1980er Jahren, verhaftet sind. Sie finden, wenn auch nicht unbedingt sofort, die richtigen, empathischen Worte, die Adam hören muss, um den einstigen Verlust endgültig verarbeiten zu können. „Solche Worte passten zwar zu meinem Vater, aber war ich nicht derjenige, der ihm alles in den Mund legte?“, fragt sich der Held bei Yamada.

Haigh fügt der starken Dialogebene noch die Musik hinzu. Beim Schmücken des Weihnachtsbaums in Adams Elternhaus, bei dem es sich um Haighs eigenes Zuhause aus der Kindheit handelt, beginnt die Familie plötzlich, den im Radio laufenden Song „Always on My Mind“ in der Dance-Version der Pet Shop Boys zu singen. „Little things I should have said and done / I just never took the time“.

Foto: Searchlight Pictures

Oft wird den Texten von Popstücken Banalität unterstellt – womöglich gerade deshalb, weil sie Gedanken und Gefühle auf den Punkt bringen, die wir einander so unverstellt im Alltag kaum mitzuteilen wagen. Wir können sie als Hintergrundrauschen in Liedern, die wir als schmalzig abtun, ertragen; eventuell können wir sie auf eine Grußkarte schreiben oder als Nachricht in unser Handy eintippen. Hier werden sie jedoch von Adam und seinen Eltern aufrichtig mitgesungen, um einander von Angesicht zu Angesicht die unverbrüchliche Zuneigung zu bekunden. Mit der gleichen Beherztheit greift Harry auf die Lyrics aus „The Power of Love“ von Frankie Goes to Hollywood zurück, um eine Verbindung zu Adam zu knüpfen: Er könne doch bei ihm bleiben, um die Vampire von Adams Tür fernzuhalten. Ja, warum eigentlich nicht?

Darin zeigt sich das Bittersüße, das Haigh in seinen Filmen seit jeher so virtuos zusammenbringt. Zu sehen, wen man sich so sehr zu sehen wünscht. Zu hören, was man so dringend hören will. Zu sagen (oder zu singen), was das Gegenüber unbedingt erfahren sollte. Und im selben Augenblick doch zu wissen, dass es dafür eigentlich längst zu spät ist. „All of Us Strangers“ erzählt vom Bedauern, von verpassten Gelegenheiten. Aber nicht von Verbitterung. Wir begreifen, was möglich gewesen wäre – und wie idyllisch und harmonisch das ausgesehen und sich angehört hätte. Das ist endlos traurig und zugleich unfassbar schön.




All of Us Strangers
von Andrew Haigh
UK/US 2023, 105 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT

Ab 8. Februar im Kino