Gabriel Wolkenfeld: Wir Propagandisten

Buch

Ein junger Deutscher kommt im Jahr 2012 als Sprachlehrer ins russische Jekaterinburg. Er erlebt Wodka-Gelage in chaotischen WG-Küchen, Prinzipienreiterei in tristen Amtsstuben, pompöse Empfänge, versteckte Hinterhof-Partys. Er ist mittendrin im Leben und bleibt doch Außenseiter. Weil er schwul ist – genau wie viele seiner russischen Freunde. Ihr Alltag ist ein lustvoller Gegenentwurf zum Spießertum der breiten Masse. Doch als die Duma die Einführung des sogenannten „Homo-Propaganda-Gesetzes“ beschließt, wird das Antanzen gegen den Mainstream zur existenziellen Gefahr. Diese autobiografisch gefärbte Geschichte erzählt Autor und Lyriker Gabriel Wolkenfeld in „Wir Propagandisten“ – präzise, assoziativ, authentisch. Sebastian Galyga über einen Roman, der gleichzeitig sehr russisch und sehr deutsch ist und gerade wegen seiner heiteren Nostalgie die bestürzende Lage queerer Russ:innen von heute zu verdeutlichen weiß.

Feiern mit Staatsfeinden

von Sebastian Galyga

Russland führt Krieg. Nicht erst seit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. Schon zuvor hatte das Land aufgeklärtem Denken und freien Werten den Kampf angesagt, unter anderem indem es queeres Leben systematisch in die Illegalität verbannte. In „Wir Propagandisten“ zeichnet Gabriel Wolkenfeld ein lakonisches Portrait der letzten Monate, in denen queer-schwules Leben im Schatten des Kremls noch nicht gesetzlich verboten war, sowie ein vitales Bild einer Gesellschaft, die kurz vor einem epochalen Abrutschen in die aggressive Repression steht, aber dennoch wie eingefroren wirkt – in der Bürokratie, der Lethargie des russischen Winters und dem obligatorischen Wodka aus dem Gefrierfach.

Italiener? Nein? Franzose! Ach, was – Deutscher? Immer wieder wird dem jungen Protagonisten in Gabriel Wolkenfelds Roman eine falsche Herkunft angehängt. Nur dass er aus Europa kommt, ist allen irgendwie klar. Aber das ist in Jekaterinburg auch schon zu weit weg. Was aber treibt einen jungen Akademiker denn bitte hierher?, lautet dann oft die ungläubige bis vorwurfsvolle nächste Frage. Für ein Jahr ist der Germanist und Literaturwissenschaftler dank eines Stipendiums in der tief russischen Ferne, um als Sprachlehrer an der örtlichen Universität zu arbeiten. Letztere ist renommiert und geradezu berühmt. Zumindest, wenn man den ausladenden Lobeshymnen der Institutsvorsteherinnen Glauben schenkt, die allerdings eher fragwürdig erscheinen. Die Anwesenheit des namenlosen Protagonisten dagegen ist unbestreitbar. Ganz anders als seine sexuelle Orientierung. Zum ersten Mal seit seiner Jugend ist er wieder im Schrank, stellt er fest.

Gabriel Wolkenfeld – Foto: HassanTaheri

„Wir Propagandisten“ ist eine Zeitkapsel. Vor zehn Jahren wurde queeres Leben in Russland endgültig zur Gefahr für Volk und Anstand erklärt, als Bedrohung für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen dämonisiert. Öffentlich schwul zu sein, wurde nicht nur zum politischen Statement, sondern zur konkreten Gefahr. Während der Erzähler des Romans in Russland lebt, wird ein besonders repressiver Gesetzentwurf diskutiert, der faktisch jede auch nur neutrale Äußerung über Homosexualität unter Strafe stellt – und damit die bloße Existenz einer ganzen Bevölkerungsgruppe zum Politikum macht.

„Ich bin ein Mensch und keine Propaganda. Mein Freund ist ein Mensch und keine Propaganda. Meine Freundin ist ein Mensch und keine Propaganda. Meine Schwester ist ein Mensch und keine Propaganda. Mein Vater, meine Mutter, mein Bruder…“

In seinem lakonischen Ton gelingt es Wolkenfeld, die Traurigkeit der Verhältnisse und ihrer unausweichlichen Folgen einzufangen. Auf der einen Seite ist da das in den Untergrund, in dunkle Hinterhöfe und geheime Clubs gedrängte queere Leben, auf der anderen die perfide Logik der öffentlichen Staatspropaganda: Wozu sollte irgendjemand über Homosexualität reden? Russische Männer sind schließlich so heterosexuell und „männlich“, dass sich der Rest der Welt mehr als nur eine Scheibe davon abschneiden will.

„Wir Propagandisten“ ist genau das Gegenteil von derlei einseitiger Macho-Rhetorik. Der Roman gewinnt gerade durch seine Ambivalenz an Schlagkraft, beziehungsweise dadurch, dass er auch seine schwulen Figuren nicht zu Helden stilisiert. So ist der Erzähler selbst gar nicht unbedingt sympathisch, sein Frauenbild und sein Verhalten gegenüber seinen Partnern sind zuweilen sogar äußerst fragwürdig. Doch genau darum, solche Widersprüche auszuhalten, geht es hier ja letztendlich. Es ist nun mal keine Voraussetzung, über jeden Zweifel erhaben zu sein, um frei leben zu dürfen.

Erstmals erschien der Roman 2015, jetzt legt der Albino-Verlag ihn neu auf und erlaubt die Lektüre mit neuer, erweiterter Perspektive und einem aktuellen Nachwort des Autors. Mit dem heutigen Wissen wirkt Wolkenfelds literarisches Diorama des schwulen Lebens in Russland umso trauriger, die Angst der Figuren umso eklatanter, der Kampf und die Hoffnung auf Verbesserung umso vergeblicher. Trotzdem haben wir es nicht mit einem Trauergesang zu tun. Der Rückblick auf die Sorgen, die sich leider bewahrheitet haben, macht zwar betroffen, aber das Geschehen als solches unterhält. So ist „Wir Propagandisten“ zwar ein hochgradig politisches Buch, aber es stellt das Politische nicht aus, sondern lotet es in den Ritzen und Fugen des Alltäglichen aus.

Außerdem ist da noch der Stil. Es ist eine literarische Kunst, so handlungsarm und doch ansprechend und unterhaltsam zu erzählen, wie Gabriel Wolkenfeld es tut. Seine Sprache begleitet den Erzähler auf seinen mäandernden Gängen durch den Jekaterinburger Alltag und sie beschreibt mit großer Feinheit auch Nichtigkeiten und vermeintlich Belangloses. Denn wie das wahre Leben hat auch „Wir Propagandisten“ keinen Plot im herkömmlichen Sinne. Der Erzähler und seine Bekanntschaften sind eben gerade nicht Teil einer geheimen Verschwörung, die den Umsturz der Regierung plant oder ähnliches. Sie feiern einfach ein paar Partys, gehen ihrer Arbeit nach, begeistern sich für deutsche Sprache und Literatur, hängen in der WG ab, schlagen sich mit der russischen Bürokratie herum, plaudern und plätschern durch ihren Alltag. Trotzdem sind sie Staatsfeinde. Denn sie sind eben schwul

Weiterhin ist es Wolkenfeld auf sehr subtile Weise gelungen, gleichzeitig einen sehr russischen Roman auf Deutsch zu schreiben und die literarische Tradition der Beziehung zwischen den beiden Ländern und Sprachen aufzugreifen. In der russischen Literatur tauchen die Deutschen immer wieder als Vergleichsfolien auf, ob als der arbeitsame und fleißige Freund Stolz in Iwan Gontscharows „Oblomow“ oder als der Teufel in Person in  Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“. Die vergleichende Tradition setzt Wolkenfeld hervorragend und sehr unterhaltsam fort. So heißt es an einer Stelle: „Die Deutschen sind ordentlich, pünktlich, fleißig. Würden Hunde eine menschliche Sprache sprechen, zweifelsohne sprächen sie Deutsch.“

Mit derlei konfrontativen Vergleichen spiegelt der Erzähler immer wieder die kulturelle und sprachliche Diskrepanz, während Autor Wolkenfeld daraus zahlreiche wunderbare Beobachtungen erwachsen lässt. Doch auch ohne diesen Verweisraum ist „Wir Propagandisten“ eine lohnenswerte Lektüre, deren Spektrum von unterhaltsam-lustig bis tragisch-traurig reicht. Ein wunderbares Buch also, in bester russisch-deutscher Tradition, aber doch brennend aktuell.




Wir Propagandisten
von Gabriel Wolkenfeld
Hardcover, 
304 Seiten, € 24,
Albino Verlag

 

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