Norwegian Dream

TrailerQueerfilmnacht

Der 19-Jährige Pole Robert ist gerade an die norwegische Küste gezogen. In einer Fischfabrik nahe Trondheim will er genug Geld verdienen, um die Schulden seiner Mutter begleichen zu können. Er findet schnell Anschluss bei den anderen Polen im Team und verliebt sich in Ivar, den Adoptivsohn des Fabrikeigentümers. Doch während Ivar offen schwul ist, will Robert seine Gefühle lieber geheim halten. Leiv Igor Devolds Spielfilmdebüt ist im Januar in der Queerfilmnacht zu sehen und startet am 1. Februar im Kino. Stefan Hochgesand über eine mitreißende schwule Liebesgeschichte mit großem sozialem Bewusstsein.

Foto: Salzgeber

Die Jungs aus der Fischfabrik

von Stefan Hochgesand

Zweifelsohne gibt es romantischere Orte, um sich zu verlieben, als in Daddys Fischfabrik. Nun ist nicht jedem ein Brokeback Mountain oder gar ein norditalienischer „Call Me By Your Name“-Landhausgarten vergönnt; aber vielleicht zumindest, wie in der Hulu-Serie „Love Victor“, ein Café, hinter dessen Theke sich ein bisschen warme Milch aufschäumen lässt in holder Zweisamkeit? Robert und Ivar schnibbeln am Fließband tote Fische. Oder besser gesagt: Ivar unterrichtet Robert, wie er es zu tun habe. Rund 20.000 Schnitte pro Schicht. Also lieber etwas präziser und nicht noch schneller als man eh schon muss. Ivar weiß, wie der Hase läuft – oder vielleicht sollten wir sagen: wie der Fisch schwimmt und wie er driftet. Denn Ivars Adoptiv-Papa gehört der Laden. Und hier geht es etwas hektischer (und weniger vegetarisch) zu als in Willy Wonkas Schokoladenfabrik.


Eigentlich ist Robert gerade erst angekommen in Norwegen. In der ersten Einstellung von „Norwegian Dream“ sehen wir ihn auf einer Fähre, kuschelig in seinen Hoodie gehüllt. Die Kamera hält nah auf ihn, und man spürt leichten Seegang. Silbrig blaugrau glänzen die Wellen. Robert blickt zurück. Ja, irgendetwas will er hinter sich lassen in seiner alten Heimat, in Polen. Wir werden früh genug erfahren, was das ist – früher und härter, als es einem lieb sein kann. Jedenfalls bleibt Robert nicht viel Zeit, sich einzugewöhnen in Norwegen. Auch wenn die erste Aussicht aus der Arbeiterbaracke Richtung Fjord noch majestätisch anmutet. Doch sein Zimmerkumpane Marek warnt ihn vor: Schon in einer Stunde wird er die olle Natur satthaben. Alles geht zackzack. Zeit ist Geld. Ob man sie nun in Norwegischen Kronen oder in polnischen Zloty misst. Also Kreuzkette ablegen und ab in die neuen gebrauchten Arbeitsschuhe und die blaue Arbeitsuniform. Haarnetz nicht vergessen und die Desinfektionsmittel! Fans des jungen schwulen Kinos fühlen sich womöglich stellenweise ans Setting eines anderen Debütfilms der letzten Jahre erinnert: „Nevrland“ von Gregor Schmidinger. Der spielte psycho-blutig in der Schlachtfabrik.

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Erbarmen kennt man auch wenig in der Fabrik von „Norwegian Dream“. Ja, es wird sehr schnell klar, dass sie mitnichten die Fabrik der Träume sein kann. „Wenn du nicht bis Sonntag zahlst, muss ich dich schweren Herzens ersetzen“, verklickert die Verwalterin der Baracken einem Kollegen von Robert. Dann stellt sich raus, dass sie aus einem polnischen Nachbarkaff von Robert kommt. „Großartig!“, sagt der und meint das Gegenteil. Denn alles, was ihn aus seiner Vergangenheit einholt, versucht er, nicht an sich heranzulassen. Auch nicht die Anrufsversuche der Mutter.

Zwischen all den Sorgen: immer wieder Ivar. Etwa, wenn er auf dem regennassen Asphalt im „Night Fever“-Style tanzt, dort wo die anderen bloß kicken, ihre Pausenkippen rauchen und Ivar aufs Korn nehmen. Ivar hat Musik auf den Ohren, derweil er mutmaßlich im imaginären Studio 54 abgeht, während die Fjord-Möwen kreischen. Robert ist offenkundig fasziniert, er folgt Ivar mit seinem wachen Blick, eyes wide open. Im Grunde lernen sich die beiden Träumenden in jeder Szene, die ihnen unter vier Augen (von unseren Zuschauer-Augen abgesehen) gegönnt ist, noch mal neu kennen. Zum Beispiel: beim „Wen willst du lieber ficken?“-Spiel auf dem Tankstellen-Parkplatz. Sowieso träumt Robert davon, selbst mal eine Tankstelle zu betreiben. Und wenn es mit Ivars Schauspielkarriere nichts wird, könnte der da gleich auch an den Zapfsäulen mitarbeiten. Doch selbst so bodenständige Träumereien wirken in dem Setting von „Norwegian Dream“ nicht ohne weiteres erreichbar.

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Und alles spitzt sich mit dem Streik in der Fabrik noch zu. Die (großteils ausländischen) Arbeiter wollen es sich nicht länger bieten lassen, mies wie Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden. Und Robert wird massiv erpressbar ob der Armut seiner Mutter. So erzählt „Norwegian Dream“ nicht „nur“ vom Hadern Roberts mit seiner Identität: Mit Drag fühlt er sich, sobald andere da sind, ebenso unsicher wie mit seinem polnischen Namen, den er dann schon mal als Französisch ausgibt. Nein, er sei kein Osteuropäer. Von queer mal ganz zu schweigen.

Aber „Norwegian Dream“ verweist darüber hinaus auch auf strukturelle Gewalt im kapitalistischen System. Die macht nicht mal dort Halt, wo der Mittelständler-Chef im Grunde ein halbwegs okayer Typ ist. Die Verbindungsfäden vom Kampf für soziale Gerechtigkeit zum Kampf fürs Recht zu lieben lassen etwa an die britische Dramödie „Pride“ im Geiste von Ken Loach denken, in der – basierend auf realen Ereignissen der Thatcher-Zeit – die Schwulen und Lesben gemeinsame Sache machten mit den drangsalierten Minenarbeitern. Und die soziale Scham, die in Robert aufkocht, gemahnt auch an autofiktionale Schriften von Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) und Edouard Louis („Das Ende von Eddy“). Das hält den jungen Mann nicht davon ab, auch mal genüsslich den ausfließenden Schaumwein abzuschlürfen.

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„Norwegian Dream“ serviert uns eine vertrackte Geschichte mit komplexen Konflikten. Das gibt auch den Figuren sehr viel Tiefe. Es geht nicht „nur“ ums Coming-out. Was heißt auch schon „nur“! Wie im echten Leben, sind die Probleme selten so diszipliniert, dass sie brav nacheinander erscheinen würden. Und trotzdem hat „Norwegian Dream“ auch eine träumerische Leichtigkeit. Etwa wenn Robert zu Ivar aufs Boot steigt, dessen Zuhause. Er legt den Kopf auf Ivars Oberschenkel, alles ist okay solange. Ein High besser als jeder Wodka.

Die malerischen Bilder und die eindringlichen Dialoge sind wie ein Wechselbad aus heiß und kalt. Robert und Ivar, sie träumen beide ihren „Norwegian Dream“. Doch ist es der gleiche? Oder wird er sich auflösen wie einst die Affäre im „Norwegian Wood“ der Beatles mit dem abgefackelten titelgebenden Norwegerholz in der letzten Zeile? Ein Highlight in „Norwegian Dream“ ist in jedem Fall das subtile Schauspiel des polnischen Newcomer-Stars Hubert Miłkowski: Er muss nicht viel mehr tun als an einer Kippe zu ziehen und in die Ferne zu starren. Es tut sich eine Welt aus Assoziationen auf. „Dieser Ort hier sieht ein bisschen aus wie der Mond“, sagt Roberts Mutter gegen Ende hin. Kraterdemoliert? Aber sicher nicht der schlechteste Ort, um nach den Sternen zu greifen.




Norwegian Dream
von Leiv Igor Devold
NO/PL/DE 2023, 97 Minuten, FSK 12,
englisch-polnisch-norwegische OF mit deutschen UT

Im Januar in der Queerfilmnacht und ab 1. Februar im Kino