Shehan Karunatilaka: Die sieben Monde des Maali Almeida
Buch
Ein schwuler Fotograf, der im sri-lankischen Bürgerkrieg der Achtzigerjahre umgebracht wird, ist der (Anti-)Held von Sehahn Karunatilakas Roman „The Seven Moons of Maali Almeida“. Was nach Kriegsepos und Märtyrertragik klingt, ist aufgrund einiger unkonventioneller dramaturgischer Kniffe vor allem ein Fest der Erzählkunst. Als das Buch im Oktober 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, charakterisierte die Jury es als „philosophisches Abenteuer, das die Lesenden in das ‚dunkle Herz der Welt‘ entführt (…), ihnen aber auch Zärtlichkeit und Schönheit, Liebe und Treue sowie das Erstrebenswerte der Ideale, die menschliches Leben rechtfertigen, aufzeigt“. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung hat sich Angelo Algieri auf eine fantastische Reise ins „Dazwischen“ begeben.
Das Gesetz des Dschungels
von Angelo Algieri
„Fotograf. Spieler. Schlampe“, so prägnant wird Maali, der Protagonist von Shehan Karunatilakas Roman „Die sieben Monde des Maali Almeida“, beschrieben. Maali erzählt seine Geschichte in der eher ungebräuchlichen Du-Perspektive und wir begegnen ihm im Jenseits. Denn er ist am 4. Dezember 1989 mit 35 Jahren in den Wirren des sri-lankischen Bürgerkriegs gestorben. Wie? Das ist nur eine von vielen Fragen, um die dieser im besten Sinne komplexe Roman kreist. Dass Karunatilaka sich dabei für einen schwulen Protagonisten entschieden hat, ist bemerkenswert. Spielt die Handlung doch in einem Land, wo das Oberste Gericht erst im Mai 2023 den Weg für die Entkriminalisierung von Homosexualität ebnete. Seitdem warten LGBTIQ*-Aktivist*innen auf die Streichung des 1883 von den Briten eingeführten sri-lankischen Penal-Code-Paragraphen 365a, der u. a. homosexuelle Handlungen als „grobe Unanständigkeit“ verbietet.
All das liegt in Maalis Welt aber noch in weiter Ferne. Der Roman konzentriert sich auf die ersten sieben Jahre des Bürgerkriegs. In dem verheerenden Konflikt standen sich zwischen 1983 und 2009 vorwiegend singhalesische Regierungstruppen und tamilische Separatisten gegenüber. Mindestens 80.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Maali ist einer davon. Zunächst ist der vorlaute Fotograf und Fixer aus Colombo nicht sicher, ob er seinen Tod nur träumt, zumal das Jenseits seltsam bürokratisch organisiert ist: Nach Schlangestehen am Schalter erhält er ein persönliches Kartei-Palmblatt, mit dem er in den 42. Stock zu einer Ohruntersuchung geschickt wird. Bei letzterer werden individuelle Sünden und die Anzahl von Leben erfasst sowie die Zeit ermittelt, die dem Toten bleibt, um sich „ins Licht zu begeben“ – bei Maali sind es die titelgebenden sieben Monde, also sieben Tage. Überschreite er die Frist, bliebe er für lange Zeit im „Dazwischen“ gefangen, heißt es. Dieses Dazwischen ist kein danteskes jenseitiges Fegefeuer, sondern eine Metaebene, in der diesseitige und geistige Welt zusammenkommen und in der Maalis Seele auf Dauer Gefahr liefe, von furchteinflößenden Dämonen verschlungen zu werden – eine Konstellation, die an George Saunders großartigen Roman „Lincoln im Bardo“ erinnert.
Maali entschließt sich, nicht sofort ins Licht zu gehen. Zuvor will er eine gravierende Erinnerungslücke schließen: Er will herausfinden, wer ihn umgebracht hat. Außerdem sind da noch versteckte Fotos, von deren Veröffentlichung er sich nicht weniger als den Sturz der Regierung erhofft. Als Maali den Geist Sena kennenlernt, wittert er eine Gelegenheit, die Bilder doch noch ausstellen zu können. Nicht nur kennen sich die beiden von früher (Maali hat Sena zu Lebzeiten bei einer Kundgebung küssen wollen), Sena hat auch die Gabe, mit den Lebenden kommunizieren zu können. Das möchte auch Maali lernen, um seiner besten Freundin Jaki durchzugeben, wo sich die brisanten Fotos befinden. Es gelingt ihm, eine Botschaft zu übermitteln. Jaki ist schockiert, dass der bislang als vermisst geltende Freund tot ist, aber sie registriert auch den Hinweis auf die Bilder. Es stellt sich jedoch heraus, dass diese zusammen mit Maalis Leiche beschlagnahmt und verbrannt wurden. Aber es gibt ja noch die Negative. Die hat Maali in Schallplattenhüllen verwahrt. Auch dieses Versteck gibt er in die Welt der Lebenden durch, indem er mit Jaki über deren Träume kommuniziert.
Danach geht alles sehr schnell. Jaki findet das Material, ein ehemaliger Lover Maalis entwickelt die Bilder und kurz darauf findet im Art Centre von Colombo eine Ausstellung statt: „Gesetz des Dschungels. Fotografiert von MA“. Die Schau ist in mehrerlei Hinsicht kontrovers. Einerseits zeigt sie Fotos von Massakern, die die singhalesische Armee, aber auch tamilische Paramilitärs und indische Friedenstruppen verübt haben, andererseits sehr private Porträts von Maalis zahlreichen Liebhabern – Barkeeper, Soldaten, Separatisten, Journalisten, Geschäftsleute, Berliner Rocker, mal angezogen, mal (halb)nackt. Während die Kriegsmotive von Leichen, Versehrten, leidenden Kindern, Müttern und Alten die geballte Grausamkeit des Krieges dokumentieren, offenbaren die Porträts Maalis rastloses Liebesleben. Ein fotografisches Vermächtnis zwischen Schönheit und Schrecken, das nicht nur Maalis eifersüchtigen Freund DD erschüttert. Doch der Tote ist schon wieder mit der Klärung der zweiten offenen Frage beschäftigt: Wer hat ihn nun eigentlich umgebracht?
Shehan Karunatilaka legt mit „Die sieben Monde des Maali Almeida“ einen meisterlich vielschichtigen Roman vor. Auf über 500 Seiten vermischt er gekonnt mehrere Genres. Was wie ein Fantasy- und Geisterroman beginnt, entwickelt sich zunehmend zum Whodunit-Krimi. Gleichzeitig demonstriert der Text nüchtern, aber schonungslos, wie brutal und blutig der Bürgerkrieg in Sri Lanka auf allen Seiten geführt wurde, und wie weitreichend die regionalen und internationalen Interessen hinter dem Konflikt waren. Für diese schriftstellerische Leistung wurde Karunatilaka 2022 zu Recht mit dem Booker Prize ausgezeichnet.
Das Buch macht aber auch deutlich, wie bigott und homophob die sri-lankische Gesellschaft über weite Teile sämtlicher Bevölkerungsgruppen tickt. Das widersprüchliche Gebaren gleichgeschlechtlichen Sex einerseits zu tabuisieren und andererseits im Geheimen zu praktizieren, verkörpert im Roman sinnbildlich ein Major der singhalesischen Armee, der Maali erst als „Ponnaya“ („Schwuchtel“) tituliert, ihn dann aber küsst und ihm in den Schritt fasst. Ein bezeichnendes Beispiel für Karunatilakas nie einseitigen Erzählstil. Seine (von Hannes Meyer kongenial ins Deutsche übertragene) Sprache steckt voller origineller Vergleiche und Metaphern, die Dialoge sind perfekt pointiert, und es gelingt ihm bei aller Tragik immer wieder auch komische und teils absurd-lustige Szenen einzubinden. Auch die zunächst etwas gewöhnungsbedürftige Erzählperspektive im Du ist plausibel, da ihre Selbstdistanzierung eine erweiterte Reflexionsebene ermöglicht. Kurzum: ein intelligenter, überraschender und schlicht großartiger Antikriegs- und Antihomophobieroman.
Die sieben Monde des Maali Almeida
von Shehan Karunatilaka
aus dem Englischen von Hannes Meyer
544 Seiten, € 30,
Rowohl Verlag