Blue Jean

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Jetzt im Kino: Georgia Oakleys preisgekröntes Regiedebüt über eine junge Sportlehrerin im England der späten 1980er Jahre. Margaret Thatcher hat mit ihrer konservativen Mehrheit im Parlament gerade Section 28 verabschiedet – ein homophobes Gesetz, das „die Förderung von Homosexualität“ verbietet. Deswegen darf in der Schule niemand wissen, dass Jean lesbisch ist, andernfalls könnte sie ihren Job verlieren. Doch als sie in einer Lesben-Bar einer ihrer Schülerinnen begegnet, muss sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Packend und vielschichtig erzählt „Blue Jean“ von einer zutiefst repressiven Zeit in Groß­britannien, in der die Leben von zahllosen Lesben und Schwulen durch politische Entscheidungen maßgeblich eingeschränkt oder gar zerstört wurden. Zugleich zeugt der Film aber auch von der widerständigen Kraft einer queeren Gemeinschaft, die sich in Opposition gegen die Eiserne Lady erst richtig formierte. Merle Gronewald über ein bewegendes Figuren- und Zeitporträt.

Foto: Salzgeber

Reh im Scheinwerferlicht

von Merle Gronewald

„Das ist nicht fair“, sagt Jean. „Nichts davon ist fair“, antwortet Vic. Und damit ist der zentrale Konflikt von „Blue Jean“ schon zusammengefasst: Welche Erwartungen stellen wir – und stellen andere – an unsere Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in einer ungerechten Welt? Jean ist, auch wenn das kaum offen zutage tritt, wütend: „Nur weil ich meine Sexualität nicht wie ein Ehrenabzeichen zur Schau stelle…!“ Doch ihre Partnerin Vic – eine liebevolle Butch mit Lederjacke, kurzen Haaren und Tattoos – erwidert nur: „Oh, und das tue ich, ist es das? Wie soll das Mädchen jemals lernen, dass sie einen Platz in dieser Welt hat, wenn ausgerechnet du ihr sagst, dass sie das nicht hat?“

Georgia Oakleys Debutfilm „Blue Jean“ spielt in Newscastle Ende der 1980er. Die konservativen Tories regieren das Land seit knapp zehn Jahren. Unter Führung der „Eisernen Lady“ Margaret Tatchers haben sie jene Ära eingeleitet, die seitdem in brüchiger Hegemonie herrscht: den Neoliberalismus. Der Finanzsektor wird liberalisiert, öffentliche Güter privatisiert und das Wettbewerbsprinzip auf möglichst viele Bereiche des Lebens ausgeweitet. 1987 stehen in Großbritannien erneut Wahlen an. Die Labour Party unterstützt – zumindest partiell – die Anliegen der LGBT-Bewegung, welche nicht zuletzt im Zuge der HIV/Aids-Krise mehr Sichtbarkeit, aber auch mehr Stigmatisierung erlebt. Und so machen die Tories explizite Queerfeindlichkeit zum Teil ihrer Kampagne. Auf der Parteikonferenz 1987 sagt Thatcher in ihrer Rede: „Kinder, denen eigentlich beigebracht werden müsste, traditionelle moralische Werte zu respektieren, wird stattdessen beigebracht, dass sie ein unveräußerliches Recht haben, gay zu sein. Alle diesen Kinder werden um einen guten Start ins Leben betrogen.“ Ein Jahr später verabschieden die Tories, nachdem sie die Wahlen gewonnen haben, die „Section 28“. Im Radio – das in „Blue Jean“ ebenso wie der Fernseher manchmal läuft, um die damaligen gesellschaftspolitischen Verhältnisse zu verdeutlichen – ist zu hören: „Die zentralen Bestimmungen sind, dass Homosexualität an staatlichen Schulen nicht gefördert werden darf und dass es verboten ist, die Akzeptanz von Homosexualität als vorgetäuschte familiäre Beziehung zu lehren.“

Jean, wunderbar gespielt von Rosy McEwen, wechselt in solchen Momenten lieber den Sender. Und das obwohl – oder besser gerade weil – sie selbst Lehrerin ist. In der Schule ist sie nicht geoutet, und die Einladung aufs Bier mit den Kolleg:innen lehnt sie lieber ab. Von ihrer Familie wird sie eher toleriert als akzeptiert, und die Nachbarin wirft ihr schräge Blicke zu. Szenen wie diese fängt Georgia Oakley mit ihrem Kameramann Victor Seguin in sanften Pastellfarben ein, ganz getreu der oberflächlichen Harmonie aller heteronormativen Fassaden. Doch sobald Jean sich in jene Welt begibt, in der sie eigentlich zuhause ist, ändert sich der Farbcode des Films zu kräftigeren Tönen in Rot, Blau und Lila: Da gibt es die queere Bar mit einem Billardtisch, an dem Jean mit ihren lesbischen Freund:innen die ein oder andere Kugel versenkt. Oder die lesbische Wohngemeinschaft, in der Radclyffe Halls „The Well of Loneliness“ herumliegt – ein 1928 veröffentlichter Roman, der in Großbritannien nach seinem Erscheinen aufgrund „Obszonität“ (gemeint war „Lesbianismus“) verboten wurde. Momente wie diese lassen das lesbisch-queere Publikum immer wieder schmunzeln lassen – wie auch die stolz und einsam durch Jeans Wohnung stolzierende Katze.

Bild: Salzgeber

Und dieses zwischenzeitliche Schmunzeln braucht es auch, um den dramatischeren Szenen des Films stand zu halten: Jean, die als Sportlehrerin das Netzball-Mädchenteam an ihrer Schule coacht, muss sich positionieren, als eine neue Schülerin auftaucht. Mit ihrem widerständigen Charakter und nicht ganz so filigranen Erscheinung wird Lois von den anderen Schüler:innen schnell ausgegrenzt – und tritt zugleich ausgerechnet im Netzball-Team in Konkurrenz zu Siobhan, die die Mädchen-Clique anführt. Die beiden Schülerinnen tanzen Jean zunehmend auf der Nase herum, es kommt zu immer gravierenden Konflikten. Jean muss sich rechtfertigen, nicht nur gegenüber Lois, Siobhan und ihren Kolleg:innen, sondern auch gegenüber ihrer Partnerin Vic. Die wünscht sich von Jean nämlich vor allem mehr Mut und mehr Entschlossenheit. Doch Jean ist, wie Vic es einmal liebevoll formuliert, „ein Reh im Scheinwerferlicht“.

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Sehr bewusst hat Georgia Oakley, die auch das Drehbuch geschrieben hat, mit Jean eine Protagonistin entworfen, die als eben dieses „Reh im Scheinwerferlicht“ keine widerständige Aktivstin ist und entsprechend auch nicht heroisiert wird. Genauso wenig jedoch wird Jean viktimisiert, sie hat nicht unter massiven Repressionen zu leiden. Stattdessen versucht die junge Lehrerin zu eben dieser Zeit und an eben diesem Ort ihr Leben zu leben: Mit all den Freiheiten, die sie gegenüber vorherigen Generationen gewonnen hat, aber auch mit der Stigmatisierung und Ausgrenzung, die letzlich ihre Arbeit, ihre Beziehung und das Verhältnis zu ihrer Familie belasten. Jean schlägt sich durch, mit Fehlern und mit Verletzungen, aber auch mit vorsichtiger Zuversicht und Liebe – und macht am Ende, wie wir alle, dann doch eine kleine Held:innenreise.

Foto: Salzgeber

So ist „Blue Jean“ ein Historiendrama, dessen Blick für Details ebenso im Gedächtnis bleibt wie der Soundtrack der 1980er im Ohr („Blue Monday“ von The New Order; „Beam Me Up“ von Max Goldman, „Let the Music (Use You)“ von Riley Henrey). Oakleys Film feierte 2022 seine Weltpremiere in Venedig und gewann dort den Publikumspreis der Sektion Giornate degli Autori. Bei den British Independent Film Awards 2022 wurde „Blue Jean“ in 13 Kategorien nominiert und vier Mal ausgezeichnet: mit den Preisen für die Beste Hauptdarstellerin (Rosy McEwen), die Beste Nebenrolle (Kerrie Hayes), das Beste Debut-Drehbuch (Georgia Oakley) sowie das Beste Casting (Shaheen Baig). Nicht nur aufgrund der verdienten filmischen Auszeichnungen, sondern auch aufgrund seines relevanten Stoff dürfte sich „Blue Jean“ bald auf vielen Listen britisch-queerer Filmhighlights widerfinden. Ähnlich wie Stephen Beresfords „Pride“ (2014), der den Widerstand der Gruppe Lesbians and Gays Support the Miners porträtiert, die sich während der HIV/Aids-Krise mit den in den 1980ern streikenden Bergarbeitern solidarisiert haben, vermittelt „Blue Jean“ eine schmerzhafte und widerständige Episode der LGBT-Geschichte im Vereinigten Königreich.

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Es ist eine Binsenweisheit, dass Historiendramen häufig ein Spiegel der heutigen Zeit und ihrer Projektionen auf die Vergangenheit sind. Denn zur traurigen Wahrheit gehört auch, dass transfeindliche Diskurse in Großbritannien wie andernorts immer wieder mit jenem vermeintlichen „Schutz von Kindern und Jugendlichen“ argumentieren, der schon zu Zeiten Thatchers in Hinblick auf „Homosexualität“ ins Feld geführt wurde. Im US-Bundestaat Florida wurde 2022 das House Bill 1557 verabschiedet, das Gegner:innen auch das „Don’t Say Gay“-Bill nennen: In unschöner Erinnerung an die britische „Section 28“ erschwert es die Thematisierung von LGBT-Themen im Schulunterricht. Geschichte wiederholt sich und verläuft eben nicht linear, sondern zirkulär. Zum Glück bedeutet das auch, dass der Widerstand allenorts heute so groß ist – wenn nicht noch größer – wie in den 1980ern in Großbritannien. Damals waren es nicht zuletzt Lesben, die in Protest gegen die „Section 28“ eine Nachrichtensendung der BBC stürmten, sich an die Tore des Buckingham Palaces ketteten und im House of Lords von der Ballustrade abseilten. Wenn darüber im Radio und Fernsehen berichtet wird, kann selbst Jean nicht weghören.




Blue Jean
von Georgia Oakley
UK 2022, 97 Minuten,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Ab 5. Oktober im Kino.

 


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