Nighthawks & Strip Jack Naked

TrailerDVD/VoD

Mit „Nighthawks“ haben Ron Peck und Paul Hallam 1978 schwule Filmgeschichte geschrieben: Das Porträt eines ungeouteten Lehrers, der nach Einbruch der Dunkelheit durch die Londoner Gay Clubs cruist, gilt als erster offen schwuler britischer Film überhaupt. In der dokumentarischen Fortsetzung „Strip Jack Naked“ aus dem Jahr 1991 setzte Peck seinem Klassiker in einen persönlichen Kontext: Als junger Mann musste er sich aus einem repressiven familiären Umfeld befreien und von einem tristen Vorort in die aufregende Großstadt London ziehen, um sein Schwulsein leben zu können und als Filmemacher seine politische Stimme zu finden. Beide in Deutschland bisher weitgehend unbekannte Filme gibt es jetzt auf DVD und als VoD. Andreas Wilink über ein faszinierendes Doppel, das nicht nur ein Schlaglicht auf die homophobe britische Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte wirft, sondern auch eine beeindruckende Emanzipationsgeschichte erzählt.

„Nighthawks“ – Foto: Salzgeber

Allein unter Vielen

von Andreas Wilink

Auf Edward Hoppers berühmtem Gemälde „Nighthawks“ blicken wir von außen in eine Bar mit einem Keeper, an deren lang gestrecktem Tresen drei Personen sitzen: ein Mann und eine Frau nebeneinander, und über Eck entfernt von ihnen ein weiterer Mann, allein mit dem Rücken zum Betrachter. Wir wüssten nicht zu sagen, wer von ihnen sich einsamer fühlt. Der an einer Londoner Gesamtschule unterrichtende Jim Davidson sitzt zwischen diesen Stühlen. Auch er ist ein Nighthawk, meistens allein, manchmal zu zweit. Ein Nachtschwärmer aus Instinkt und Notwendigkeit.

Dunkel, Zigarettenqualm, hämmernde Beats, tanzende Männer, getrübte, aber taxierend gierige Augen; und nebendran die aufgereihten Typen, frei und willig zur Beschau und zum Reagieren und dabei die Balance haltend von lässiger Gleichgültigkeit und gespanntem Jagdtrieb. Die Mode mit langen Koteletten, Schlaghosen, spitzen oder abgerundeten Hemdkrägen verweist auf die siebziger Jahre. Ron Peck hat „Nighthawks“ 1978 gedreht, dem Jahr, als auch das „Saturday Night Fever“ ausbrach und Woody Allens „Stadtneurotiker“ einen Phänotyp schuf. Schauen wir uns einen Moment lang mit Blick auf queere Stoffe im Umkreis dieser Entstehungszeit um.

In John Schlesingers „Sunday, Bloody Sunday“ von 1971 wird, ebenfalls in London situiert, eine ménage à trois zwischen einer Frau und zwei Männern – einem älteren, klugen und kultivierten jüdischen Arzt und einem jungen attraktiven (Lebens-)Künstler – sehr schön und sehr melancholisch entwickelt. Bei Rainer Werner Fassbinder scheitert 1975 in „Faustrecht der Freiheit“ das Glück am sozialen Ungleichgewicht, an Klassenverhältnissen und vor allem daran, dass der Eine liebt, der Andere nicht. Kaum anders verhält es sich in Wolfgang Petersens „Die Konsequenz“ (1978) nach dem Roman von Alexander Ziegler mit einer im Gefängnis beginnenden Liebesbeziehung. In den USA lässt William Friedkin 1980 in seinem Thriller „Cruising“ einen Mörder in der homosexuellen Lederszene wildern und setzt einen Detective undercover auf die Spur des Killers. Und 1985 riskiert Stephen Frears den Kultur-Clash, indem er in „Mein wunderbarer Waschsalon“ eine Love Story zwischen einem schwulen Underdog-Punk und einem bürgerlich adretten Pakistani erzählt.

Im Vergleich mit den genannten Filmen scheint die Geschichte von Jim Davidson die ‚normalste‘ und er der unauffälligste Held zwischen bürgerlichem Beruf sowie kollegialen Kontakten als Tagmensch und dem Wunsch nach körperlicher Entgrenzung beim Tanzen sowie der Lust auf sexuelle Begegnungen für eine Nacht oder eventuell für länger. Auch seine schwulen Bekanntschaften repräsentieren Verhältnisse, die so akkurat, solide und brav wirken, dass ihre Anpassung an die Norm – aus heutiger Perspektive – überraschen könnte.

„Nighthawks“ – Foto: Salzgeber

Gerade das machte ihren Erfahrungs- und Wiederkennungswert für eine (nicht nur britische) Generation Homosexueller aus und erlaubte die Möglichkeit, sich zu identifizieren. Die Produktion von „Nighthawks“ wurde vom British Film Institute abgelehnt, doch vielfach unterstützt – finanziell, ideell, konkret und durch tätige Mithilfe (dabei stieß auch der spätere Co-Autor Paul Hallam zu Ron Peck). Man kann von einem kollektiven emanzipatorischen Projekt sprechen. Die Geschichte von „Nighthawks“ beschreibt einen unzureichenden Istzustand, der Film erreicht gesellschaftliche Veränderung (weshalb auch die Frage mitentscheidend war, welches Bild schwulen Lebens sich darin vermittelt: positiv, negativ, abschreckend, Empathie schaffend?) und ist das, was wir heute Identitätspolitik nennen.

Dabei hatte die Frist, die „Nighthawks“ brauchte, um fertiggestellt und veröffentlich zu werden, beinahe schon dazu geführt, dass die Botschaft des Films von der Zeit überrundet wurde. In den USA waren Gay Liberation und die Rainbow-Koalition längst radikal offensiver und mutiger. Ron Peck zieht es in der Folge nach Kalifornien – und wieder zurück in seine Heimat, wo der Kampf weiterging und sich neu entzündete während der konservativen und repressiven Thatcher- (und in den Vereinigten Staaten Reagan-)Ära und der todbringenden Aids-Epidemie, die wiederum neue Solidarität und Empowerment befruchteten.

„Nighthawks“ – Foto: Salzgeber

Mit all diesen Informationen bietet der Dokumentarfilm „Strip Jack Naked“ weit mehr als Bonusmaterial. Ron Peck, Jahrgang 1948, hat sie zwölf Jahre nach „Nighthawks“ gedreht und ihr auch einiges an Szenen eingefügt, die in seinem Spielfilm, der in der Rohfassung dreieinhalb Stunden lang war, fehlen. Darunter ist die Figur, deren Vorlage der selbstbewusste Colm Clifford gewesen ist: ein aktivistischer Mann, der seinen Lebensentwurf und sein alternatives Modell stolz und entspannt vertritt. Hingegen sei es für ihn, Ron Peck, schwieriger und langwieriger gewesen, „aus der Deckung zu kommen“; er musste erst „Umwege“ einschlagen, wie er rückblickend sagt.

Peck berichtet von der Genese des Films, die nicht zu trennen ist von seiner Biografie, die aus Heimlichkeit hin zur Selbstermutigung erwächst und zurückgeht bis in seine Zeit als Halbwüchsiger und seine ihn überwältigenden Gefühle für einen Mitschüler, seine Sehnsucht nach ihm und die furchtbare Erfahrung, dieses Allerprivateste aufgedeckt und ausgeliefert sehen zu müssen an einer feindselige, verächtliche, traumatisierende homophobe Umgebung. So wird er zum „stillen, zurückgezogenen Teenager“, der sich in seiner Gegenwelt des Kinos, seiner Images und männlichen Idole einrichtet, ein heterosexuelles Leben versucht, während das Schwulsein als verboten, gefährlich, lächerlich und diskriminiert erscheint.

Die frühen Siebziger bringen dann die Revolte und lassen schwule Vor-Bilder zu, lehren Aufrechtgehen, wischen den Zwang zu lügen fort und dringen über Frankreich, Deutschland und vor allem die USA nach England. Das Persönliche wird politisch: Gay News ist nicht nur der Name einer Zeitschrift. Die Community formiert sich und traut sich was. „Wir haben immer Kämpfer gebraucht“, kommentiert Ron Peck.

„Strip Jack Naked“ – Foto: Salzgeber

Zurück zu „Nighthawks“: Mehrmals fährt die Kamera auf Jims Gesicht zu und bleibt darauf haften, bis sie nur noch die Augenpartie erfasst und das Unstete, nahezu Gehetzte seines Blicks festhält. Der Zuschauer spürt Jims Verunsicherung über das Leben, das er führen möchte. Im Zweifel gegen den möglichen Partner? Freiheit, aber wozu und wohin? Seine Selbstwerdung ist ein komplizierter Solotanz, ein Schritt vor und zwei Schritte zurück, oder umgekehrt.

Jim, der in Notting Hill wohnt, bevor dort Julia Roberts und Hugh Grant eingezogen sind, macht in Bars und Discos wie dem Streets Bekanntschaften, eine, die zweite, die dritte Affäre, von denen uns Ron Peck wenig mehr als einen Kuss zu sehen gibt (der Dokumentarfilm zeigt, dass auch härtere Szenen gedreht worden sind). Am nächsten Morgen nimmt Jim die Lover im Wagen mit und setzt sie ab. Es bleibt bei losen Verbindungen, die sich mal weiterknüpfen, mal verlieren, mal von ihm fallen gelassen werden. Entweder ist Jim zögerlich oder der jeweils Andere. So scheint Jim beziehungslos und in seinen Routinen gefangen, die den Beruf und seine Verabredungen mit der Kollegin Judy ebenso umfassen wie die Rituale seines schwulen Lebens.

Noch ist es – zeitbedingt – mit Konflikten und Hemmungen verbunden und jedenfalls ein „big deal“, sich zu outen und den Eltern mitzuteilen, was es mit dem erwachsenen Sohn in der Großstadt auf sich hat. Eines Tages konfrontiert dann auch seine Schulklasse Jim mit der Frage, ob das Gerücht stimme, dass er schwul sei. Die Gruppe von vorpubertären Mädchen und Jungen veranstaltet die Unterrichtsstunde als lärmendes Tribunal. Sie, die sich der eigenen Sexualität noch nicht gewiss sind und kein Gefühl dafür haben, was indiskret und unangemessen ist und sich desto präpotenter  und animierter hervortun, lassen die üblichen Klischees und Vorurteile vom Stapel, ob er Frauenkleider oder eine Handtasche trage oder was er im Bett mache. Jim lässt sich nicht provozieren, antwortet ernsthaft und versucht, das Thema  in eine seriös informative Diskussion zu lenken. Dennoch erhält er anschließend eine Verwarnung vom Direktor der Schule. Aber das Outing bringt den Spurwechsel. Sein Tempo ist die langsame, aber umso nachhaltigere Bewegung.

„Strip Jack Naked“ – Foto: Salzgeber

„Strip Jack Naked“ beginnt als experimenteller Film im Kopf von Ron Peck, als befinde er sich in einem Wach-, Wunsch- und an einigen Stellen auch Albtraum, in dem ihn ein Filmarchiv mit gestapelten Filmrollen umgibt und er am Schneidetisch sein eigenes Werk und Figuren daraus montiert: nackte junge Männer, ihre Körper, Porträtbilder, Szenen seines Lebens.

„Nighthawks“ wiederum hebt diese assoziative Selbstreflexion auf eine erzählerische Ebene. Eine lange Sequenz erschließt am ehesten den in sich verkapselten Charakter von Jim. Bei einer nächtlichen Autofahrt und einem anschließenden Kaffee in einem Imbiss bekennt er sich gegenüber Judy, wenn er über das Scheitern einer mehrmonatigen Beziehung spricht, die mit seiner Eifersucht und seinem Besitzergreifen zu tun gehabt habe. Vielleicht auch mit seiner Angst vor Zurückweisung, mit der Überhöhung des idealen „Mr. Right“ und dem emotionalen Konflikt, Sex und Liebe in einer Person zusammenzudenken bzw. zusammenzufühlen. Jim zählt eine Liste von Namen auf, mit denen er Affären hatte. Judy hört sich das verwundert an, ohne das soziale und erotische Programm und das psychologische Muster zu begreifen.

„Nighthawks“ lässt am Ende Jim in der Menge tanzender Männer in der Disco zurück: unter Vielen allein. Es geht weiter. Es beginnt von neuem. Es wird sich ändern.




Nighthaws
von Ron Peck & Paul Hallam
UK 1978, 113 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT

Strip Jack Naked
von Ron Peck & Paul Hallam
UK 1991, 91 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT

Jetzt als DVD und VoD