Wild Side

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Mit seinem zweiten Kinospielfilm hat Sébastien Lifshitz im Jahr 2004 einen Klassiker des Queer Cinema geschaffen. Anlässlich der Veröffentlichung der restaurierten Fassung von „Wild Side“ im Salzgeber Club werfen wir einen neuen Blick auf das intime Liebesdrama um drei Entwurzelte, das auch 17 Jahre nach der Uraufführung nichts von seiner poetischen Kraft verloren hat.

Foto: Salzgeber

The Love of a Dead Boy

von Christian Weber

Am Anfang: Nahaufnahmen eines Körpers, der auf einem roten Laken liegt. Ein Rücken, zwei Finger, eine Taille, Füße mit lackierten Nägeln, ein Nacken, über den lange braune Locken fallen, ein Penis inmitten einer behaarten Scham, ein Bauchnabel, zwei Frauenbrüste. Über den Bildern liegt der Gesang von Anohni, der transgeschlechtlichen Sängerin der Indie-Band Antony and the Johnsons. „All my life I’ve been so blue“, singt sie. „Now I tell all my friends: I fell in love with a dead boy.“ Szenenwechsel. Anohni steht in einer Bar, umringt von einer Gruppe Frauen. Sie hören ihr nicht einfach nur zu, sie hängen an ihren Lippen. Sie blicken sie so an, als würde Anohni in diesem Moment die persönliche Geschichte von jeder einzelnen beschreiben. „Are you a boy or a girl?“ Im Publikum steht auch Stéphanie, die Frau auf den roten Laken. „Are you a boy or a girl?“ Anohnis Gesang, der alle Geschlechtsgrenzen transzendiert, rührt sie zu Tränen.

„Wild Side“, Sébastien Lifshitz‘ zweiter Langfilm nach „Sommer wie Winter“ (2000), wurde 2004 auf der Berlinale uraufgeführt, mit dem Teddy-Award ausgezeichnet und von Le Monde als bester Film des Festivals gepriesen. Lifshitz, der mit François Ozon, Alain Guiraudie und Christophe Honoré zu den wichtigsten französischen Filmemachern seiner Generation gehört, hat seitdem eine Reihe weiterer großer queerer Filme gedreht: das romantische Road-Movie „Plein Sud – Auf dem Weg nach Süden“ (2009) und die porträtartigen Dokumentarfilme „Die Unsichtbaren“ (2012), „Bambi“ (2013), „Les vies de Thérèse“ (2016), „Adolescentes“ (2019) und „Kleines Mädchen“ (2020), für die er u.a. mit zwei Césars, einem weiteren Teddy und der Queer Palm ausgezeichnet wurde. Doch bis heute ist „Wild Side“ sein komplexester und stärkster Film, sein Opus magnum, das in einer Reihe steht mit den großen Außenseiterstudien anderer queerer Auteurs des Weltkinos. „Wild Side“, ein Film über drei Heimatlose, die im Pariser Rotlichtviertel zueinanderfinden, aber erst auf dem nordfranzösischen Land zu einer Ersatzfamilie zusammen­wachsen, ist schonungslos wie Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978), bildgewaltig wie Van Sants „My Own Private Idaho“ (1991) und verwegen wie Almodóvars „Alles über meine Mutter“ (2001).

Bereits in der Eröffnung spiegeln sich die ganze Tragik und das große Hoffnungsmoment der Geschichte wider: die Einsamkeit derer, die nicht in ein bestimmtes Identitäts-Schema passen; die Trauer um die persönlichen Verluste, die damit verknüpft sind; und das Versprechen, trotz allem Verbündete zu finden, Menschen die man lieben kann und die einen lieben.

Die Handlung, die sich nach dem tongebenden Prolog entfaltet, ist schnell erzählt: Stéphanie, die in Paris lebt und dort als Prostituierte arbeitet, erhält eines Tages einen Anruf. Ihre Mutter liegt im Sterben und braucht ihre Hilfe. Die Tochter reist mit ihrem Geliebten Mikhail an den Ort ihrer Kindheit – ein Dorf, das sie 17 Jahre zuvor verlassen hat, als sie noch Pierre hieß. Bald kommt Djamel nach, ihr gemeinsamer Freund, Liebhaber, Partner. Zu dritt pflegen sie die Mutter, bis zu ihrem Tod.

Lifshitz entwickelt seinen Film weniger über diese Narration als über eine Chronologie der Gefühle, die die drei Hauptfiguren miteinander verbindet. Virtuos springen der Regisseur und seine Cutterin Stéphanie Mahet zwischen der gemeinsamen Gegenwart der Figuren und den Provinzen derer Vergangenheiten hin und her. Alle drei haben ihre biologischen Familien verloren oder sich von ihnen losgesagt. Mikhail ist aus der russischen Armee desertiert und arbeitet mittlerweile als Tellerwäscher in einem Pariser Restaurant. Ein Telefonanruf bei seiner Mutter macht deutlich, wie verzweifelt die Eltern über den Verlust des Sohnes sind – und wie wenig sie ihn verstehen. Djamel wuchs zwischen den Plattenbauten der Banlieues als Kind algerischer Migranten auf und zieht nun als Stricher durch die Bahnhöfe von Paris. Seine Mutter, mit der er nur über seinen Bruder kommuniziert, soll von seinem Leben möglichst wenig wissen. Am drastischsten ist Stéphanies Geschichte: Sie wurde als Junge geboren und verlor früh ihren Vater und die geliebte Schwester bei einem Unfall. Bis heute hat die Mutter weder den Tod der beiden verwunden noch Stéphanies Transidentität akzeptiert. Scham und Schuldgefühle, Wut, Misstrauen und Hilflosigkeit stehen zwischen den Eltern und ihren Kindern, empfunden auf beiden Seiten.

Foto: Salzgeber

Lifshitz formuliert die Vorgeschichten seiner Figuren nicht aus, sie treiben vielmehr wie Strandgut an die filmische Oberfläche: in spröden Rückblenden bei Mikhail, in einer Abfolge von Fotografien bei Djamel und in teils surreal wirkenden Erinnerungsfetzen bei Stéphanie. An die Stelle klarer dramaturgischer Verknüpfungen und eindeutiger Psychologisierungen treten erzählerische Freiräume und assoziative Bilder – und damit eine dezidiert queere filmische Form.

Am deutlichsten sind noch die Spuren zu Stéphanies Vergangenheit: In einer traumhaften Einstellung läuft sie als Pierre, ein vielleicht 8-jähriger Junge mit langen, blonden Haaren, über ein weites, verlassenes Feld. Plötzlich brechen Sonnenstrahlen durch die Wolken und fahren über den Boden, so als würden sie das Feld und den Jungen darauf liebevoll streicheln. Auf der Tonspur grollt der Wind, beinah überwältigend laut. Pierre wird von seiner Mutter nach Hause gerufen. Auf den unwirklichen Himmelsgruß folgt die Todesnachricht, die den Zerfall der Familie einleitet. Stéphanies Erinnerungen erzählen von einem Zuhause, das schlagartig unheimlich und unbewohnbar wird.

In weniger poetischen, teils brutalen Bildern zeigt Lifshitz, wie sich seine Hauptfiguren auf dem Straßenstrich körperlich ausbeuten lassen, um zu überleben. In jenen Momenten aber, in denen es um die tiefsten Verwundungen geht, legt der Film eine schützende Diskretion an den Tag. Wie in jener Szene, in der Stéphanie das Haus eines engen Jugendfreundes aufsucht, der noch immer im gleichen Dorf wohnt. „Erkennst Du mich nicht?“, fragt sie ihn an der Pforte. „Nein, ich kenne Sie nicht“, antwortet er. „Ich bin es, Pierre Caumot.“ Die beiden gehen durch einen Garten, der hinter dem Haus liegt. Eigentlich habe sich Stéphanie gar nicht verändert, meint der Mann nun. Und wie er es sagt, wie er sie dabei anblickt, macht klar, dass mehr als nur Freundschaft zwischen ihnen war. Vor den beiden spielen zwei Kinder, seine Kinder. Wie sie denn heißen würden, möchte Stéphanie wissen. Eins der beiden heißt Pierre. Und Stéphanie – ist sie denn gerade mit jemand zusammen, fragt der Mann. Ja, ist sie. Und liebt sie ihn auch? Stéphanie: „Wolltest Du etwa, dass ich Dich für immer liebe?“ Bevor ihr Begleiter antworten kann, folgt ein schneller, geradezu abrupter Schnitt. Die größten Verletzungen liegen in „Wild Side“ in der Vergangenheit. Lifshitz reichen Andeutungen.

Foto: Salzgeber

Assoziativ ist auch die Verständigung zwischen den Liebenden. Die verbale Kommunikation ist mühsam, Mikhail spricht kein Französisch. Es bleiben Blicke und Berührungen – eine Sprache der Körper, der unverkennbar der Einfluss Claire Denis‘ eingeschrieben ist, der großen Meisterin des taktilen Kinos. Lifshitz und Denis kennen sich gut, er hat über sie seinen ersten Dokumentarfilm gedreht, „Claire Denis, la vagabonde“ (1996). Bei „Wild Side“ arbeitete Lifshitz mit Denis‘ langjähriger Kamerafrau Agnès Godard zusammen. Immer wieder fährt die Kamera langsam über die Körper der Figuren, nicht kühl musternd, sondern behutsam abtastend, wie eine streichelnde Hand. Wie Djamel, der im Film als Voyeur und vielseitig Begehrender auftritt, interessiert sich Godards Kamera für alle Körper gleichermaßen: egal ob männlich oder weiblich, jung oder alt, mit behaarter oder glatter Haut, geschlechtseindeutig und geschlechtsambivalent. Es ist ein Blick, der nicht entblößt, der kein Urteil und keine Ausgrenzung kennt.

In „Wild Side“, einem Film der formalen und perspektivischen Ambivalenzen, haben alle Figuren zwei Seiten: eine äußerste Zärtlichkeit gegenüber denen, die sie verstehen und lieben, und eine unnachgiebige Härte gegen die eigene Vergangenheit. Das Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz entwirft Lifshitz dabei ganz unmittelbar über die Körper. Wiederholt küssen sich Stéphanie, Mikhail und Djamel liebevoll die Hände – eine Geste inniger Vertrautheit. Die Hände der Mutter liegen hingegen einsam in ihrem Schoß. Doch dann, später, sitzt die Mutter mit Mikhail zusammen, legt seine Hände in ihre, betrachtet und befühlt sie. Das sind starke Hände, sagt sie, so stark wie die ihres Mannes, Stéphanies Vater, dem großen Phantom des Films. „Zum Glück hat er Dich nicht so gesehen“, sagt die Mutter zu Stéphanie in einer anderen Szene. „Vielleicht wäre ihm wichtig gewesen, dass ich glücklich bin?“, erwidert die Tochter und berührt dabei die Hände der Mutter. „Nein, so sind die Männer nicht.“ Dann, nach einer langen Pause, fragt diese: „Tut dir weh, was ich sage?“ Und Stéphanie nickt.

Obwohl Mutter und Tochter im Laufe des Films behutsam Worte für ihre Gefühle finden, bleibt die umfassende Versöhnung – auch im ganz wörtlichen Sinne – eine Illusion. Lifshitz‘ Film stellt den Verlust von Heimat als dezidiert queere Erfahrung dar, die mit endgültigen Konsequenzen verbunden ist. Aber er bietet auch eine Lösung an: die nahezu utopische Allianz zwischen drei Außenseitern, die keine Hierarchien und keine Grenzen des Begehrens mehr kennt. Die Zärtlichkeit in diesem Liebesbündnis beginnt bei einem tief empfundenen Respekt für die anderen – einem Respekt, den alle drei zuvor nicht kannten. „Darf ich Dich küssen?“, fragt Mikhail Stéphanie. Er darf es.




Wild Side
von Sébastien Lifshitz
FR 2004, 93 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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