Pedro Almodóvar: Der letzte Traum

Buch

Pedro Almodóvar ist nicht nur Spaniens erfolgreichster Filmemacher, sondern auch Autor mehrerer Bücher. Nach „Parallele Mütter“ und den beiden Kurzfilmen „The Human Voice“ und „Strange Way of Life“ tritt er mal wieder literarisch in Erscheinung: „Der letzte Traum“ ist ein Band aus Erzählungen und vereint „Initiationstexte“ aus sieben Jahrzehnten. Almodóvar verhandelt darin ähnliche Themen wie in seinen Filmen, es geht um Liebe und Selbstermächtigung, um Leidenschaft und Wahnsinn, um schöne und wilde Menschen. Angelo Algieri hat sich in den Almodóvarschen Abgrund zwischen Euphorie und Melancholie hineinfallen lassen.

Die Erweiterung der Wirklichkeit

von Angelo Algieri

„Von klein auf sah ich mich als Schriftsteller, ich habe immer geschrieben“, notiert Pedro Almodóvar im Vorwort von „Der letzte Traum“. Seine Berufung als Schriftsteller habe immer außer Frage gestanden. Davon zeugt dieser Band, der zwölf bislang unveröffentlichte Texte enthält, die zwischen 1967 und 2022 entstanden. Da trifft Prosa unterschiedlicher Genres auf Genre-Mix-Experimente und vier autobiografische Essays.

Der Autor unterstreicht in seinem Vorwort, dass er sich einer Autobiografie verweigere. Dennoch blitzen in seinen Essays immer wieder autobiografische Anekdoten auf: etwa, dass er Andy Warhol bei dessen Madrid-Besuch 1983 an unterschiedlichen Abenden traf und ihm dabei immer wieder als der „spanische Warhol“ vorgestellt wurde, was gleichermaßen zu komischen wie peinlichen Situationen führte. Weiterhin erzählt Almodóvar, dass 1990 die Party anlässlich der New Yorker Filmpremiere von „Fessle mich!“ in der frisch eingeweihten Disco The Factory stattfand und dort die Star-Drag-Queens RuPaul und Lady Bunny als Gastgeberinnen fungierten. An jenem Abend stand auch Liza Minelli auf der Bühne und gab den Hit „New York, New York“ zum Besten.  Angeblich zitterte sie bei ihrem Auftritt wie Espenlaub – weniger vor Aufregung, als vielmehr aufgrund von Alkohol- und Drogenentzug.

Aber es sind keineswegs nur Gossip-trächtige Anekdoten, die Almodóvar in „Der letzte Traum“ ausbreitet. Der eindrucksvollste Beitrag des Bandes ist wohl der sieben Seiten umfassende, radikal persönliche Titel-Essay. Darin schreibt der Autor über seine Mutter, die um die Jahrtausendwende starb. Ein starker, sehr emotionaler Text, der nebenbei Almodóvars Grundverständnis von literarischem und filmischem Erzählen offenbart.

Pedro Almodóvar – Foto: Nico Bustos

„Ich habe viel von meiner Mutter gelernt, ohne dass sie oder ich es gemerkt hätten“, heißt es da. So auch „den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion, und dass die Wirklichkeit durch die Fiktion ergänzt werden muss, um das Leben leichter zu machen“. Um das Haushaltsgeld aufzubessern, las die Mutter ihren Nachbarn, die nicht lesen konnten, Briefe vor: „Meine Mutter erfand einen Teil des Briefes.“ Sie mogelte Nettigkeiten hinein, die die Absender gar nicht geschrieben hatten. Derartige Erweiterungen der Wirklichkeit haben Almodóvars Arbeit als Regisseur und Drehbuchautor geprägt – und er bedient sich ihrer auch bei einigen der zwölf Geschichten dieses Bandes.

So „versüßt“ er die in der spanischen Geschichte als Johanna, die Wahnsinnige (1479-1555) bekannte Königstochter, indem er ihr eine Erzählung mit dem sprechenden Titel „Johanna, das Waldröschen“ widmet. Johanna, Tochter Königin Isabellas I. von Kastillien, wurde Anfang des 16. Jahrhunderts von ihrem Vater Ferdinand II. ausgebootet. Der erklärte sie kurzerhand für verrückt, weil sie um ihren verstorbenen Mann Philipp, den Schönen trauerte und seinem Sarg nicht loslassen wollte. In Wahrheit ging es Ferdinand II. allerdings nur darum, zu verhindern, dass Johanna den Thron besteigt, der ihr nach dem Tod der Mutter eigentlich zugestanden hätte. Almodóvar erzählt diese Geschichte etwas anders. Bei ihm kommt sie als Variante des Dornröschenmärchens daher, die schlussendlich das Trauern zu einem Akt der Leidenschaft erklärt, der den Spaniern ureigen sei. Am Ende lässt er Johanna nicht nur nominell, wie in den Geschichtsbüchern, sondern auch effektiv Königin werden. Auf diese Weise rehabilitiert er einerseits Johanna, die Wahnsinnige, und demonstriert andererseits, dass Literatur ihren eigenen Gesetzen gehorcht und neue Möglichkeitsräume öffnet.

Eine weitere Erzählung, in der eine gemeinhin bekannte Geschichte ein anderes Ende verpasst bekommt, ist „Die Erlösung“. Darin wird Jesus während des Kreuzwegs von Barabbas aufgefordert, mit ihm zu fliehen. Das Martyrium wird zur Lovestory mit romantisch-schwulem Twist umgedeutet. Ähnlich absurd ist die Wendung in einer Geschichte über Graf Dracula, der sich auf einmal fürs Mönchstum entscheidet. In „Leben und Tod von Miguel“ wiederum scheint es zunächst, als habe Almodóvar sich an der Variation eines bekannten Motivs versucht. Die Parallelen zur Film-Story von „Die seltsame Geschichte des Benjamin Button“ sind unverkennbar. Umso bemerkenswerter, dass Almodóvar die Geschichte bereits in den Siebzigern geschrieben hat, also rund vierzig Jahre vor der Premiere des Films im Jahr 2008. Er habe das Gefühl, „dass ‚Benjamin Button’ mir die Idee geklaut hat“, bekennt er somit freimütig im Vorwort. Ob er die gleichnamige Erzählung von F. Scott Fitzgerald, die bereits 1922 erschien und auf der der Film basiert, gelesen hat, verrät er allerdings nicht. Wer hat nun also wen „inspiriert“? Oder öffnet sich hier etwa schon wieder ein neuer Möglichkeitsraum zwischen Fiktion und Wirklichkeit?

Mit der beeindruckenden Erzählung „Der Besuch“ öffnet Almodóvar dann endgültig die Metaebene zwischen seiner Berufung als Schriftsteller und seinem filmischen Werk. Der Text war nicht nur die Grundlage für „La mala educación – Schlechte Erziehung“ (2004), sondern ist im Film sogar nomineller Bestandteil der Handlung: Eine mondäne 25-jährige Prostituierte möchte mit dem Abt eines Salesianer-Ordens, der eine Internatsschule leitet, über ihren Bruder Luis sprechen. Sie berichtet, dass Luis bei einem Autounfall gestorben sei. Der Abt fällt aus allen Wolken, da der Junge vor Jahren sein Lieblingsschüler war, und möchte erfahren, wie es ihm danach ergangen ist. Die Schwester liest ihm daraufhin Texte von Luis vor, der Autor war. Darin wirft dieser den Mönchen der Schule vor, ihn sexuell missbraucht zu haben, als er zehn Jahre alt war. Ertappt und in Rage ersticht der Abt die Besucherin, um anschließend zu merken, dass die à la Marlene Dietrich gekleidete Person Luis selbst war. Tragisch überhöhte Wendungen wie diese nutzt der bekennende Atheist Almodóvar, um die Ignoranz der katholischen Kirche im Umgang mit ihren eigenen Missbrauchsskandalen zu kritisieren.

Wer Almodóvars Filme kennt, zu denen er stets auch die Drehbücher schrieb, wird von seiner literarischen Fabulierlust freilich nicht überrascht sein. Zumal der Werbeslogan des deutschen Verlags – „Almodóvar betritt die literarische Bühne“ – ohnehin irreführend ist. Die literarische Bühne betrat er bereits in den Achtzigern mit „Fuego en las entrañas“ und erneut in den Neunzigern mit einem Band über sein Alter Ego, die extravagante Pornodarstellerin „Patty Diphusa“. À propos: Auch Patty taucht in einem der zwölf Texte wieder auf. In „Bekenntnisse eines Sexsymbols“ versucht sie ihre Memoiren zu schreiben, verzettelt sich dabei jedoch im erbitterten Wettstreit mit ihrer Hauptkonkurrentin und der hochfliegenden Schwärmerei für einen verheirateten Plastik-Magnaten.

Letztendlich bleibt Almodóvar sich in diesem Buch in erster Linie selbst treu, indem er trotz aller Lustigkeit ernste Themen wie Vergewaltigung, Machismo, finstere religiöse Erziehung, Empowerment von Frauen oder die Emanzipation queerer Menschen nicht ausspart.

„Der letzte Traum“ ist somit ein Muss für alle seine Fans, schon weil nicht nur Texte darin auftauchen, die bereits zu Filmen oder Szenen verarbeitet wurden, sondern auch wegen der Ankündigung des Autors: „Andere werden es irgendwann noch.“ Und vielleicht ringt sich der heute 74-Jährige ja eines Tages doch noch zu einer vollständigen Autobiografie durch. Zu begrüßen wäre es – nicht nur als Vermächtnis eines großen Geschichtenerzählers, sondern auch als Zeitdokument der schwulen Geschichte.




Der letzte Traum
von Pedro Almodóvar
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Hardcover,  224 Seiten, € 24
S. Fischer

 

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