Sommersturm (2004)

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Vor 20 Jahren startete „Sommersturm“ in den Kinos. Marco Kreuzpaintners Film über den jungen Ruderer Tobi, der sich in seinen besten Freund verliebt, lockte damals Hunderttausende vor die Leinwände, setzte Maßstäbe für das schwule Repräsentationskino in Deutschland und gilt heute als Coming-out-Klassiker. Zum runden Geburtstag hat sich Fabian Schäfer „Sommersturm“ noch einmal angesehen und findet: Der Film ist im Gegensatz zu anderen deutschen Kassenschlagern mit schwulen Figuren von damals richtig gut gealtert und noch immer sehenswert!

Foto: Claussen+Putz Filmproduktion

The Power of Love

von Fabian Schäfer

Tobi und Achim machen zusammen Sport. An Turnringen stemmen sich die beiden Teenager hoch, ihre Muskeln sind angespannt, sie lachen und albern herum. Die Kamera filmt sie in Zeitlupe, wandert über ihre Körper, verbringt dort mehr Zeit als auf ihren Gesichtern. Dazu läuft „Blonde on Blonde“ von Nada Surf.

Diese Eröffnungssequenz von „Sommersturm“ ist aus vielen Gründen bemerkenswert – und hebt sich deutlich vom Rest des Films ab. Inhaltlich legt sie den Grundstein für die Geschichte: Es geht um die Beziehung der zwei männlichen Hauptfiguren, um ihre Körper, um Stärke, um schwule Anziehung. Auf einer ästhetischen Ebene könnten die Szenen genauso gut aus einer Werbung stammen: Schnell geschnitten und in Slow Motion gedreht, würde man es Robert Stadlober (Tobi) und Kostja Ullmann (Achim) abkaufen, wenn sie Sportschuhe oder ein Deo anpreisen. Es ist ein junger, frischer Stil, der „Sommersturm“ allerdings nur am Anfang prägt. Doch das reicht, um das Publikum voll in den Film zu ziehen.

Danach geht es formal zwar konventioneller weiter, inhaltlich aber ganz und gar nicht: Die zwei jungen Ruderer kommen zu spät zum Training, weil sie wieder mal zusammen Zeit vertrödelt haben. Zur Strafe müssen sie das Vereinsheim putzen. Aber Strafe? Zumindest nicht für Tobi. Der genießt es, Zeit mit seinem besten Freund zu verbringen. Ans Putzen denken die beiden eh nicht. Tobi wirft einen Schwamm auf Achim, der gerade – natürlich oberkörperfrei – Gewichte stemmt. Tobi wringt den Schwamm über Achim aus, eine verdächtig weiße Flüssigkeit tropft auf Achims Körper, es ist allerdings nur Putzmittelschaum. Die beiden Jungs rangeln miteinander, der eine zieht dem anderen die Hose ein Stück herunter. Als Tobi auf Achim kniet, bekommt er eine Latte. Ist doch cool, kommentiert Achim erstaunlich lässig. Dann wichsen sie zusammen, anscheinend nicht zum ersten Mal, wie pubertierende Jungs das eben gerne mal tun. Die Kamera zeigt die Gesichter, die sich anspannenden Beine – alles fast unschuldig, aber auch ziemlich sexy.


Bis zu diesem Moment ist der Film gerade einmal sieben Minuten lang gelaufen. Von Sturm noch keine Spur, von Sommer dafür umso mehr. Selten war im deutschen Kino so viel unverkrampfte und selbstverständliche Homoerotik zu sehen wie in den ersten beiden Sequenzen von „Sommersturm“.

Die Homoerotik wirkt umso stärker, weil sie in starkem Kontrast zum Ort der Handlung steht: Die Freunde sind Mitglieder in einem Ruderclub im oberbayerischen Starnberg. Trainer Hansi spricht ein starkes Bairisch, beim Vereinsjubiläum im holzvertäfelten Sportheim fließt das Bier und bei „The Power of Love“ von Jennifer Rush tanzen die Jungs natürlich mit Mädchen. Doch auch beim Tanz kann Tobi seinen Blick kaum von Achim abwenden.

Die Rudermannschaft macht sich auf den Weg zu einem Wettkampf ins Bergische Land. „Ferienglück“ steht auf dem Reisebus. Doch das Glück ist für die Jungs schnell vorbei, als sie vor Ort im Zeltlager merken, dass ihre Gegner die Queerschläger sind. Das muss doch ein Rechtschreibfehler sein, merkt einer von den Starnbergern an. Nein nein, „queer“, Englisch ausgesprochen, sei nur ein anderes Wort für „schwul“. Eine Mannschaft nur aus Schwulen also? Verdutze Blicke und abweisende Kommentare bei den Oberbayern.

Foto: Claussen+Putz Filmproduktion

Ja, die Homophobie in „Sommersturm“: „Hinterlader“, „Schwulis“, „Homos“ – kaum ein Begriff wird von einigen Oberbayern ausgelassen, um die Queerschläger zu beschreiben und zu beleidigen. Dazu herrscht die „Angst“, die Ruderer vom anderen Team könnten nachts in ihre Zelte stürmen. Die Vorstellung der dauergeilen, triebgesteuerten Schwulen, die keinen Halt vor den unschuldigen – und natürlich „normalen“ – Heteros machen, wird offen formuliert. Heute stoßen sich nicht wenige Filmfans daran: „Der homophobste schwule Film, den ich je gesehen habe“, schreibt etwa ein User auf der sozialen Filmplattform Letterboxd. „Warum ist dieser Film so schwul und doch so homophob?“, ein anderer. Ja, manche Figuren im Film sprechen und verhalten sich homofeindlich. Aber: Selbst im eigenen Team wird ihnen widersprochen.

Unter den Queerschlägern wird demgegenüber unterschiedlich offen mit der eigenen Homosexualität umgegangen. Da ist Malte, der selbstbewusste Draufgänger, der seine Sexualität stolz lebt und gerne „Heten knetet“. Manche im Team verhalten sich feminin und sind klischeehaft schwul gezeichnet. Aber es gibt auch Leo, der zurückhaltend und einfühlsam ist – mit ihm wird Tobi später sein erstes Mal haben. Das Team diskutiert zudem darüber, wie sichtbar sie eigentlich als explizit schwuler Verein sein wollen. Muss ihr Boot unbedingt „La Petite Étoile“ („Der kleine Stern“) heißen? Wäre nicht auch ein weniger offensichtlich queerer Teamname denkbar? Die Schwulen in „Sommersturm“ führen eine communtyinterne Diskussion über die zwei Pole, die die Debatten der Schwulenbewegung bis heute prägen: Subversion vs. Assimilation. Mit dieser durchaus diversen schwulen Repräsentation setzte „Sommersturm“ 2004 Maßstäbe im deutschen Kino. Knapp drei Jahren war es damals erst her gewesen, dass gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland ihre Partnerschaft eintragen lassen konnten.

Foto: Claussen+Putz Filmproduktion

Der Film lockte über 260.000 Zuschauer:innen ins Kino und steht damit auf Platz 20 der erfolgreichsten deutschen Produktionen des Jahres. Das ist vor allem bemerkenswert, weil die Finanzierung des Films auch deshalb so schwierig war, da man dem Thema keine kommerziellen Erfolge zutraute. Ungefähr sechs Wochen vor „Sommersturm“ startete der Film, der der meistbesuchte des Jahres werden sollte, und mit einem Publikum von über neun Millionen Menschen der zweiterfolgreichste deutsche Film bis heute überhaupt ist: die Science-Fiction-Parodie „(T)Raumschiff Surprise – Periode 1“ von Michael „Bully“ Herbig über drei ziemlich tuckige Astronauten. Auf dem ersten Platz dieser Liste: die Western-Parodie „Der Schuh des Manitu“ (2001) desselben Regisseurs, in der ein extrovertiert homosexueller Apachen-Häuptling eine der Hauptfiguren ist.

Was sagt es aus, dass sich die zwei kommerziell erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten genüsslich über Schwule lustig machen? In beiden Bully-Filmen dienen Schwule als klischeeüberlastete Witzfiguren: Es sind Komödien, die über Schwule lachen und in denen die Homosexualität mal um mal als billige Pointe dient. Zwar attestiert der Journalist und Autor Johannes Kram in seinem Buch „Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber…“, in der er „die schrecklich nette Homophobie in der Mitte der Gesellschaft“ analysiert (so auch der Untertitel), Herbigs Filme seien durchaus „fein beobachtet“ und „gekonnt gespielt“ (auch hierüber ließe sich streiten). Doch er stellt fest: „Homophobie bleibt Homophobie, auch wenn sie lustig ist.“ In einem Interview mit dem Zeit-Magazin gab Herbig 2015 an, er würde seine Filme noch genauso drehen wie damals. Ob diese Aussage weiter gilt, ist im nächsten Jahr zu überprüfen, wenn die Fortsetzung „Das Kanu des Manitu“ in die Kinos kommen soll.

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Man könnte sogar so weit gehen und sagen: Es gibt eine genuin deutsche Homophobie im Film und Fernsehen. Die Bully-Filme sind nur ein Beispiel. Johannes Kram schreibt in seinem lesenswerten Buch auch über die Comedians Stefan Raab, Oliver Pocher, Dieter Nuhr. Dass sich die auf Klischees reduzierte Homofeindlichkeit bis ins Gegenwartskino zieht, beweist der Kassenschlager „Das perfekte Geheimnis“ (2019) von „Fack ju Göhte“-Regisseur Bora Dağtekin. Die Komödie ist ein Remake des italienischen Films „Perfetti Sconosciuti“ (2016), der auch in Frankreich, Spanien und Ungarn adaptiert wurde. Im Vergleich dieser Remakes fällt auf, wie homophob der deutsche Film ist: Über die schwule Figur Pepe machen sich unsere Nachbarn viel weniger bis überhaupt nicht lustig; die deutsche Variante bemüht derbe schwule Klischees.

In diesem klischeehaften, queerfeindlichen filmischen Umfeld ragt „Sommersturm“ als kommerziell erfolgreicher Film umso mehr heraus. Für viele Millennials war er die erste Leinwanderfahrung mit einer nuancierten, authentischen schwulen Geschichte. Das zeigt ebenfalls ein Blick in die Letterboxd-Kommentare, wo viele nostalgisch vom Film schwärmen und dessen Bedeutung für die eigene Identitätsfindung beschreiben. Der schwule Coming-of-Age-Klassiker kann als Wegbereiter für zahlreiche ähnliche deutschsprachige Filme gesehen werden – nicht nur inhaltlich, sondern auch aus Fördersicht. Immerhin hat „Sommersturm“ bewiesen, dass queere Stoffe ein großes Publikum finden können. „Freier Fall“ (2013), „Aus der Haut“ (2015) oder „Mario“ (2018) erzählten später ähnliche Coming-out-Geschichten. Die erfolgreiche Jugendbuch-Adaption „Die Mitte der Welt“ (2016) von Regisseur Jakob M. Erwa bedient sich sogar einer ähnlichen Motivsprache.

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Manche Gags in „Sommersturm“ waren schon damals slapstickhaft und platt, nicht alle Dialoge sind on point, der übertriebene sächsische Dialekt wirkt heute eher befremdlich. Vor allem ist der Cast aus heutiger Sicht nicht besonders divers zusammengestellt: Unter den Queerschlägern, die allesamt weiß sind, dominieren die normschönen Körper. Und dass die polnische Darstellerin von Tobis Freundin Anke, Alicja Bachleda-Curuś, synchronisiert wurde, weil sie kein akzentfreies Deutsch sprach, ist aus heutiger Sicht garst ungeheuerlich.

Und doch: „Sommersturm“ hat nicht nur einen riesigen Kultfaktor, er ist bis heute absolut sehenswert. Die Konflikte haben nichts an Aktualität eingebüßt, der Film ist noch immer sexy, Tobis Coming-out von großer Kraft, die Musik des Komponisten Niki Reiser, ergänzt durch Songs wie „Flames“ von VAST oder „Go West“, noch immer mitreißend. „Es gibt diese Filme, da passt einfach alles“, urteilte die Süddeutsche Zeitung damals über „Sommersturm“. Mit kleinen Abstrichen gilt das bis heute!




Sommersturm
von Marco Kreuzpaintner
DE 2004, 98 Minuten, FSK 12,
deutsche OF

Als DVD und VoD