Jacob Israël de Haan: Pathologien
Buch
Der Niederländer Jacob Israël de Haan (1881–1924) war einer der großen Freidenker seiner Zeit. 1904 sorgte er in seiner Heimat mit der homoerotischen Novelle „Pijpelintjes“ für einen Skandal, 1908 legte er mit der schwulen SM-Erzählung „Pathologieën“ noch eins drauf, 1919 wanderte er als überzeugter Zionist nach Palästina aus, wo er wiederum zum scharfen Kritiker des Zionismus wurde, was zu seiner Ermordung durch die Untergrundorganisation Hagana führte. Am 30. Juni 2024 jährt sich dieser laut dem Autorenduo Nakdimon/Nayzlish „erste politische Mord in Palästina“ zum hundertsten Mal. Derweil wird de Haans literarisches Werk auch außerhalb der Niederlande neu entdeckt. So ist mit „Pathologien – Der Untergang des Johan van Vere de With“ erstmals ein Roman de Haans in deutscher Übersetzung erschienen. Axel Schock hat das düstere Gleichnis über das Ringen eines frühen schwulen Selbstbewusstseins mit „Schande und emotionaler Abhängigkeit“ gelesen.
Der Schuft
von Axel Schock
Das nimmt kein gutes Ende. Daran lässt bereits der Untertitel von „Pathologien“ keinen Zweifel: „Der Untergang des Johan van Vere de With“. Und tatsächlich wird dem Gymnasiasten aus bestem Hause – der Adelstitel spricht für sich – die Liebe zum Verhängnis.
Schon im Alter von 14 Jahren deutet sich an, was der recht sachlich berichtende auktoriale Erzähler als „Neigung“ und „Veranlagung“ bezeichnet. Johan, der nach dem Freitod seiner offenbar an Depressionen erkrankten Mutter mit seinem Vater und einer Haushälterin aufwächst, fühlt sich „auf seltsame und heftige Weise“ zu „zarten und gut gekleideten Mitschülern“ hingezogen und verübt im Traum „unsittliche Handlungen an ihnen“. Am nächsten Morgen fühlt er sich dann „besudelt“, dennoch spitzen sich die erotischen Träume zu. Objekt der Begierde wird nun der eigene Vater. Letztlich wird diese verstörende Anziehung so übermächtig, dass der frühreife, der Kunst und Literatur zugewandte Johan keinen anderen Ausweg sieht, als das Elternhaus zu verlassen. Er zieht zu einem älteren Ehepaar nach Haarlem. Dort lebt auch der Maler René Richell. Der ist zehn Jahre älter als Johan und ein dekadenter Charakter, der mit Ausschweifungen prahlt und seine eigene Bosheit und Verwerflichkeit zelebriert. Dennoch verfällt Johan ihm. Mehr noch: Er entwickelt eine psychische, von physischer und sexueller Gewalt geprägte Abhängigkeit zu René.
Wie sich die heimliche Liaison von einer romantischen und wahrhaftigen Teenagerliebe zu einem Psycho-Höllenritt wandelt, ist nicht nur verstörend, sondern auch erstaunlich. Denn veröffentlicht hat Jacob Israël de Haan diesen Roman in den Niederlanden bereits 1908. Da sollte es in Deutschland noch vier Jahre dauern, bis Gustav von Aschenbach in Thomas Manns „Tod in Venedig“ für seine keusche Verliebtheit zu Tadzio mit Krankheit und Tod gestraft wurde. Und selbst in John Henry Mackays vergleichsweise progressivem Roman „Der Puppenjunge“ von 1926 bleibt die „namenlose Liebe“ in der Halb- und Unterwelt verortet, aber keineswegs in gehobeneren bürgerlichen Kreisen. Dass „die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt“, trotz gesellschaftlicher Diffamierung und Kriminalisierung als selbstverständlicher Teil der eigenen Persönlichkeit akzeptiert worden wäre, kam in der Romanliteratur jener Zeit ohnehin selten vor. Johan hingegen schafft diesen Schritt bereits in jungen Jahren mithilfe von Fachliteratur, die er in der Bibliothek des Vaters gefunden hat: „Er hatte in letzter Zeit auch Schriften gelesen, in denen der Art von Gefühlen, wie er sie offenbar verspürte, eine grundlegende Daseinsberechtigung zugestanden wurde. Johan liebte sich selbst zu sehr, um zu akzeptieren, dass er unwürdige oder verwerfliche Gefühle haben könnte.“
Eine solche, zudem so sachliche Formulierung einer emanzipierten Selbstsicht, war Anfang des 20. Jahrhunderts geradezu revolutionär. Gegenüber seinem Vater wagt Johan seine Empfindungen zwar nur schriftlich zu äußern, stellt dabei aber fest: „Ich bin der Ansicht, dass meine Gefühle allein schon deshalb ein Existenzrecht haben, weil sie existieren.“ Der Vater hingegen reagiert mit Unverständnis, ja sogar mit Abscheu: „Die Schriften, die du gelesen hast, kenne ich natürlich auch. Daher weiß ich, dass einige angesehene Autoren der Art von Liebe, wie Du sie empfindest, ein Existenzrecht einräumen. Doch ich nicht. Ich verachte diese Neigungen zutiefst.“
Welche Texte Johan da in der väterlichen Bibliothek gefunden hat, verrät Jacob Israël de Haan nicht, aber der Gedanke an Oscar Wilde, die Schriften von Magnus Hirschfeld, Richard von Krafft-Ebing oder Edward Carpenter liegt nahe. Die Werke dieser Autoren waren zur Entstehungszeit des Romans zumindest in Teilen auch in niederländischer Übersetzung erschienen, das verrät ein Nachwort des niederländischen Soziologen Gert Hekma.
Doch de Haan forderte die Leserschaft noch weitgehender heraus. Nicht nur ließ er seinen Protagonisten Johan die Empfindungen für das gleiche Geschlecht selbstbewusst als moralisch, sittlich und menschlich legitim deklarieren, er entwarf mit der Figur des René auch einen Gegenpart, der gnadenlos die Brutalität der damaligen Vorurteile entlarvte, indem er sie instrumentalisierte. So basiert die sadomasochistische Beziehung zwischen Johan und dem Maler keineswegs auf Augenhöhe und gegenseitigem Einverständnis. Vielmehr droht René dem Jüngeren immer wieder mit einem „Leben in Schande und emotionaler Abhängigkeit“. Wenn Johan den Geliebten dann als „Schuft“ beschimpft, nimmt dieser es als Ehrentitel: „Ja, ich bin ein Schuft, und das ist ganz wunderbar, denn Schufte wie ich erleben Sinnesfreuden, von denen vorsichtige Menschen wie du keinen Schimmer haben.“
Sind homosexuelle Verhältnisse und Neigungen also doch abnorm und eine Krankheit wie der Romantitel „Pathologien“ evoziert? De Haan lässt lange in der Schwebe, was da zwischen Johan und René eigentlich vorgeht. Zwar wird deutlich, dass Johan sich geschändet und besudelt fühlt, doch was genau passiert ist, bleibt lange unklar. Geht es um Sexualpraktiken, die Johan ablehnt? Wurde er gar vergewaltigt? Selbst wenn Johan bereits „wilde, wütende Perversionen“ über sich ergehen lässt, bleibt deren genaue Gestalt der Phantasie der Lesenden überlassen. Erst im letzten Drittel des Romans – die unheilvolle Liaison ist mittlerweile vollständig außer Kontrolle geraten und der titelgebende Untergang unabwendbar geworden – wird de Haan deutlicher, und wir erfahren, dass René den Jüngeren unter anderem mit einer Peitsche züchtigt: „Von rasenden Schmerzen gelähmt blieb Johan liegen. Sein Gesicht und eine Hand waren von blutenden Striemen übersät. Seine Füße, deren alte Verletzungen gerade erst verheilt waren, waren wieder offen und blutig.“
„Pathologien“ ist der zweite Roman des jüdischen Dichters, Journalisten und Rechtsgelehrten Jacob Israël de Haan. In der homosexuellen Literaturgeschichte der Niederlande nimmt der 1881 in der Gemeinde Smilde geborene Autor eine wichtige Stellung ein; sein Erstling „Pijpelijntjes“ gilt als schwuler Klassiker, sein dichterisches Werk ist unter anderem im Amsterdamer Homomonument verewigt.
Aufgewachsen in einer streng jüdischen Familie – der Vater war Kantor in einer Synagoge und ritueller Schlachter –, entledigte sich Jacob Israël de Haan in der Jugend seiner religiösen Prägung und verstand sich eine Zeitlang als Atheist. Ab 1910 fand er jedoch zum Glauben zurück, schloss sich der zionistischen Bewegung an und wanderte 1919 nach Palästina aus. In Jerusalem suchte er nicht nur in erotischer Hinsicht den Kontakt zur arabischen Bevölkerung, wie wir in Hekmas Nachwort erfahren. Zudem schloss er sich der orthodoxen Organisation Agudath an, die sich gegen zionistischen Nationalismus und für ein friedliches Zusammenleben mit der arabischen Bevölkerung aussprach. Als Journalist brachte de Haan diese kritische Haltung auch in europäischen Medien zum Ausdruck, was, so Hekma, auch „die politischen Debatten in der Hauptstadt des kolonialen Palästinas“ beeinflusste. Für die säkulare zionistische Führung wurde de Haan damit zum politischen Gegner. Am 30. Juni 1924 wurde er auf Befehl von Jizchak Ben Zwi, dem späteren Präsidenten Israels, durch die paramilitärische Untergrundorganisation Hagana ermordet, weshalb er in ultraorthodoxen Kreisen bis heute als Märtyrer gilt.
Die politische Dimension dieser letzten Lebensphase nimmt im Nachwort aber nur wenig Raum ein. Hekmas Essay ordnet vor allem de Haans Romane und Lyrik (zu jüdisch-religiösen wie auch päderastischen Themen) in den sexualwissenschaftlichen Kontext jener Zeit ein. Dabei geht es auch um die Erzählung „Die Erlebnisse des Hélénus Marie Golescos“, die für die deutsche Ausgabe von „Pathologien“ ebenfalls übersetzt und ihr angefügt wurde. Im Gegensatz zum nüchternen Tonfall des Romans kommt dieser Text als irritierend transzendentes Gleichnis daher, in dem sich Jesus, Satan und die titelgebende Hauptfigur in eine Art Faustischen Pakt verstricken, bei dem es um – Spoiler-Alarm – schwulen Sex und eine (als lustvoll empfundene) Vergewaltigung geht. Es überrascht wenig, dass diese Erzählung erst 1976 posthum veröffentlicht wurde.
Dass Teile von de Haans Schaffen dank dieses Bandes nun erstmals auf Deutsch vorliegen, ist Wolfram Setz zu verdanken. Die Übersetzung von „Pathologien“ war eine der letzten Errungenschaften, die der im letzten Jahr verstorbene Herausgeber der Bibliothek rosa Winkel vor seinem Tod initiierte. Eine deutsche Fassung der „Kwatrijnen“ („Vierzeiler“, die de Haan seinen Liebhabern widmete) soll folgen. Eine gleichermaßen verdienstvolle wie bemerkenswerte Wiederentdeckung eines historischen Vordenkers, die sich stimmig ins namhafte Œuvre der über achtzig Bände umfassenden Bibliothek rosa Winkel einfügt, das von Lukian über Oscar Wilde bis zu Herman Bang, Hans Siemsen und Felix Rexhausen reicht.
Pathologien. Der Untergang des Johan van Vere de With
von Jacob Israël de Haan
aus dem Niederländischen von Olaf Knechten
360 Seiten, € 28
Männerschwarm Verlag