Tom Crewe: Das Neue Leben

Buch

Ihre Namen sind hierzulande bestenfalls noch Sexualhistoriker:innen bekannt, in England hingegen gelten John Addington Symonds und Henry Havelock Ellis als Urväter der Homosexuellen-Emanzipation. Der britische Schriftsteller und Historiker Tom Crewe hat Symonds und Ellis zu Helden seines Debütromans „Das Neue Leben“ gemacht und dafür im vergangenen Jahr den Orwell Prize for Political Fiction erhalten. Zu Recht, findet unser Autor Axel Schock. Er schreibt über einen Roman, der packend und einfühlsam von zwei Männern erzählt, die im viktorianischen England ihr gleichgeschlechtliches Begehren nicht länger unterdrücken, sondern ausleben und von moralischen Makeln befreien möchten.

Wir müssen nur mutig sein

von Axel Schock

Es ist eine vor erotischer Spannung geradezu berstende Situation, in der sich, wagemutig und leichtsinnig gleichermaßen, Lust und Begehren Bahn brechen. Denn John und dieser unbekannte Mann neben ihm sind keineswegs allein. Der Zug ist überfüllt, die Menschen stehen dicht gedrängt. Jedes Ruckeln des U-Bahn-Waggons führt unweigerlich zu engem Körperkontakt mit den Mitreisenden. „Noch ein kleiner Stoß und sein Mund landete auf dem Nacken des Mannes“. Schon fühlt John „die Härchen an den Lippen“, schmeckt „Pomade und Rasierwasser“. Längst geschehen diese Berührungen nicht mehr zufällig, verursacht durch das Schaukeln des Zuges. Der Nebenmann presst sich vielmehr ganz gezielt an John, bis sich die beiden „in einem langsamen, erdrückenden Tanz“ simultan bewegen. „Und dann kam die Hand des Mannes, eine Hand, die ihn aufknöpfte, durch den offenen Schlitz drang etwas Luft, sein steifer Schwanz drängte sich dazwischen, füllte ihn aus. Panik, schreckliche Erregung.“

Über vier Buchseiten hinweg entfaltet sich diese Eingangsszene von „Das Neue Leben“. Eine Szene, in der die sexuelle Atmosphäre sich geradezu greifen lässt und John sich wie machtlos diesem Fremden, aber auch den eigenen Begierden ausliefert: „Es war, als würde Blut aus einer gerissenen Ader gepumpt, einer tiefen Wunde.“ Doch dann schreckt John aus dem Schlaf hoch. Der im besten Sinne schamlose, von den Umstehenden unbemerkte sexuelle Akt war nichts weiter als eine nächtliche Fantasie. Nicht einmal zu onanieren traut er sich, aus Angst, seine neben ihm liegende Ehefrau zu wecken.

Tom Crewe – Bild: Jon-Tonks

Um unerfülltes homosexuelles Begehren, erotische Tagträume und Sehnsüchte geht es immer wieder in diesem Erstlingsroman. Unerfüllt bleiben sie, weil jegliche homosexuellen Handlungen, selbst der Verdacht homosexuell zu empfinden, zu einer harten Strafverfolgung oder zu sozialer Ächtung führen können. Tom Crewe, promovierter Historiker und Redakteur der „London Review of Books“, führt in „Das Neue Leben“ ins England des 19. Jahrhunderts. Jener John Addington Symonds, der im ersten Kapitel an seinen unerfüllten sexuellen Wünschen leidet, ist eine historisch verbürgte Person, die sich zu Lebzeiten einen respektablen Ruf als Kunsthistoriker und Literaturkritiker erarbeitete hatte. Heute aber ist er vielmehr als einer der wichtigsten Vorkämpfer Englands für die Rechte Homosexueller in Erinnerung.

In Crewes Roman ist John Symonds an einem Punkt in seinem Leben angekommen, an dem er sich nicht mehr verstellen und verleugnen will. Vielmehr möchte er sich dafür einsetzen, dass seine Form des Liebens akzeptiert und nicht mehr kriminalisiert wird. Einen anderen Mann tatsächlich zu spüren, sich ihm körperlich zu nähern, Sex mit ihm zu haben, ist für John ein steter, aber kaum erfüllbarer Wunsch. Er muss sich damit begnügen, im Park verstohlen den Männern zuzuschauen, die dort nackt im Fluss schwimmen gehen. Einer von ihnen aber weiß Johns Blicke zu deuten und spricht ihn unverhohlen an. Diese Begegnung wird zum Wendepunkt. John macht Frank zu seinem Geliebten, der fortan sogar offiziell als persönlicher „Sekretär“ in seinem Haus lebt. John schleicht sich jede Nacht aus dem ehelichen Schlafzimmer in Franks Zimmer, um am Morgen, bevor die Bediensteten aufwachen, wieder dorthin zurückzukehren. Seine Frau erduldet, oder besser: erleidet die Ménage-à-trois stoisch und schweigend. Sie rebelliert erst, als die Verbindung öffentlich und damit zum Skandal wird.

In dieser aufwühlenden, ekstatischen, aber auch schuldbeladenen Phase seines Lebens stößt Symonds auf einen Artikel eines gewissen Henry Havelock Ellis und erkennt in dem jungen Arzt einen Geistesverwandten. Beide sind sie fasziniert von dem in ihren Augen fortschrittlichen Umgang mit dem gleichgeschlechtlichen Eros bei den alten Griechen und von Walt Whitman, dem US-amerikanischen Propheten der mann-männlichen Liebe. Ellis und Symonds wollen ihren Teil zu einem besseren Verständnis dieser Liebe beitragen und beschließen ein Gemeinschaftswerk: ein Buch, in dem nicht nur wissenschaftliche und medizinische Aspekte diskutiert werden, sondern auch Lebensberichte „invertierter“ Männer enthalten sein sollen, die sie mittels Interviews und Fragebögen zusammentragen. „Wir können so viel Gutes bewirken“, ermuntert Symonds seinen Mitstreiter. „Wir müssen nur mutig sein.“

Das Projekt ist revolutionär – und gefährlich, für alle Beteiligten. Das ist auch der Grund, weshalb Ellis und Symonds sich nie persönlich kennenlernen, sondern ihre Kollaboration ausschließlich auf dem Schriftweg stattfindet. Tom Crewe macht die Entstehung des Buches über eingestreute Briefe nachvollziehbar. Doch dass „Sexuelle Inversion“ 1895 tatsächlich erscheint, ist nur ein Katalysator für die weiteren Entwicklungen. Im Zentrum stehen die sich verändernden Lebens- und Beziehungskonzepte der beiden Autoren.

Der wohlhabende John Symonds, mit gewissen Mühen Vater dreier Töchter geworden, findet im fortgeschrittenen Alter den Mut, im Rahmen der Möglichkeiten endlich sein homosexuelles Begehren auszuleben – wenn auch auf Kosten von Frau und Familie. Bei dem weitaus jüngeren Ellis, dessen Interesse an Sexualität vorrangig wissenschaftlicher Natur ist, sind die homoerotischen Bedürfnisse wesentlich verhaltener. Er sieht sich vor allem als Teil einer Bewegung, die neue, fortschrittliche Formen des Zusammenlebens ausprobieren und neue Gesellschaftsmodelle entwickeln möchte, Lebenskonzepte, in denen Klassenunterschiede aufgehoben und Frauen gleichberechtigt sind. So ist Henry Ellis zwar mit der jungen Schriftstellerin Edith verheiratet, aber sie leben in getrennten Wohnungen. Ihre Beziehung ist vor allem freundschaftlicher Natur, geprägt von intellektueller Augenhöhe. Die Sache mit dem Sex haben sie zwar miteinander ausprobiert, aber für gescheitert erklärt. Ihre körperlichen Bedürfnisse erfüllt Edith mit einer anderen Frau.

Tom Crewe hat in Cambridge in Britischer Geschichte des 19. Jahrhunderts promoviert, ist also mit dem Viktorianischen Zeitalter bestens vertraut. Doch das „Das Neue Leben“ ist kein historisches, sondern ein literarisches Werk. Der 1989 geborene Crewe hat sich jede Menge schriftstellerische Freiheit genommen, denn vom Privatleben seiner zentralen Figuren ist wenig bekannt. Aber auch bei den überlieferten Begebenheiten hat er sich der Dramaturgie wegen eine alternative Geschichtsschreibung erlaubt. „Um Wahrheiten auszusprechen“, erklärt er in seinem Nachwort, „sind wir nicht allein auf Fakten angewiesen.“ Diese künstlerische Autonomie nutzt Crewe zum einen, um ein unterhaltsames Gesellschaftspanorama Londons am Ende des 19. Jahrhunderts und der gesellschaftlichen Debatten jener Zeit zu zeichnen, sie ermöglicht ihm aber auch, tiefergehend die zermürbenden Kämpfe derer zu schildern, die sich damals um Gleichberechtigung und Selbstakzeptanz bemühten. Dabei verliert er auch jene Menschen nicht aus dem Blick, die durch die Kämpfe unweigerlich zutiefst verletzt und ins Rampenlicht gezerrt wurden: die Ehefrauen und Kinder.

All das erzählt Crewe in einer stilvollen, präzisen, eleganten und alles andere als historisierend klingenden Sprache, die von Frank Heibert kongenial ins Deutsche übersetzt wurde. Es ist eine Prosa, die nicht von ungefähr an Crewes Autorenkollegen Alan Hollinghurst erinnert. Wie er, der Großmeister der zeitgenössischen schwulen Literatur Großbritanniens, arbeitet auch Crewe sehr detailliert die Nuancen des englischen Klassenbewusstseins heraus. Dessen Grenzen zu überwinden, gelingt homosexuellen Paaren offenbar einfacher als der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft.

Wenn John Symonds dann endlich „Sexuelle Inversion“ gedruckt in Händen hält, könnte dies der finale Triumph einer Emanzipationsgeschichte sein. Doch das bahnbrechende Werk wird erst weitgehend ignoriert und dann verspätet zum Skandal. Denn es erscheint zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt: dem Beginn des Prozesses gegen Oscar Wilde. Alles, was sich Ellis und Symonds durch ihre Publikation erhofft hatten, wird durch den Skandal um den Dichterdandy nichtig.

„Dass er darüber lügt, was er mit diesen Jungen gemacht hat, das verstehe ich, auch wenn er diesen Prozess nur seiner eigenen Dummheit zu verdanken hat“, legt Crewe seinem Protagonisten Symonds in den Mund. Doch dessen Ansicht nach hat Wilde mit seiner Verteidigung vor Gericht alles, „was sich um Würde und Vernunft bemüht“ derb und geschmacklos „durch die Gosse gezogen“ – die alten Griechen, Shakespeare, Michelangelo und ­ „Zuneigung in ihrer puren, perfekten Form“ sollen einen Mann rechtfertigen, „der einen Jungen erst mit Champagner betrunken macht und dann mit Geld in sein Bett lockt, einen Mann, der Erpresser bezahlt wie andere ihren Lebensmittelhändler“.

Doch Johns Empörung ändert nichts daran, dass auch „Sexuelle Inversion“ ins Visier der Sittenhüter gerät. Ein Buchhändler, der ein Exemplar verkauft, wird wegen der Verbreitung pornografischer Schriften angeklagt, das wissenschaftliche Werk als Schmutz und gesellschaftsschädigender Schund abgestempelt. Auch Symonds Frau, der er das Thema des Buches verschwiegen hat, ist von der Lektüre angewidert: „Es war, als müsse ich eine Tüte voll Ruß einatmen. Ich bin davon beschmutzt.“

Wie Karl Heinrich Ulrichs, Edward Carpenter, Magnus Hirschfeld und andere Vorkämpfer der Homosexuellenemanzipation haben auch Henry Havelock Ellis und John Addington Symonds nicht mehr selbst jene Freiheiten erleben können, für die sie sich mit ihren Schriften einsetzten. „Das Neue Leben“ veranschaulicht eindrücklich, wie revolutionär allein der Gedanke der legitimen gleichgeschlechtlichen Liebe war und wie letztlich aussichtslos es zu jenen Zeiten war, gegen die prüden und starren gesellschaftlichen Verhältnisse anzugehen. Dem Schriftsteller Tom Crewe gelingt es, dies anschaulich, psychologisch komplex und streckenweise so spannend erzählen, wie es dem Historiker Tom Crewe wohl nur schwer möglich gewesen wäre.




Das neue Leben
vonTom Crewe
aus dem Englischen von Frank Heibert

Fester Einband mit Schutzumschlag,
445 Seiten, € 26,
Insel Verlag

 

↑ nach oben