Laura Lichtblau: Sund

Buch

Unheimlich und verheißungsvoll zugleich klingen die Gesänge, die in den dunklen Nächten an der dänischen Küste zur Protagonistin von Laura Lichtblaus neuem Roman „Sund“ herüberschwappen. Statt weiter auf ihre Geliebte zu warten, folgt die junge Frau den Stimmen auf eine Insel namens Lykke. Dort erwartet sie nicht nur eine im doppelten Sinne fantastische Begegnung mit Mensch und Natur, sondern auch eine Konfrontation mit ihrem queeren Selbst. Anja Kümmel hat den neuen Roman von Laura Lichtblau gelesen und eine Erzählung gefunden, die nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Leerstellen und Brüche überzeugt.

Insellogik

von Anja Kümmel

Ein Zitat des karibisch-französischen Philosophen Édouard Glissant hat Laura Lichtblau dem ersten Kapitel von „Sund“ vorangestellt: „To say self is to say landscapes, because landscapes are not backdrops.“ Diese Zeilen sind dem Band „Archipelago“ entnommen, der Gesprächsprotokolle wie Inseln anordnet, auf denen sich jeweils eine Idee entfaltet. Ähnlich funktioniert auch „Sund“. Einige Passagen der in fünf Kapitel aufgeteilten Erzählung bestehen nur aus einem oder zwei Sätzen, sodass der Text mehr wie ein Archipel aus Gedanken anmutet, denn wie ein Roman. Es gibt ein „Ich“ darin und manchmal auch ein „Du“, aber das „Du“ zeichnet sich durch Abwesenheit aus. Das „Ich“ bleibt derweil über weite Strecken schwebend und vage. Die eigentliche Protagonistin ist die Landschaft.

Am Anfang wartet die namenlose Ich-Erzählerin an einem dänischen Sund auf ihre Geliebte. Über die erfahren wir nicht viel mehr, als dass sie Küstengeologin und irgendwo auf einem Wohnschiff unterwegs ist, um Kreidefelsen zu untersuchen. Sie ist dennoch sehr präsent, gerade so, als würde die Fantasie von ihr das Ich und dessen Umgebung erst ins Leben rufen. „Du siehst mich nicht. Aber ich stelle es mir vor. Ich kann mir alles vorstellen“, schreibt die Erzählerin. Zum Beispiel: „Dass du über der Landschaft liegst wie ein Film …“

Lichtblaus Landschaft ist nicht passiv, im Gegenteil. Sie hat – um es mit einem Begriff des New Materialism auszudrücken – „Agency“, also Handlungsmacht. Erst liegt der Sund nur da wie „ein gleichgültiges, gleißendes Band“, dann wieder wirkt es, „als nähme der Sund nur einen Bissen vom Land“. Das englische Wort für „Sund“ ist „strait“. So sinniert die Erzählerin darüber, dass „strait“ nicht nur eine Meerenge bezeichnen kann, sondern auch „a position of difficulty, perplexity, distress or need“. Dieser symbolisch aufgeladene Bedeutungsraum ist es, der sie beständig vom eigentlichen Grund ihres Hierseins ablenkt: der Recherche über die NS-Vergangenheit ihres Urgroßvaters.

Laura Lichtblau – Foto: Max Zerrahn

Während diesseits der Küste die Sehnsucht nach der ausbleibenden Geliebten die Gedanken der Erzählerin bannt, übt jenseits bereits eine neue Kraft wachsende Anziehung auf sie aus: die geheimnisvolle Insel Lykke. „Lykke“ ist ein weiblicher Vorname, der im Dänischen „Glück“ bedeutet und sich wie das deutsche Wort „Lücke“ ausspricht, welches im Fortgang der Geschichte eine zentrale Rolle spielen wird.

Mit ihren sirenenhaften Gesängen lockt Lykke die Erzählerin zu sich. Nach der Fährfahrt auf die andere Seite wird es „ganz fantastisch“ – wieder im doppelten Wortsinn. Auf der Insel gibt es einen Riech- und Tastgarten, „überall nasse Schafe“, „Pilze groß wie im Trickfilm“ und eine eingeschworene Gemeinschaft, die ein Ferienheim betreibt, Gemüse anbaut, Bier und Honig an Tourist:innen verkauft und merkwürdig archaische Rituale vollführt. Doch hinter der idyllischen Fassade lauern auch mysteriöses Schweigen und Feindseligkeit. Geister tauchen auf. Tote Robben stören das Postkartenpanorama ebenso wie „die Bunker, die der Landschaft schwer im Magen liegen. Sie sind von grünem Flaum bewachsen, schlafende Tiere, die Magen blähen sich gegen den Schmerz.“

Nicht nur an derlei poetischen Verdichtungen merkt man, dass Laura Lichtblau, Jahrgang 1985, auch Lyrikerin ist. Virtuos jongliert sie mit Worten, macht Ausflüge ins Dänische und Englische, lotet Mehrdeutigkeiten aus oder lässt sich von bestimmten Sounds in neue Assoziationsräume tragen. So entsteht eine schwebende Balance zwischen traumartiger Fiktion und historischen Fakten. Das dritte Kapitel mutet allerdings wie ein harter Bruch an. Hier kehrt die Erzählerin zur Recherche über ihren Urgroßvater zurück. Plötzlich werden Akten gewälzt und medizinische Abhandlungen konsultiert, historische Quellen und die penibel-pseudowissenschaftliche Sprache eugenischer Propaganda zitiert. Ein Blick zu Wikipedia verrät, dass es den Urgroßvater, ein Orthopäde mit zweifelhaften Allianzen zur Zeit des „Dritten Reiches“, tatsächlich gab. Fast drängt es sich auf, darüber zu spekulieren, wieviel eigene Familiengeschichte die Autorin hier verarbeitet hat. Zumal auch die Erzählerin bei einem Besuch im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde mit der Frage konfrontiert wird: „Familiengeschichte oder Fiktion?“

Wie so oft in diesem Buch folgt auch hier eine Leerzeile. Das ist Lichtblaus elegante Art zu sagen: Biographien sind immer konstruiert. Sie bilden nie eins zu eins die Wahrheit ab, egal wie akribisch man recherchiert. Statt einen Bruch mit der poetisch flirrenden Rahmenerzählung darzustellen, ist der essayistische Mittelteil ihr Herzstück. Von Anfang an ist dem Aufenthalt auf der „fantastischen“ Insel das Unbehagen der Erzählerin an der verdrängten und zugleich immer wieder heraufdrängenden Vergangenheit eingeschrieben. Bei aller Subtilität fallen bei genauerem Hinschauen mehr und mehr Verknüpfungen und Kontinuitäten auf: ein 1911 gegründetes Lager, in dem Zwangssterilisierungen kleinkrimineller und homosexueller Männer stattfanden; die rassenhygienischen Ideologien vieler Mediziner der zwanziger und dreißiger Jahre; die aus alledem mit grausamer und zugleich erschreckend folgerichtiger Logik resultierenden „Euthanasie“-Morde des NS-Regimes.

Nicht nur stellt die Erzählerin sich, der Leserschaft und implizit auch ihrem Urgroßvater die bange Frage, ob sie als queere Person damals selbst sterilisiert worden wäre, sie verweist auch immer wieder auf die Kontinuitäten faschistischer Ideologien bis in die heutige Zeit. Damit knüpft Lichtblau in gewisser Weise an ihren dystopischen Debütroman „Schwarzpulver“ an, ein Near-Future-Szenario, in dem eine rechtspopulistische Partei in Deutschland das Ruder übernommen hat. Da werden queere Menschen und kinderlose Frauen drangsaliert und ein „Ministerium für Volksgesundheit“ erfasst alle, die von der Heteronorm abweichen, später auch psychisch Kranke. Die Parallelen zur Biopolitik der Nationalsozialisten sind offensichtlich, der deutliche Anklang einer Warnung vor aktuellen Tendenzen ebenfalls. Ähnliche Töne schlägt Lichtblau auch in „Sund“ an, wenn sie auf die Parallelen zwischen hundert Jahre alter Rassenhygiene-Propaganda und aktuellen AfD-Slogans verweist. Doch wo „Schwarzpulver“ eine stellenweise recht erwartbare Message transportierte und es sich am Ende etwas zu einfach machte, stellt „Sund“ gekonnt eine Balance zwischen harten Fakten und traumlogischen Assoziationen her. Die Erzählung verdankt ihre Kraft gerade ihren Ambivalenzen, die umso mehr verstören, weil sie weder die eigene noch die Positionierung der Erzählerin eindeutig festschreiben. So wird die Faszination für die naturverbundene, achtsame und familiäre Inselgemeinschaft ebenso nachvollziehbar wie die Bereitschaft der Protagonistin, deren starre Regeln, seltsame Riten und essentialistische Geschlechterbilder auszublenden, um sich weiterhin als Teil der Gruppe fühlen zu können. Bis zum Schluss muss sie – müssen wir – die Frage nach dem eigenen Mitlaufen, Wegschauen, Profitieren immer wieder neu stellen.

„Manchmal laufe ich lang durch die Landschaft“, heißt es gegen Ende. „Beinahe erwarte ich, dass sie auf etwas hinausläuft, wie eine Geschichte.“ Landschaften folgen aber keinem Plot, sie haben keine Auflösung, keine Katharsis, kein Happy End. Ebenso wenig wie Biographien. Von daher ist es nur konsequent, dass sich „Sund“ einer klassischen Romandramaturgie widersetzt. Lichtblaus großes Verdienst besteht darin, dass ihr Text dennoch nie chaotisch oder willkürlich erscheint. Ihre literarischen Miniaturen sind wie Trittsteine in einem japanischen Garten. Sie bilden gewundene Wege, die nicht schnurstracks von A nach B führen, sondern – wie Inseln – zum Meditieren und Verweilen einladen. Oft sind sie uneben oder rutschig, sodass das Gehen hohe Konzentration erfordert und jeder Schritt bewusst gesetzt werden muss, und manchmal gilt es, einen großen Schritt zu wagen, um von einem zum nächsten zu gelangen. „Das Zentrum, die Lykke, bleibt eine Ahnung.“




Sund
von Laura Lichtblau
Hardcover,  130 Seiten, € 22,
C. H. Beck München

 

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