Anja Kümmel (Autorin)

Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Ein Titel wie ein Funkenregen, eine Story wie ein Trip ins All und eine Sprache, die permanent ihre eigenen Grenzen sprengt. Mit diesen Zutaten geht der neue Roman von Isabel Waidner an den Start. Die poetischen Kapriolen aus Waidners  preisgekrönten Debüt „Geile Deko“ werden in „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ aufs nächste Level getrieben. Der Roman verbindet die Geschichte einer Gruppe Londoner Queers mit einem literarischen „Stierkampf“ im polnischen Gendering. Anja Kümmel hat sich von der kreativen Wucht des kaleidoskopischen Texts beglücken lassen – und gendert in ihrer Besprechung selbst polnisch.
Sister My Sister (1994)

Sister My Sister (1994)

Frankreich 1933. Christine und ihre jüngere Schwester Lea arbeiten als Dienerinnen bei der herrischen Madame Danzard und ihrer Tochter Isabelle. Die Schwestern erledigen wortlos alle Aufgaben und ertragen jede Demütigung, weil sie sich auf diese Weise nah sein können. Nachts wird ihre Beziehung in der Zurückgezogenheit ihrer Dachkammer derweil immer körperlicher, ja rauschhafter. Doch dann bemerkt Madame Danzard erste Nachlässigkeiten im Haushalt. Nancy Mecklers Film beruht auf dem berüchtigten Kriminalfall um Christine und Léa Papin, der sich 1933 in Le Mans zugetragen hat und bereits Jean Genet zu seinem Theaterstück „Die Zofen“ inspirierte. „Sister My Sister“ ist zugleich messerscharfe soziale Klassenstudie und berührende Geschichte einer verbotenen Liebe. Anja Kümmel über ein vielschichtiges und aufregendes filmisches Wagnis.
Gesang der Meerjungfrauen (1987)

Gesang der Meerjungfrauen (1987)

Bei seiner Premiere in Cannes im Jahr 1987 wurde „Gesang der Meerjungfrauen“ als Entdeckung gefeiert. Heute gilt Patricia Rozemas bittersüße Komödie als einer der zentralen kanadischen Filme der 1980er Jahre – und als Klassiker des lesbischen Kinos. Die skurrile und höchst liebenswürdige Hauptfigur Polly träumt sich in Toronto durch die Tage und verliebt sich auf ganze eigene Weise in ihre neue Chefin, die Galeriebesitzerin und Kuratorin Gabrielle. Anja Kümmel ist vor allem von der modernen Selbstverständlichkeit beeindruckt, mit der lesbische Liebe und queere Lebensentwürfe in den Plot eingeflochten werden und die Identitätsfrage gar nicht erst gestellt wird.
Laura Lichtblau: Sund

Laura Lichtblau: Sund

Unheimlich und verheißungsvoll zugleich klingen die Gesänge, die in den dunklen Nächten an der dänischen Küste zur Protagonistin von Laura Lichtblaus neuem Roman „Sund“ herüberschwappen. Statt weiter auf ihre Geliebte zu warten, folgt die junge Frau den Stimmen auf eine Insel namens Lykke. Dort erwartet sie nicht nur eine im doppelten Sinne fantastische Begegnung mit Mensch und Natur, sondern auch eine Konfrontation mit ihrem queeren Selbst. Anja Kümmel hat den neuen Roman von Laura Lichtblau gelesen und eine Erzählung gefunden, die nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Leerstellen und Brüche überzeugt.
Verführung: Die grausame Frau (1985)

Verführung: Die grausame Frau (1985)

In den nächsten zwei Jahren setzt die sissy einen besonderen Schwerpunkt auf die Klassiker des queeren Kinos – also auf nicht-heteronormative Filme, die auf die eine oder andere Weise bahnbrechend waren. Den Auftakt macht der Debütfilm von Monika Treut, das sadomasochistische Liebesdrama „Verführung: Die grausame Frau“, das Monika zusammen mit ihrer Freundin Elfi Mikesch sowie mit Mechthild Grossmann und Udo Kier in den Hauptrollen drehte. „Verführung“ erzählt von der geheimnisvollen Domina und cleveren Geschäftsfrau Wanda, deren Beruf es ist, grausam zu sein. In ihrer Galerie im Hamburger Hafen inszeniert sie gewinnbringend SM-Rituale, und auch in ihrem Privatleben bestimmt sie die Spielregeln der Lust. Ihr sklavischer Bühnenpartner Gregor verliebt sich hoffnungslos in sie, während ihre Schülerin Justine irgendwann begreift, dass Wandas Verführung ein teuflisch raffiniertes Spiel ist. Anja Kümmel feiert „Verführung“ als avantgardistische Perle des queeren Indie-Kinos, deren düster-unterkühlten Camp-Ästhetik eine ganz eigene Sinnlichkeit und Sogwirkung entfaltet und en passant die Warenförmigkeit von romantischer Liebe in Verbindung mit neoliberalen Freiheitsversprechen dekonstruiert.
Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede

Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede

Eine Protagonistin sucht in Helsinki nach der Liebe und kämpft um Selbstbestimmung – zu einer Zeit, in der Kunst und Kommunismus eine unheilvolle Allianz bilden und queeres Begehren nur im Untergrund stattfindet. Mit dieser autobiografisch grundierten Erzählung rührte die Autorin Pirkko Saisio in „Punainen erokirja“ im Jahr 2003 den Kulturbetrieb ihrer finnischen Heimat auf und wurde dafür prompt mit dem Finlandia-Preis, einer der renommiertesten Literaturauszeichnungen des Landes, bedacht. Jetzt ist der Roman unter dem Titel „Das rote Buch der Abschiede“ erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Anja Kümmel hat sich von der Stimme der Erzählerin in einen Dschungel verschiedener Perspektiven und Zeitebenen entführen lassen.
Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline ist schwanger, und sie liebt ihre Freundin. Endlich ist sie bereit für ein geregeltes Leben. Doch als sie einen neuen Personalausweis beantragen will, stolpert sie zum ersten Mal über ihre drei zusätzlichen Vornamen Jeanne, Jérôme und Ysé und fragt sich: Nach wem wurde ich da eigentlich benannt? Ausgehend von diesem Gedanken entwirft Pauline Delabroy-Allard in ihrem zweiten Roman „Wer ist das“ eine obsessive Reise durch Epochen und Identitäten. Nachdem Anja Kümmel schon dem narrativen Sog von Delabroy-Allards Debüt „Es ist Sarah“ erlag, lässt sie sich erneut von der referenzreichen Erzählkunst der französischen Erfolgsautorin fesseln.
Breaking the Ice

Breaking the Ice

Clara Stern erzählt in ihrem Debütfilm von einer jungen Frau, die sich traut, anderen zu vertrauen – und so erwachsen wird: Mira ist Anfang 20 und lebt fürs Eishockey. Auf dem Eis hat sie die Kontrolle und kann die Sorgen um ihren dementen Opa und die Arbeitsbelastung auf dem elterlichen Weingut vergessen. Doch Theresa, die Neue im Team, lockt Mira nach und nach aus ihrer Deckung. Als dann auch noch ihr lange verschollener Bruder Paul wieder auftaucht und alle drei sich im nächtlichen Wien verlieren, fasst Mira den Entschluss, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen – und sich neu zu erfinden. Beim Filmfestival Max Ophüls Preis gab es für „Breaking the Ice“ gleich drei Auszeichnungen: den Preis der Jugendjury, den Preis für den gesellschaftlich relevanten Film und den Drehbuchpreis. Anja Kümmel über einen vielstimmigen Coming-of-Age-Film aus Österreich, der queere Selbsterkundung als Spiel mit verschiedenen Identitätsentwürfen erzählt und zugleich den Blick ins Vergangene richtet.
McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

Nicht weniger als ein neues Literaturgenre wollte die Kulturwissenschaftlerin McKenzie Wark mit ihrem 2020 erschienenen Memoir „Reverse Cowgirl“ etablieren. In dem Buch lässt sie ihr Leben abseits eindeutiger Zugehörigkeiten zu Szenen, Identitäten und Geschlechtern Revue passieren. Wo keine Norm greift, tun es auch gängige Literaturkategorien nicht, also postulierte die Autorin „another genre for another gender“ und rief mit „Reverse Cowgirl“ die Geburt der „Autoethnographie der Undurchsichtigkeit unseres Selbst“ aus. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung des Buches hat Anja Kümmel sich in die Wark’sche Orgie aus Erinnerungen, philosophischen Zitaten und sexuellen Eskapaden hineingeworfen und einen durch und durch queeren Text entdeckt, der unabhängig von kleineren Schwächen tatsächlich das Prädikat „unvergleichlich“ verdient.
Wet Sand

Wet Sand

Jetzt im Kino: Ein Dorf am Schwarzen Meer in Georgien, mit freundlichen Menschen, die glauben, sich zu kennen. Eines Tages wird Eliko erhängt aufgefunden. Seine Enkelin Moe reist aus der Stadt an, um die Beerdigung zu organisieren – und stößt auf ein Netz aus Lügen, das sich über zwei Jahrzehnte in die Vergangenheit spannt. „Wet Sand“ von Elene Naveriani gibt den Außenseiter:innen des ländlichen Georgiens eine Stimme und ist ein filmisches Manifest gegen Homophobie. Seine Premiere feierte das Drama über generationsübergreifende Solidarität und queere Selbstermächtigung in Locarno. Anja Kümmel über Schutzpanzer, die langsam aufbrechen, unmissverständliche Botschaften und die Kraft der Gegenbewegung.