Anja Kümmel (Autorin)

Verführung: Die grausame Frau (1985)

Verführung: Die grausame Frau (1985)

In den nächsten zwei Jahren setzt die sissy einen besonderen Schwerpunkt auf die Klassiker des queeren Kinos – also auf nicht-heteronormative Filme, die auf die eine oder andere Weise bahnbrechend waren. Den Auftakt macht der Debütfilm von Monika Treut, das sadomasochistische Liebesdrama „Verführung: Die grausame Frau“, das Monika zusammen mit ihrer Freundin Elfi Mikesch sowie mit Mechthild Grossmann und Udo Kier in den Hauptrollen drehte. „Verführung“ erzählt von der geheimnisvollen Domina und cleveren Geschäftsfrau Wanda, deren Beruf es ist, grausam zu sein. In ihrer Galerie im Hamburger Hafen inszeniert sie gewinnbringend SM-Rituale, und auch in ihrem Privatleben bestimmt sie die Spielregeln der Lust. Ihr sklavischer Bühnenpartner Gregor verliebt sich hoffnungslos in sie, während ihre Schülerin Justine irgendwann begreift, dass Wandas Verführung ein teuflisch raffiniertes Spiel ist. Anja Kümmel feiert „Verführung“ als avantgardistische Perle des queeren Indie-Kinos, deren düster-unterkühlten Camp-Ästhetik eine ganz eigene Sinnlichkeit und Sogwirkung entfaltet und en passant die Warenförmigkeit von romantischer Liebe in Verbindung mit neoliberalen Freiheitsversprechen dekonstruiert.
Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede

Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede

Eine Protagonistin sucht in Helsinki nach der Liebe und kämpft um Selbstbestimmung – zu einer Zeit, in der Kunst und Kommunismus eine unheilvolle Allianz bilden und queeres Begehren nur im Untergrund stattfindet. Mit dieser autobiografisch grundierten Erzählung rührte die Autorin Pirkko Saisio in „Punainen erokirja“ im Jahr 2003 den Kulturbetrieb ihrer finnischen Heimat auf und wurde dafür prompt mit dem Finlandia-Preis, einer der renommiertesten Literaturauszeichnungen des Landes, bedacht. Jetzt ist der Roman unter dem Titel „Das rote Buch der Abschiede“ erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Anja Kümmel hat sich von der Stimme der Erzählerin in einen Dschungel verschiedener Perspektiven und Zeitebenen entführen lassen.
Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline ist schwanger, und sie liebt ihre Freundin. Endlich ist sie bereit für ein geregeltes Leben. Doch als sie einen neuen Personalausweis beantragen will, stolpert sie zum ersten Mal über ihre drei zusätzlichen Vornamen Jeanne, Jérôme und Ysé und fragt sich: Nach wem wurde ich da eigentlich benannt? Ausgehend von diesem Gedanken entwirft Pauline Delabroy-Allard in ihrem zweiten Roman „Wer ist das“ eine obsessive Reise durch Epochen und Identitäten. Nachdem Anja Kümmel schon dem narrativen Sog von Delabroy-Allards Debüt „Es ist Sarah“ erlag, lässt sie sich erneut von der referenzreichen Erzählkunst der französischen Erfolgsautorin fesseln.
Breaking the Ice

Breaking the Ice

Clara Stern erzählt in ihrem Debütfilm von einer jungen Frau, die sich traut, anderen zu vertrauen – und so erwachsen wird: Mira ist Anfang 20 und lebt fürs Eishockey. Auf dem Eis hat sie die Kontrolle und kann die Sorgen um ihren dementen Opa und die Arbeitsbelastung auf dem elterlichen Weingut vergessen. Doch Theresa, die Neue im Team, lockt Mira nach und nach aus ihrer Deckung. Als dann auch noch ihr lange verschollener Bruder Paul wieder auftaucht und alle drei sich im nächtlichen Wien verlieren, fasst Mira den Entschluss, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen – und sich neu zu erfinden. Beim Filmfestival Max Ophüls Preis gab es für „Breaking the Ice“ gleich drei Auszeichnungen: den Preis der Jugendjury, den Preis für den gesellschaftlich relevanten Film und den Drehbuchpreis. Anja Kümmel über einen vielstimmigen Coming-of-Age-Film aus Österreich, der queere Selbsterkundung als Spiel mit verschiedenen Identitätsentwürfen erzählt und zugleich den Blick ins Vergangene richtet.
McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

Nicht weniger als ein neues Literaturgenre wollte die Kulturwissenschaftlerin McKenzie Wark mit ihrem 2020 erschienenen Memoir „Reverse Cowgirl“ etablieren. In dem Buch lässt sie ihr Leben abseits eindeutiger Zugehörigkeiten zu Szenen, Identitäten und Geschlechtern Revue passieren. Wo keine Norm greift, tun es auch gängige Literaturkategorien nicht, also postulierte die Autorin „another genre for another gender“ und rief mit „Reverse Cowgirl“ die Geburt der „Autoethnographie der Undurchsichtigkeit unseres Selbst“ aus. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung des Buches hat Anja Kümmel sich in die Wark’sche Orgie aus Erinnerungen, philosophischen Zitaten und sexuellen Eskapaden hineingeworfen und einen durch und durch queeren Text entdeckt, der unabhängig von kleineren Schwächen tatsächlich das Prädikat „unvergleichlich“ verdient.
Gesang der Meerjungfrauen

Gesang der Meerjungfrauen

Bei seiner Premiere in Cannes im Jahr 1987 wurde „Gesang der Meerjungfrauen“ als Entdeckung gefeiert. Heute gilt Patricia Rozemas bittersüße Komödie als einer der zentralen kanadischen Filme der 1980er Jahre und als Klassiker des lesbischen Kinos. Die skurrile und höchst liebenswürdige Hauptfigur Polly träumt sich in Toronto durch die Tage und verliebt sich auf ganze eigene Weise in ihre neue Chefin, die Galeriebesitzerin und Kuratorin Gabrielle. Anja Kümmel hat den Film, der jetzt digital als DVD und VoD herausgekommen ist, für uns gesehen – und ist vor allem von der modernen Selbstverständlichkeit beeindruckt, mit der lesbische Liebe und queere Lebensentwürfe in den Plot eingeflochten werden und die Identitätsfrage gar nicht erst gestellt wird.
Wet Sand

Wet Sand

Jetzt im Kino: Ein Dorf am Schwarzen Meer in Georgien, mit freundlichen Menschen, die glauben, sich zu kennen. Eines Tages wird Eliko erhängt aufgefunden. Seine Enkelin Moe reist aus der Stadt an, um die Beerdigung zu organisieren – und stößt auf ein Netz aus Lügen, das sich über zwei Jahrzehnte in die Vergangenheit spannt. „Wet Sand“ von Elene Naveriani gibt den Außenseiter:innen des ländlichen Georgiens eine Stimme und ist ein filmisches Manifest gegen Homophobie. Seine Premiere feierte das Drama über generationsübergreifende Solidarität und queere Selbstermächtigung in Locarno. Anja Kümmel über Schutzpanzer, die langsam aufbrechen, unmissverständliche Botschaften und die Kraft der Gegenbewegung.
Kim de l’Horizon: Blutbuch

Kim de l’Horizon: Blutbuch

Unter viel Jubel hat Kim de l’Horizon zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den Deutschen Buchpreis für „Blutbuch“ entgegengenommen – und anschließend statt einer klassischen Dankesrede einen London-Grammar-Song ins Mikro gehaucht und sich aus Solidarität mit protestierenden Frauen im Iran auf der Bühne die Haare abrasiert. Der bewegende Auftritt war eine konsequente performative Weiterentwicklung seines genderqueer-poetischen Roman-Experiments; eine kämpferische Sternstunde nicht nur für Kim de l’Horizon selbst, sondern auch für die eher gesetzte, honorige Institution Buchpreis. Eine furiose Werbung für „Blutbuch“, dessen Entstehung sich für de l’Horizon laut eigener Aussage im Schweizer Podcast „Blattgold“ anfühlte, „wie meine eigene Prophezeiung zu schreiben“, war es sowieso. Sissy gratuliert von Herzen und empfiehlt Anja Kümmels Einführung in den „Blutbuch“-Kosmos.
In den besten Händen

In den besten Händen

Comiczeichnerin Raphaela und Verlegerin Julie sind seit zehn Jahren ein Paar, doch nun scheint ihre Beziehung am Ende zu sein. Bei einem Streit stürzt Raphaela und bricht sich den Arm. Die beiden landen in einer Pariser Notaufnahme. Während draußen Proteste toben, füllt sich das Krankenhaus mit verletzten Demonstrierenden. Das Personal ist am Limit; die Lage droht zu eskalieren. Als der LKW-Fahrer Yann zu Raphaela ins Zimmer verlegt wird, prallen Klassen-Ressentiments aufeinander. Nach ihrem lesbischen Liebesfilm „La Belle Saison – Eine Sommerliebe“ greift Catherine Corsini mit „In den besten Händen“ brandaktuelle Themen wie den Pflegenotstand und die Spaltung der Gesellschaft auf. Die Tragikomödie, die ihre Weltpremiere 2021 in Cannes feierte, gibt es jetzt auf DVD und BluRay. Anja Kümmel über einen Film, der mit Verve die Fragen unserer unübersichtlichen Gegenwart angeht.
Rudi Nuss: Die Realität kommt

Rudi Nuss: Die Realität kommt

Welche Zukunft, welche Identität, welches Dasein wollen wir leben? Im Debütroman des Berliner Lesebühnen-Chamäleons Rudi Nuss gibt es auf diese Fragen tausend und keine Antwort. Die Geschichte um Erzähl-Ich Conny ist weniger eine stringente Erzählung als ein unerschöpfliches Feuerwerk aus skurrilen Ideen, verschrobenen Charakteren und verblüffenden Wendungen. Dass dabei Geschlechtermodelle über den Haufen geworfen werden, ist noch der vorhersehbarste Kunstgriff im mal surrealen, mal hyperrealen Ideenkosmos des queeren Geistes Rudi Nuss, dessen Herkunft auf seiner Website mit folgenden Worten umrissen wird: „Seine Familie hat den größten Teil ihres Lebens an einem der größten und schönsten Atomkraftwerke Russlands gelebt.“ Anja Kümmel strahlt jedenfalls mit.