Anja Kümmel (Autorin)

Paris Was a Woman (1996)

Paris Was a Woman (1996)

Greta Schiller ist eine der großen Pionierinnen des queeren Dokumentarfilms. Mit „Before Stonewall“ (1984) setzte sie dem Leben lesbischer und schwuler US-Amerikaner:innen vor den bahnbrechenden Stonewall-Riots im Jahr 1969 ein filmisches Denkmal. Mit ihrer eigenen Produktionsfirma Jezebel Productions und an der Seite ihrer künstlerischen Mitstreiterin und Partnerin Andrea Weiss folgten in den nächsten 40 Jahren zahlreiche preisgekrönte Filme zu unserer Kultur und Geschichte. In wenigen Tagen wird Schiller 70, und für die sissy ist das ein perfekter Anlass, um an einen weiteren ihrer Filmklassiker zu erinnern: das vielschichtige Orts- und Gruppenporträt „Paris Was a Woman“. Der Film fängt das Lebensgefühl von feministischen Pionierinnen wie Colette, Djuna Barnes und Gertrude Stein ein, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Paris zog, weil sie dort eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten fanden und künstlerisch wie persönlich neue Wege gehen konnten. Anja Kümmel über ein Zeitdokument, das von der historischen Eroberung einer Metropole als weiblichem Entfaltungsraum erzählt.
Hengameh Yaghoobifarah: Schwindel

Hengameh Yaghoobifarah: Schwindel

Freitagabend: Ava hat ein Date mit Robin. Alles läuft super, doch als unerwartet Avas aufgebrachte Liebhaber:innen Delia und Silvia auftauchen, ist es vorbei mit der Harmonie. Überstürzt flüchtet Ava in den 15. Stock aufs Dach, die anderen folgen. Als die Tür hinter ihnen zufällt, merken sie, dass sie in der Falle sitzen, denn in der Aufregung hat niemand einen Schlüssel oder ein Handy mit nach oben gebracht. Na dann, gute Nacht! Nachdem Hengameh Yaghoobifarahs gefeierter Debütroman „Ministerium der Träume“ Liebe und Schrecken im Schatten der Heimatlosigkeit beschwor, verhandelt der neue Roman „Schwindel“ im Rahmen eines zugespitzten „Locked in a room“-Szenarios die Macken und Tücken des Alltags in der queeren Bubble. Anja Kümmel hat sich in das klaustrophobische-komische Setting hineingewagt und einen literarischen Höhenrausch erlebt.
Frau aus Freiheit

Frau aus Freiheit

Polen in den frühen 1980ern. Während das Land dem Kommunismus allmählich den Rücken kehrt und sich zu einem demokratischen Staat wandelt, sucht Aniela Wesoły in einer Kleinstadt ihre Freiheit als Frau. Schon während ihrer Kindheit und Jugend beginnt sie, sich anders zu fühlen. Ihre Umgebung reagiert mit Unverständnis und Verdrängung. Doch weder die Widerstände in ihrer Familie noch staatliche Repressionen können sie davon abhalten, endlich die Person zu werden, die sie schon immer war. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen in Polen der letzten 50 Jahre erzählen Małgorzata Szumowska und Michał Englert in „Frau aus Freiheit“ von der Selbstermächtigung einer Frau. Das epische Figurenporträt wurde im Wettbewerb von Venedig gefeiert und glaubt, ganz im Geiste des großen Regisseurs Andrzej Wajda daran, dass Kino die Kraft der Veränderung in sich trägt. Anja Kümmel über einen sensibel und nuanciert gespielten Film über Einsamkeit, Isolation und eine Frau, die ihre Freiheit sucht und findet.
Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Isabel Waidner: Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken

Ein Titel wie ein Funkenregen, eine Story wie ein Trip ins All und eine Sprache, die permanent ihre eigenen Grenzen sprengt. Mit diesen Zutaten geht der neue Roman von Isabel Waidner an den Start. Die poetischen Kapriolen aus Waidners  preisgekrönten Debüt „Geile Deko“ werden in „Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken“ aufs nächste Level getrieben. Der Roman verbindet die Geschichte einer Gruppe Londoner Queers mit einem literarischen „Stierkampf“ im polnischen Gendering. Anja Kümmel hat sich von der kreativen Wucht des kaleidoskopischen Texts beglücken lassen – und gendert in ihrer Besprechung selbst polnisch.
Sister My Sister (1994)

Sister My Sister (1994)

Frankreich 1933. Christine und ihre jüngere Schwester Lea arbeiten als Dienerinnen bei der herrischen Madame Danzard und ihrer Tochter Isabelle. Die Schwestern erledigen wortlos alle Aufgaben und ertragen jede Demütigung, weil sie sich auf diese Weise nah sein können. Nachts wird ihre Beziehung in der Zurückgezogenheit ihrer Dachkammer derweil immer körperlicher, ja rauschhafter. Doch dann bemerkt Madame Danzard erste Nachlässigkeiten im Haushalt. Nancy Mecklers Film beruht auf dem berüchtigten Kriminalfall um Christine und Léa Papin, der sich 1933 in Le Mans zugetragen hat und bereits Jean Genet zu seinem Theaterstück „Die Zofen“ inspirierte. „Sister My Sister“ ist zugleich messerscharfe soziale Klassenstudie und berührende Geschichte einer verbotenen Liebe. Anja Kümmel über ein vielschichtiges und aufregendes filmisches Wagnis.
Gesang der Meerjungfrauen (1987)

Gesang der Meerjungfrauen (1987)

Bei seiner Premiere in Cannes im Jahr 1987 wurde „Gesang der Meerjungfrauen“ als Entdeckung gefeiert. Heute gilt Patricia Rozemas bittersüße Komödie als einer der zentralen kanadischen Filme der 1980er Jahre – und als Klassiker des lesbischen Kinos. Die skurrile und höchst liebenswürdige Hauptfigur Polly träumt sich in Toronto durch die Tage und verliebt sich auf ganze eigene Weise in ihre neue Chefin, die Galeriebesitzerin und Kuratorin Gabrielle. Anja Kümmel ist vor allem von der modernen Selbstverständlichkeit beeindruckt, mit der lesbische Liebe und queere Lebensentwürfe in den Plot eingeflochten werden und die Identitätsfrage gar nicht erst gestellt wird.
Laura Lichtblau: Sund

Laura Lichtblau: Sund

Unheimlich und verheißungsvoll zugleich klingen die Gesänge, die in den dunklen Nächten an der dänischen Küste zur Protagonistin von Laura Lichtblaus neuem Roman „Sund“ herüberschwappen. Statt weiter auf ihre Geliebte zu warten, folgt die junge Frau den Stimmen auf eine Insel namens Lykke. Dort erwartet sie nicht nur eine im doppelten Sinne fantastische Begegnung mit Mensch und Natur, sondern auch eine Konfrontation mit ihrem queeren Selbst. Anja Kümmel hat den neuen Roman von Laura Lichtblau gelesen und eine Erzählung gefunden, die nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Leerstellen und Brüche überzeugt.
Verführung: Die grausame Frau (1985)

Verführung: Die grausame Frau (1985)

In den nächsten zwei Jahren setzt die sissy einen besonderen Schwerpunkt auf die Klassiker des queeren Kinos – also auf nicht-heteronormative Filme, die auf die eine oder andere Weise bahnbrechend waren. Den Auftakt macht der Debütfilm von Monika Treut, das sadomasochistische Liebesdrama „Verführung: Die grausame Frau“, das Monika zusammen mit ihrer Freundin Elfi Mikesch sowie mit Mechthild Grossmann und Udo Kier in den Hauptrollen drehte. „Verführung“ erzählt von der geheimnisvollen Domina und cleveren Geschäftsfrau Wanda, deren Beruf es ist, grausam zu sein. In ihrer Galerie im Hamburger Hafen inszeniert sie gewinnbringend SM-Rituale, und auch in ihrem Privatleben bestimmt sie die Spielregeln der Lust. Ihr sklavischer Bühnenpartner Gregor verliebt sich hoffnungslos in sie, während ihre Schülerin Justine irgendwann begreift, dass Wandas Verführung ein teuflisch raffiniertes Spiel ist. Anja Kümmel feiert „Verführung“ als avantgardistische Perle des queeren Indie-Kinos, deren düster-unterkühlten Camp-Ästhetik eine ganz eigene Sinnlichkeit und Sogwirkung entfaltet und en passant die Warenförmigkeit von romantischer Liebe in Verbindung mit neoliberalen Freiheitsversprechen dekonstruiert.
Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede

Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede

Eine Protagonistin sucht in Helsinki nach der Liebe und kämpft um Selbstbestimmung – zu einer Zeit, in der Kunst und Kommunismus eine unheilvolle Allianz bilden und queeres Begehren nur im Untergrund stattfindet. Mit dieser autobiografisch grundierten Erzählung rührte die Autorin Pirkko Saisio in „Punainen erokirja“ im Jahr 2003 den Kulturbetrieb ihrer finnischen Heimat auf und wurde dafür prompt mit dem Finlandia-Preis, einer der renommiertesten Literaturauszeichnungen des Landes, bedacht. Jetzt ist der Roman unter dem Titel „Das rote Buch der Abschiede“ erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Anja Kümmel hat sich von der Stimme der Erzählerin in einen Dschungel verschiedener Perspektiven und Zeitebenen entführen lassen.
Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline ist schwanger, und sie liebt ihre Freundin. Endlich ist sie bereit für ein geregeltes Leben. Doch als sie einen neuen Personalausweis beantragen will, stolpert sie zum ersten Mal über ihre drei zusätzlichen Vornamen Jeanne, Jérôme und Ysé und fragt sich: Nach wem wurde ich da eigentlich benannt? Ausgehend von diesem Gedanken entwirft Pauline Delabroy-Allard in ihrem zweiten Roman „Wer ist das“ eine obsessive Reise durch Epochen und Identitäten. Nachdem Anja Kümmel schon dem narrativen Sog von Delabroy-Allards Debüt „Es ist Sarah“ erlag, lässt sie sich erneut von der referenzreichen Erzählkunst der französischen Erfolgsautorin fesseln.