Kim de l’Horizon: Blutbuch

Buch

Unter viel Jubel hat Kim de l’Horizon zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den Deutschen Buchpreis für „Blutbuch“ entgegengenommen – und anschließend statt einer klassischen Dankesrede einen London-Grammar-Song ins Mikro gehaucht und sich aus Solidarität mit protestierenden Frauen im Iran auf der Bühne die Haare abrasiert. Der bewegende Auftritt war eine konsequente performative Weiterentwicklung seines genderqueer-poetischen Roman-Experiments; eine kämpferische Sternstunde nicht nur für Kim de l’Horizon selbst, sondern auch für die eher gesetzte, honorige Institution Buchpreis. Eine furiose Werbung für „Blutbuch“, dessen Entstehung sich für de l’Horizon laut eigener Aussage im Schweizer Podcast „Blattgold“ anfühlte, „wie meine eigene Prophezeiung zu schreiben“, war es sowieso. Sissy gratuliert von Herzen und empfiehlt Anja Kümmels Einführung in den „Blutbuch“-Kosmos.

Naughty Text

von Anja Kümmel

„Geboren 2666 auf Gethen“, steht im Klappentext des Romans „Blutbuch“ über dessen nichtbinäre_n Autor:in Kim de l’Horizon. Gethen dürfte Science-Fiction-Fans bekannt sein als fiktiver Planet aus dem Universum der feministischen Autorin Ursula K. Le Guin, als fantastischer Möglichkeitsraum einer selbstverständlichen Gender-Fluidität. Unter diesen Vorzeichen verwundert es zunächst, dass dieser Debütroman ganz profan auf der Erde, in der Schweizer Provinz, spielt, und dass er sich sehr konkret mit de l’Horizons realer eigener Biografie befasst. Doch in „Blutbuch“ ist das Hineinspüren in die eigene Vergangenheit, das Erinnern transgenerationaler Geschichten und Traumata kein Widerspruch zur selbstbestimmten Neuerfindung und utopischen Ausgestaltung der eigenen Identität im Jetzt. Im Gegenteil: Rückschau und Vision gehen hier Hand in Hand, bedingen einander vielleicht sogar.

Sowohl inhaltlich als auch formal ist „Blutbuch“ ein Grenzen sprengendes, zwischen Opulenz und Schroffheit, Metaebene und Intimität oszillierendes Debüt. Der assoziative Fluss des Textes entwickelt einen sofortigen Sog, der einem beim Lesen nicht selten den Atem verschlägt. Gleichzeitig erfordert es Geduld und Konzentration, sich in dem autofiktionalen Erzählungsgebäude zurechtzufinden. Ankerpunkte sind zum einen die genderfluide Identität des Erzähl-Ich und dessen queeres Begehren, zum anderen die Erkundung der eigenen Herkunft. Dabei legt de l’Horizon den Fokus auf die mütterliche Linie, die in der traditionellen patriarchalen Ordnung oft vernachlässigt wird. Das „Du“, an das sich die Erzählfigur richtet, ist dessen Großmutter (im Berndeutsch „Grossmeer“), deren Erinnerungsvermögen langsam schwindet, was dem Roman, bei aller Verweigerung klassischer Spannungselemente, eine treibende Dringlichkeit verleiht.

Die kulturellen Bezugspunkte, die de l’Horizon in Zitaten an den Kapitelanfängen sowie im Text selbst evoziert, stammen von so unterschiedlichen Größen wie Donna Haraway, Starhawk und Ru Paul. Mit ähnlich kühnem Schwung wechselt der Erzählton zwischen ruhigen, ernsten, philosophisch aufgeladenen und zynisch-poppigen Passagen. Inspiriert ist de l’Horizons Schreiben vom New Materialism, einer Denkrichtung, die nonchalant das Subjekt-Objekt-Verhältnis aus den Angeln hebt, etwa wenn die Rede ist von „Dingen, die euch kennen“. Das ist ungewohnt, aber auch herausfordernd. Indem de l’Horizon sich versuchsweise vom menschlichen (männlichen) „Meistersubjekt“ wegbewegt und Dingen Subjektstatus verleiht, wird deutlich, wie schwierig, wenn nicht unmöglich, es ist, aus einer nicht menschlichen Perspektive zu schreiben.

Kim de l’Horizon (Foto: Anne Morgenstern)

Briefe, maschinengeschriebene Auszüge aus einem Stammbaum, den die Mutter der Erzählfigur anlegt, Listen, Telefonprotokolle, Chatverläufe und poetisch verdichtete Passagen, die sich an der Formulierung von Unsagbarem versuchen, brechen das klassische Romanformat auf und sorgen für eine faszinierende Vielstimmigkeit. Zugleich ist dem Text stets bewusst, dass er an die bestehende Sprache und grundlegende Anforderungen an die Lesbarkeit gebunden bleibt. So rückt immer wieder der Prozess des Schreibens selbst in den Mittelpunkt: „Wie kann ich meine story tellen, wenn da ständig so scheinbar Vergangenes dazwischenfunkt, scheinbar zusammenhanglos mir in die Speichen meiner Erzählkutsche hüpft, wenn meine Erinnerungsbilder sich mit anscheinend viel älteren Sprachbildern mischen.“ Das Ergebnis dieses mutigen, das eigene Scheitern stets mitdenkenden Experiments ist ein Buch, das mit allen Kniffen der Kunst um Ausdruck ringt – ein „naughty text, der einfach nicht straight sein will, der sich einfach ständig unter meinen schlecht lackierten Nägeln wegdreht wegquengelt wegqueert“.

Das mag jetzt nach viel Ästhetik, viel Metaebene und wenig Inhalt klingen, zugleich jedoch wird „Blutbuch“ immer wieder sehr konkret, stellenweise geradezu beklemmend intim. Ein durchgängiges Motiv ist das Umkreisen einer schmerzhaften Lücke im Familiengedächtnis: Das Verschwinden zweier Schwestern der Großmutter, über die, wenn überhaupt, nur in stereotypen Floskeln gesprochen wird. Der Text nähert sich diesen Abwesenheiten über die präzisen Beobachtungen kleiner Gesten, Rituale und Redewendungen der Großmutter, aus denen nicht selten eine Mischung aus Zärtlichkeit und Entsetzen spricht: „Der Hunger, der älter ist als Grossmeer“, „ihr Mund, diese rastlose Maschine“ oder auch „Das Mokkalöffelchen: ein Gegenstand in einer Fremdsprache für diese Hände“. Mangel und Verzicht, so der Eindruck, sind Grossmeers Körper eingeschrieben, wurden nur überdeckt vom gesellschaftlichen Aufstieg und dem materiellen Wohlstand, den sie erlangt hat.

Abwesenheiten, Mangel und Verlust spiegeln sich aber auch in der rastlosen Jagd nach anonymen Sex-Dates, der sich die Erzählfigur hingibt („die Grindr-App ist meine bleiche Fackel in der Nacht der Agglomeration“), und von der sie sagt, sie habe weniger mit dem Begehren anderer Körper zu tun als mit dem Bedürfnis, sich selbst durch andere zu spüren. Unerwartete Verbindungslinien eröffnen sich zwischen Damals und Jetzt, wenn etwa das Ich en passant bemerkt, „dass es sich teuflisch gut anfühlt, durch die Strassen zu gehen und zu spüren, wie das Sperma extrem langsam den Körper wieder verlässt, langsamer als Honig, langsamer als die Tannenzapfenmelasse, die du dir immer auf die letzte Fotzelschnitte träufelst“.

Selbst die Meditation über Sprache, die einen zentralen Teil des Romans ausmacht, wirkt bei de l’Horizon nicht abgehoben oder abstrakt, sondern geradezu viszeral. Klare Grenzen zwischen Körpern und Wörtern gibt es nicht. So kann „Buch“ im Schweizerdeutschen ebenso „Bauch“ und „Buche“ bezeichnen und verweist in einigen Passagen konkret auf die Blutbuche vor dem Haus, in dem das Erzähl-Ich aufwuchs, und damit auf die Frage, „wie es dann kommt, dass dieser pretty fancy Baum in unseren pretty poor Garten kam“. Im berndeutschen „Meer“ für „Mutter“ steckt das Ozeanische, Fließende, das den gesamten Text durchzieht, und das sowohl mit Geborgenheit als auch mit Bedrohung assoziiert werden kann. Immer geht es um das ambivalente Erbe, das der Sprache selbst innewohnt – eine Sprache, die für normative Zurichtungen, Zweigeschlechtlichkeit und Zwangsheterosexualität steht, und die dem queeren Ich zugleich Möglichkeitsräume eröffnet, über genau diese Zuschreibungen hinauszuwachsen. „Ich weiß keine Sprache für meinen Körper“, beschreibt die Erzählfigur an einer Stelle ihr Dazwischen-Sein: „Ich kann mich weder in der Meersprache noch in der Peersprache bewegen.“ Sie benutzt Anglizismen, die Meer und Grossmeer nicht verstehen, erfindet neue Worte, bewegt sich in urbanen, globalisierten, digitalisierten Räumen, und schafft so die nötige Distanz, um überhaupt sprechen zu können. Eine Entfremdung, in der immer auch ein Verrat mitschwingt. Zugleich jedoch ermöglicht sie überhaupt erst das Sprechen über die eigene Herkunft, und damit eine Wiederannäherung an die Vergangenheit.

Mit „Blutbuch“, das kurz vor seinem Erscheinen im Juli mit dem Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet wurde, knüpft Kim de l’Horizon an den Themenkanon von Édouard Louis und Annie Ernaux an, findet jedoch eine ganz eigene, eigenwillige Sprache, die eher an die poetischen Verdichtungen experimenteller Sprachkünstler:innen wie Nancy Hünger erinnert. Es wäre nicht falsch zu sagen, dass es in dem Roman um Klassismus, Sexismus, Queerness und fluide Geschlechtsidentität geht. Doch schreibt de l’Horizon eben nicht über diese Themen, sondern bewegt sich in ihnen, mit einer so unprätentiösen wie weisen Virtuosität. „Blutbuch“ ist ein erstaunliches Debüt, das beglückt und verstört, amüsiert und schockiert, die eigene Wahrnehmung auf den Kopf stellt, manchmal auch ratlos zurücklässt. Und es ist klug, indem es sich nicht anmaßt, das Trauma zu erzählen, sondern vielmehr einen Raum schafft für die Leerstellen, die es hinterlassen hat.




Blutbuch
von Kim de l‘Horizon
Hardcover, 336 Seiten, € 24
DuMont Verlag

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