Wet Sand

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Jetzt im Kino: Ein Dorf am Schwarzen Meer in Georgien, mit freundlichen Menschen, die glauben, sich zu kennen. Eines Tages wird Eliko erhängt aufgefunden. Seine Enkelin Moe reist aus der Stadt an, um die Beerdigung zu organisieren – und stößt auf ein Netz aus Lügen, das sich über zwei Jahrzehnte in die Vergangenheit spannt. „Wet Sand“ von Elene Naveriani gibt den Außenseiter:innen des ländlichen Georgiens eine Stimme und ist ein filmisches Manifest gegen Homophobie. Seine Premiere feierte das Drama über generationsübergreifende Solidarität und queere Selbstermächtigung in Locarno. Anja Kümmel über Schutzpanzer, die langsam aufbrechen, unmissverständliche Botschaften und die Kraft der Gegenbewegung.

Foto: Salzgeber

Follow your fucking dreams

von Anja Kümmel

Bewegung und Stillstand – dies sind die komplementären Elemente, die Elene Naverianis zweiten Spielfilm beherrschen und strukturieren. Da ist die gewaltige Kraft des Wassers: Immer wieder füllt das Schwarze Meer die Leinwand, als düster glitzernde Fläche im Mondlicht, als aufgewühltes Panorama, gegen das die Häuser des Dorfes winzig und zerbrechlich wirken. Anbrandende Wellen in Nahaufnahme, die sich stets verändern und erneuern, die den Sand feucht halten, durchlässig und porös machen. Das titelgebende Café „Wet Sand“ hingegen scheint zunächst ein Ort des ultimativen Stillstands zu sein. Tagein tagaus wird hier dasselbe Bier serviert, sitzen dieselben alten Männer auf der Terrasse, spielen Backgammon und reißen dieselben sexistischen, homophoben Witze.

In dieses abgeschottete, aus der Zeit gefallene Nest dringt die Außenwelt nur in Form von Fernsehbildern: Pandemie, Waldbrände, Umweltverschmutzung, all das ist weit weg. Selbst ein Bericht über die Bakterienverseuchung des Schwarzen Meeres, an dem die Bewohner dieses kleinen georgischen Dorfes schließlich leben, in dem sie baden und fischen, bleibt, bezeichnenderweise, unkommentiert. Auch das politische Geschehen scheint niemanden hier zu betreffen. Zugleich jedoch durchdringt das repressive Klima, das die Orthodoxe Kirche vorgibt, den gesamten Mikrokosmos – eine Dynamik, die Naveriani feinfühlig auszuloten versteht.

1985 in Georgien geboren, studierte die nicht-binäre Filmemacher:in in Tiflis und Genf und lebt heute in der Schweiz. Naverianis Insider- und zugleich Außenseiter-Perspektive auf Georgien wird in einer Schlüsselszene am Anfang des Films deutlich, in der über den Fernsehbildschirm im „Wet Sand“ Nachrichten von den Feierlichkeiten zum „Tag der Familie“ in Tiflis flackern. Ein greiser Erzbischof beschwört mit zittriger Stimme die Stärke der christlichen Familie, während die Muttergottes-Statue coronakonform durch die Stadt gefahren wird. Ganz nebenbei erwähnt ein Sprecher, dass der „Tag der Familie“ seit 2014 den „Internationalen Tag gegen Homophobie“ ersetzt. Die Einstellung dauert nur wenige Sekunden, doch erklärt sie schlagartig das bleierne Schweigen, das über dem kleinen Dorf am Schwarzen Meer liegt. Vielsagend ist einzig der Blick, den Amnon, Besitzer des „Wet Sand“, und die Kellnerin Fleshka austauschen. Auch sie kommentieren das Geschehen nicht, doch spüren wir in diesem Moment ein stummes Einverständnis zwischen zwei Randexistenzen.

Äußerlich gleicht Amnon den wortkargen älteren Männern, die auf seiner Terrasse ihr Bier trinken. Doch ist etwas an ihm, das nicht ganz hierher zu gehören scheint – seine Gestik ist feiner als die der Dorfpatriarchen, sein Blick fragender, zweifelnder, verschleiert von einer gewissen Melancholie. Fleshka, die ihren schlaksigen Körper unter weiten Hemden und ausgebeulten Hosen versteckt, bewegt sich resolut in der Männerwelt, ebenso schweigsam wie Amnon und mit stets leicht mürrischem Blick. Kein Wunder, denn sie darf sich von einem Stammgast Sprüche anhören wie: „Mädchen, bist du immer noch allein wie eine alte Jungfer?“ Als Antwort kippt sie ihm ohne eine Miene zu verziehen das Bier über die Hose. Doch selbst daraufhin folgt kein Eklat. Es scheint, als hätten sich alle hier mit ihren Rollen abgefunden: Die Dorfgemeinschaft versichert sich ihrer Regeln und Normen, in dem sie durch Spott, Verachtung oder Ignoranz die Andersartigen markiert; die Außenseiter:innen wiederum wissen, dass sie nicht dazugehören und reagieren mit innerer Emigration.

Foto: Salzgeber

Doch existiert auch auf individueller Ebene das Potential zur Gegenbewegung. In einer weiteren Schlüsselszene sehen wir Fleshka hinunter zum Strand gehen und lesen auf dem Rückenteil ihrer Jacke die Aufschrift „Follow your fucking dreams“. Dies ist ganz klar kein zufälliges dekoratives Element, sondern ein Statement. Und wenn das nächste Mal der verschnörkelt-pastellige Neonschriftzug über dem „Wet Sand“ stoisch gegen die Nacht leuchtet, scheint plötzlich auch er einen schwachen Hoffnungsschimmer zu repräsentieren.

Als Eliko, ein älterer, isoliert lebender Mann, erhängt in seiner Küche aufgefunden wird, gerät das fragile Gleichgewicht der Dorfgemeinschaft ins Wanken. Niemand ist bereit, ihn zu beerdigen, und das nicht nur, weil Suizid in der christlichen Kirche als Todsünde gilt. Auch schon zu Lebzeiten, platzt es aus einem der Patriarchen heraus, sei Eliko ein „Gottloser“ gewesen. Nun kommt die dritte Hauptfigur ins Spiel: Moe, Elikos Enkelin, die aus Tiflis anreist, um die Angelegenheit zu regeln. Eine androgyne, herbe Schönheit mit kurzen blondierten Haaren, Sonnenbrille und Zigarette im Mundwinkel, die, auch wenn sie erst relativ spät auftaucht, allein optisch dem Rest des Personals die Show stiehlt. Wer nun allerdings erwartet, dass Moe mit ihrer zwar unausgesprochenen, aber offensichtlichen Queerness die erstarrte Dorfgemeinschaft so richtig aufmischt, hat sich getäuscht. Oder muss sich zumindest noch ein wenig gedulden.

Foto: Salzgeber

Auch Moe präsentiert ein undurchdringliches Poker-Face und liefert ihren Text mit gleichmütiger Coolness ab. Was ihr, mit ihrer Aura einer Neo-Noir-Detektivin, zweifellos gut steht – dennoch hätte man sich an dieser Stelle ein bisschen mehr Variation in puncto Intensität und Tempo gewünscht. „Wet Sand“ jedoch bleibt bei seinem ruhigen, beinahe schlafwandlerischen Dahingleiten. Die Risse in der Fassade entstehen nur langsam, Millimeter für Millimeter. Nicht, dass Moe Fragen stellen würde; doch allein ihre Anwesenheit, ihr von außen kommender Blick, lässt jahrelang unhinterfragte Gegebenheiten plötzlich zweifelhaft erscheinen. Woran hat Eliko wirklich gelitten? Welches Geheimnis hütet Amnon? Und wohin ist eigentlich Speros Sohn verschwunden?

In einer Szene blitzt an Moes Körper eine weitere Botschaft auf, gewissermaßen als Pendant zum Slogan auf Fleshkas Jacke: „Just feel“ steht auf ihrem Hals. Das Tattoo ist zum ersten Mal deutlich zu lesen, als Moe und Fleshka dicht nebeneinanderstehen, und man ahnt, dass es zwischen den beiden eine Annäherung geben wird. In einem anderen Film wäre so viel Symbolismus vielleicht zu plakativ gewesen. Hier jedoch, wo die Figuren kaum etwas von ihren Gedanken und Gefühlen preisgeben, fungieren die unterschwellig ins Bild geschmuggelten Sätze beinahe wie Zwischentitel in einem Stummfilm.

Foto: Salzgeber

Da alle Charaktere derart zurückgenommen agieren, ist es nicht leicht, ihnen nahezukommen, sich mit ihnen zu identifizieren. Doch diese Unterkühltheit hat auch eine Folgerichtigkeit. Führt man sich das gesamte Drama vor Augen, das sich unter der Oberfläche abspielt – eine vereitelte schwule Liebe, die lebenslange Unterdrückung des eigenen Begehrens, die buchstäbliche Auslöschung queerer Identitäten – dann erscheint es nur konsequent, dass sich die Figuren einen Schutzpanzer zugelegt haben, der sich um sie herum und über das gesamte Dorf legt wie eine Decke aus Blei.

Untermalt wird diese Atmosphäre von der düster-poetischen Bildsprache der ungarischen Kamerafrau Agnesh Pakozdi. Lange Panorama-Einstellungen der Landschaft und des Meeres stehen im Vordergrund, während die Menschen auf ihren perfekt komponierten Tableaus manchmal beinahe wie bloße ästhetische Elemente wirken. Assoziationen mit Ikonenmalereien drängen sich unweigerlich auf, trotz der harschen Religionskritik im Film – nur dass bei Pakozdi eben nicht biblische Motive, sondern die Kraft der Natur Heiligenstatus erhält. Weit davon entfernt, eine Postkarten-Idylle zu kreieren, inszeniert sie die spröde Schönheit dieses Landstrichs auf eine Weise, die einen nachvollziehen lässt, warum es seine Bewohner:innen nicht übers Herz bringen, ihn zu verlassen. Zugleich spiegelt sich in dieser Darstellung auch Naverianis Blick auf Georgien, in dem sich kritische Distanz, Zerrissenheit und Sehnsucht mischen. „Wet Sand“ ist ein Film, der einiges an Aufmerksamkeit, und vor allem sehr viel Geduld erfordert. Sie zahlt sich aus: Letztendlich wird die Bewegung triumphieren.




Wet Sand
von Elene Naveriani
CH/GE 2021, 115 Minuten, FSK 12,
georgische OF mit deutschen UT

Im November in der Queerfilmnacht und ab 24. November im Kino.

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