Nelly & Nadine
Trailer • Kino
Die belgische Opernsängerin Nelly Mousset-Vos und die belgisch-chinesische Juristin Nadine Hwang lernen sich Heiligabend 1944 im KZ Ravensbrück kennen, wo beide Gefangene sind. Ab diesem Moment verbringen sie so viel Zeit wie möglich miteinander. Kurz vor Kriegsende werden sie für einige Monate getrennt, finden sich wieder, ziehen zusammen nach Venezuela und später nach Brüssel. Anhand von Nellys Tagebüchern und Fotos, Liebesbriefen und Filmrollen erzählt der schwedische Regisseur Magnus Gertten in seinem Dokumentarfilm eine bemerkenswerte Liebesgeschichte. Angelika Nguyen hat sich von ihr berühren lassen.
Geschichte einer großen Liebe
von Angelika Nguyen
Zu Beginn zeigt ein Archivfilm Aufnahmen von Frauen, die aus dem KZ Ravensbrück befreit worden sind, bei ihrer Ankunft in einem Land, das sie aufnimmt: Schweden. Die Frauen lächeln oder lachen, manche blicken in sich gekehrt oder einfach nur erschöpft. Datum der Aufnahme: 28. April 1945. Jahre hätte er gebraucht, erzählt die Stimme des schwedischen Regisseurs Magnus Gertten, um die Geheimnisse dieses Archivfilms zu entschlüsseln. Ein Dokumentarfilm also, der nicht nur eine lange, verzweigte Geschichte erzählen wird, sondern selbst eine lange Geschichte hat. Die Namen einiger Frauen und ihre Geschichten aus jenem Archivfilm herauszufinden, das war Magnus Gertten wichtig. Lola Sylman aus Krakau zum Beispiel. Sie winkt und strahlt 16jährig in die Kamera, obwohl sie ihre ganze Familie in KZs verloren hat. Oder Trien de Haan-Zwagerman aus Amsterdam, Sozialistin und Frauenrechtlerin, die später in einem Gesundheitszentrum für Frauen arbeitete.
Ein Gesicht in diesem Archivfilm hat es Gertten besonders angetan: Das der damals 43jährigen, polyglotten Nadine Hwang, geborene Hwong, belgisch-chinesischer Herkunft, in Spanien und China aufgewachsen, dann nach Europa gezogen. Per Zeitlupe verlängert Gertten den Eindruck, den Hwang auf ihn macht, so dass aus zwei Original-Sekunden ein unverwandter langer Blick in die Kamera entsteht. Nicht nur durch seine asiatischen Züge unterscheidet sich Hwangs Gesicht von den anderen. Unbeteiligt an den Gefühlen um sie herum wirkt es – mit nichts öffnet es sich. Und standhaft schaut Nadine in die Kamera, Auge um Auge. Obwohl sie noch ihre gestreifte Gefangenen-Kleidung trägt, wirkt sie frappierend nobel, als trüge sie sie freiwillig. Etwas kühn vermutet der Regisseur an dieser Stelle im Voice Over, dass er inzwischen wüsste, was in Nadines Kopf vorgegangen war: Sie dächte an Nelly, behauptet er. Dabei ließ er aus der Aufnahme den Moment weg, als Nadine dann wirklich kurz wegschaute, mit einem Anflug von spöttischem Lächeln, als würde sie ungern angestarrt werden wie im Zoo. Zweifellos muss Hwang dieses Gefühl in Europa gut gekannt haben.
Aber das ist nicht Gerttens Thema. Er interpretiert Nadines Blick auf seine Weise und leitet über zu Nelly Mousset-Vos, die 39-jährig wenig später in Mauthausen befreit wurde. Was Nelly und Nadine verbindet – das ist das Thema des Films. Gerttens zentrale Quelle für seine Geschichte ist Nellys Enkelin, Silvie Bianchi, die mit ihrem Mann auf einem Bauernhof in Nordfrankreich lebt und arbeitet. Dort auf dem Küchentisch breitet Bianchi, die ihrer Großmutter verblüffend ähnlich sieht, die Dokumente aus Nellys Leben aus. Gefunden hat sie sie auf dem Dachboden, in einem Koffer. Vielleicht brauchte es den Abstand von zwei Generationen. Doch selbst Silvie zögerte bisher, sich dem Inhalt des Koffers zu stellen. 20 Jahre, sagt sie, hätte sie es immer wieder aufgeschoben. Das Geheimnis in der Familie war immer noch die wahre Natur des Zusammenseins von Nelly und Nadine. Dass sie ein Liebespaar waren und 1949 nach Caracas zogen, wo sie zusammenleben konnten, ohne dass jemand nachfragte. Cousinen seien sie, verbreiteten sie selbst gern, und in der Familie galten sie als „gute Freundinnen“. Silvies Mutter, Nellys Tochter, sprach nicht darüber.
Zwei Lebenswege zu verfolgen, die schließlich miteinander verschmelzen, ist kein leichtes dokumentarisches Unterfangen. Dabei überwiegt Nellys Perspektive, schon wegen der Tagebücher, die sie seit ihrer Verhaftung 1943 geführt hatte, erst in Polizeigewahrsam in Brüssel, später im KZ Ravensbrück und im KZ Mauthausen. Diese Notizen vermitteln seltene, unmittelbare Eindrücke aus dem KZ-Alltag. Es ist ein Unterschied, ob man Fotos von Gefangenen im Lager sieht oder ob man in den eigenen Worten einer von ihnen erfährt, wie sie sich dort fühlte. Ob man im berüchtigten Steinbruch von Mauthausen die dichten Reihen von Versklavten auf der „Todesstiege“ abgebildet sieht oder ob eine von ihnen beschreibt, wie sie den Granit nicht mehr tragen kann und hinwerfen will und wie eine andere sie stützt und mit sich zieht.
Und wir erleben in Nellys Notizen den Moment, als sie Nadine im KZ begegnet und sich sofort in sie verliebt. Weihnachten 1944, erfahren wir, soll die ausgebildete Sängerin Nelly auf SS-Befehl Lieder vortragen. Ein Liedwunsch aus dem Dunkel der Baracke kommt von Nadine: eine Arie aus „Madame Butterfly“. Die Ironie der Trennung von Männern und Frauen in der KZ-Logik ist, dass es für queere Paare unter Umständen sogar leichter gewesen ist, die Liebe wenigstens ein bisschen zu leben. Nelly und Nadine blieben nur zwei Monate dafür, dann musste Nelly nach Mauthausen. Wie sie sich nach der Befreiung wieder trafen, bleibt unklar. In Caracas dann, so erzählen die Super-8-Filme aus Nellys Nachlass, lebten sie ein freies, lichtdurchflutetes Leben in einer gemeinsamen, schön eingerichteten Wohnung, mit Freundeskreis und festen, guten Jobs. Eine Lebensliebe, die bis zu Nadines Tod 1972 an ihrem späteren gemeinsamen Lebensort Brüssel hielt.
Das Großartige des Films ist, dass er so viele Facetten aus seiner Geschichte herausholt und sie filmisch spannend in Szene setzt. Es geht um Widerstandsarbeit gegen die Nazis, um ein Tagebuch unter Ausnahmebedingungen, um offen und versteckt queeres Leben, um KZ-Alltag und Rettung durch das Rote Kreuz, um Migration und Familiengeheimnisse, um das Leben auf dem Land, um einen Dachboden.
Der Film interviewt neben Silvie noch andere. Besonders berührend ist die Begegnung mit Irene Krausz-Fainman, die als Kind Nadine im KZ Ravensbrück kennengelernt hatte und aus einem guten Grund später ihre eigene Tochter Nadine nannte. Die Haupterzählerin selbst, Nellys Enkelin, fällt durch ihre Zurückhaltung auf, ihren fernen Blick. „Nelly und Nadine“ ist ein Film, der bei aller Dokumentation etwas geheimnisvoll bleibt. Der Nebel über Silvies Feldern passt dazu.
Nelly & Nadine
von Magnus Gertten
SW/BE/NO 2022, 92 Minuten, FSK 0,
französisch-englisch-spanisch-schwedische OF mit deutschen UT
Ab 24. November 2022 im Kino