Bones and All

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Der neue Film von Luca Guadagnino gilt spätestens seit seiner umjubelten Weltpremiere in Venedig als gesetztes Highlight des Kinosherbsts – nicht nur, weil wieder Timothée Chalamet, der derzeit wohl größte Filmstar seiner Generation, eine der Hauptrollen spielt. Doch wie passt das romantische Road Movie über die Liebe zwischen zwei jungen Kannibal:innen im Reagan-Amerika zu Guadagninos letzten Filmen, dem schwulen Erweckungsdrama „Call Me By Your Name“ (2017) und dem referentiellen Horrorfilm-Remake „Suspiria“ (2018)? Für Philipp Stadelmaier geht es in allen drei Fällen um das Ende der Unschuld.

Foto: Yannis Drakoulidis / Metro Goldwyn Mayer Pictures / Warner Bros.

Fressen und Gefressenwerden

von Philipp Stadelmaier

Die Reise der Kannibalin beginnt an einer High School im Osten der Vereinigten Staaten, im leeren Raum eines Schultheaters, am Klavier. Dort sitzt eine Schülerin, die Maren (Taylor Russell) zu einer Pyjama-Party einlädt, aber Maren ist skeptisch, ihr Vater wird ihr das Ausgehen sicher verbieten. Der scheint tatsächlich darauf zu achten, dass sie nachts nicht  das Haus verlässt, was Maren dann doch tut. Die Mädchen lackieren sich die Nägel, Maren und die Gastgeberin liegen, ein wenig geschützt vor den anderen, unter dem Tisch. Eine Annäherung bahnt sich an. Maren nimmt die Hand ihrer Freundin, führt sie zum Mund, nimmt einen Finger zwischen ihre Zähne – und beißt zu. Geschrei. Die Beißerin spukt den blutigen Finger aus, rollt sich unter dem Tisch hervor und flieht.

Der neue Film von Luca Guadagnino, „Bones and All“, beginnt nur wie ein queerer Teenie- und Coming of Age-Film. Das Ganze spielt in den 1980er Jahren: Eine junge Frau entdeckt ihre Homosexualität, könnte man meinen, ebenso wie Timothée Chalamet in Guadagnino berühmtestem und bislang schönstem Film, „Call Me By Your Name“, der in derselben Zeit spielt, nur nicht in Amerika, sondern in Italien. Und doch erweist sich „Bones and All“ schnell als genaues Gegenteil dieser sinnlichen Sommerromanze von 2017, nicht nur, weil die Homosexualität dann doch eher eine Randerscheinung bleibt, sondern weil es um Kannibalismus geht. Maren hat diesen unwiderstehlichen Trieb, sich menschliches Fleisch einzuverleiben. Ihr alleinerziehender Vater versucht, ihr dennoch ein einigermaßen „normales“ Leben zu ermöglichen, wozu eine rigorose Einschränkung sozialer Kontakte sowie regelmäßige Orts- und Identitätswechsel gehören, wenn Maren mal wieder jemanden gebissen (oder gegessen) hat. Als Maren an diesem Abend blutverschmiert zurückkommt, müssen sie wieder abhauen, doch am nächsten Tag ist der Vater verschwunden. Er hält es nicht mehr aus und überlässt das junge Mädchen sich selbst, das fortan alleine durch Reagans Amerika reist, von Bundesstaat zu Bundesstaat, von Leichenschmaus zu Leichenschmaus.

Dabei trifft sie zwei weitere Kannibalen. Zum einen den älteren Sully, der ihr eröffnet, dass es im ganzen Land viele gibt, die „so sind wie sie“, und sie mit seinem eigenen Ethikcode vertraut macht: „Never eat an eater!“ Gespielt wird er vom Spielberg-Schauspieler Mark Rylance, der aussieht wie eine Native-American-Variante von Joseph Beuys (wobei Beuys ja selbst schon so aussah) und zunächst wie ein zartes, aber auch ziemlich unheimliches Monster wirkt, wobei letztlich die unheimlichen Aspekte überwiegen. Der andere Kannibale namens Lee, zu dem Maren eine romantische Freundschaft entwickelt, ist jung, sexy und wird von keinem geringeren gespielt als Chalamet selbst, der hier sein Image des schönen Jünglings ordentlich durch den Fleischwolf dreht (wobei er am anderen Ende immer noch als schöner Jüngling herauskommt, so sehr er sich auch anstrengen mag).

Lee läuft gerne mit nacktem Oberkörper herum (wie Chalamet bei den Oscars), von dem man das verspritzte Blut jederzeit gerne ablecken würde, und setzt seine Bisexualität gewinnbringend für seine Menschenfleischsucht ein. Erzählte Guadagnino in „Call Me By Your Name“ die Annäherung zwischen ihm und Armie Hammer noch wunderbar indirekt über aufgeschlagene Frühstückseier und zerdrückte Pfirsiche, wird nunmehr ein auf dem Jahrmarkt verführter Budenbesitzer am dunklen Maisfeld noch während des Handjobs relativ umstandslos geschlachtet und verspeist, als wolle Chalamet seinen sanften Auftritt in „Call Me By Your Name“ endgültig aus dem Gedächtnis der Zuschauer:innen reißen.

Diese Abgründigkeit ist nicht neu bei Guadagnino. Wie in „Suspiria“ (2018) oder in seinem Kurzfilm für die Modemarke Valentino, „Staggering Girl“ (2019, mit Julianne Moore), steht auch hier wieder die Figur einer mythischen und unheimlichen Mutter im Zentrum, die Maren auf ihrem blutigen Roadtrip quer durch die USA sucht und die sie an der Wurzel ihrer unheilvollen Veranlagung vermutet. Und wie die hexenhafte Tänzerin aus „Suspiria“ wird auch Maren von Träumen und Visionen begleitet: Kantige und scharfe Flashbacks von hochsymbolischen Bildern dringen von außen in ihre Intimität ein, so wie sie mit ihren Zähnen in das Fleisch ihrer Opfer.

Foto: Yannis Drakoulidis / Metro Goldwyn Mayer Pictures / Warner Bros.

Tatsächlich besteht die „Signatur“ von Guadagnino, der einst sein Studium der Literatur und Filmgeschichte mit einer Arbeit zum „Schweigen der Lämmer“-Regisseur Jonathan Demme abschloss, in dieser – plakativen, aber raffiniert abgewogenen – Mischung aus Romantik und Horror, Zartheit und Schärfe, Eleganz und Blut. Egal, ob in „Call Me By Your Name“, in „Suspiria“ oder auch hier: Das Grundthema ist stets die – sexuelle – Intimität und die Gewalt, die in der (gewollten, aber auch gefürchteten) Übertretung der Intimität besteht. Was die Filme zu Initiationsfilmen macht (Bertolucci ist ein anderes Vorbild des Regisseurs), in denen die Unschuld irgendwann aufgegeben, der sexuelle Akt immer auch mit einer Einverleibung konnotiert ist. „They’ll eat my cunt on a plate“, hieß es schon in „Suspiria“.

Schon der brutale Machtkampf unter den Hexen und die Blutorgie am Ende von „Suspiria“ waren jedoch, zumindest teilweise, auch eine Projektion des von Tilda Swinton gespielten Psychologen, der sich für die Ermordung seiner jüdischen Frau durch die Nazis verantwortlich fühlte. Und auch das Blut, in dem Maren und Lee baden, ist eher das Zeichen ihrer Unschuld in einer schuldigen Gesellschaft. Was sich unter anderem in Begegnungen on the road mit Hillbillys zeigt, die nun wirklich alles vom Körper essen – bones and all – sowie in der Tatsache, dass beide auf die eine oder andere Weise von der Brutalität in ihren Familiengeschichten geprägt sind. Sie sind Kannibal:innen wider Willen, gebrandmarkte Kinder einer Ära der sozialen Kälte und des Neoliberalismus, in der der Einzelne zum natürlichen Feind alle anderen wird, sie „fressen“ muss (literarisch und metaphorisch), um selbst zu überleben (aus Machtgier oder schierem Hunger).

Foto: Yannis Drakoulidis / Metro Goldwyn Mayer Pictures / Warner Bros.

Wie die meisten Figuren von Guadagnino wollen nun Maren und Lee sich eine eigene Welt aufbauen und zu einer autonomen, selbstbestimmten Lebensweise gelangen, jenseits der äußeren Geschichte, der äußeren Genealogie, der Tradition der Familie. Daher ist der Raum, den sie durchreisen, weniger äußerlich als imaginär. Die durchreisten Bundesstaaten werden graphisch eigenwillig reduziert auf halbtransparente Abkürzungen, wie VA für Virginia oder OH für Ohio, die unvermittelt im Bild auftauchen, um sofort wieder zu verschwinden, als hätte man sie kaum gesehen. Andererseits zeigt sich in dieser gespenstischen Erscheinung der Zeichen eine Rückkehr des unausgeschriebenen Territoriums, das ins Bild zurückdrängt, durchsichtig, aber unauslöschlich. Wie die Erinnerung an den äußeren Horror, an die Unmöglichkeit, den Umständen zu entkommen, ihre Brutalität hinter sich zu lassen, ein „normales“ Leben zu führen.

Natürlich kann der Horror, dem Beginn des Films folgend, auch als Schauder einer erwachenden Homo- oder Bisexualität in einer heteronormativen Gesellschaft gelesen werden, der queere Personen zu „Kannibalen“ mutieren lässt, die jegliche „natürliche“ Beziehung zum Fleisch ihrer Mitmenschen vermissen lassen. Die Allegorie liegt nahe, aber dann auch wieder nicht. Denn letztlich streift der Film die queeren Elemente nur, eliminiert sie schnell wieder und etabliert zwischen Maren und Lee eine Hetero-Teenie-Romanze, ohne dass Guadagnino sich vorwerfen lassen müsste, nur heterosexuelle Figuren zu zeigen, da beide ja ebenso gut als bi gelesen werden können. Diese Ambivalenz war in „Call Me By Your Name“ noch abwesend. Hier war das Verlangen zwischen den beiden Männern real, die Schwierigkeiten schwuler Liebe im Italien der Achtzigerjahre ebenfalls, die Bilder sinnlich und klar. Mit „Suspiria“ verdunkelt sich das Bild, während das Verlangen artifiziell und der Horror zur (allzu) offenen Metapher für alles Mögliche wird: für die Sexualität, die Geschichte und ihre Verbrechen, die Gewalt in der Gesellschaft oder die mythischen Fundamente der Existenz. In „Bones and All“ ist der Horror vor allem ein dekoratives Kostüm, mit dem der Mode-Regisseur (und Regisseur à la mode) seine jungen und attraktiven Schauspieler:innen einkleidet. Er lässt ihre Unschuld sexy, blutig, dirty erscheinen – und die Gräuel, die sie begehen oder begehen müssen, fast unschuldig und rein.




Bones and All
von Luca Guadagnino
US/IT 2022, 130 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT

Ab 24. November im Kino

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