McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

Buch

Nicht weniger als ein neues Literaturgenre wollte die Kulturwissenschaftlerin McKenzie Wark mit ihrem 2020 erschienenen Memoir „Reverse Cowgirl“ etablieren. In dem Buch lässt sie ihr Leben abseits eindeutiger Zugehörigkeiten zu Szenen, Identitäten und Geschlechtern Revue passieren. Wo keine Norm greift, tun es auch gängige Literaturkategorien nicht, also postulierte die Autorin „another genre for another gender“ und rief mit „Reverse Cowgirl“ die Geburt der „Autoethnographie der Undurchsichtigkeit unseres Selbst“ aus. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung des Buches hat Anja Kümmel sich in die Wark’sche Orgie aus Erinnerungen, philosophischen Zitaten und sexuellen Eskapaden hineingeworfen und einen durch und durch queeren Text entdeckt, der unabhängig von kleineren Schwächen tatsächlich das Prädikat „unvergleichlich“ verdient.

Biografie des Geficktwerdens

von Anja Kümmel

In Newcastle, einer australischen Hafenstadt in der Nähe von Sydney, die von der Kohle- und Stahlindustrie lebt, gibt es in den 1960er Jahren für Heranwachsende kaum etwas anderes zu tun als zu surfen. Oder besser gesagt: Die Jungs surfen, die Mädchen hängen am Strand rum und bewundern die surfenden Jungs. Blöd nur, wenn man wie die autofiktionale Erzählfigur in McKenzie Warks Memoir „Reverse Cowgirl“ mit zwei Klumpfüßen zur Welt kam und sich keinem der beiden offiziell anerkannten Geschlechter zugehörig fühlt. Zum Glück gibt es noch das Fernsehen, und mit ihm das Versprechen: „Irgendwo anders gibt es einen Wald der Träume, der Sehnsüchte, wo Liebe und Stil und Kommunismus ihren Platz haben.“

Dann kommen die 70er, die der Jugend zwar schon wieder eine Entscheidung zwischen genau zwei Optionen (Punk oder Disco) abverlangen, zumindest jedoch eine gewisse Akzeptanz von Unisex-Mode mit sich bringen. Diese erlaubt es Warks Erzählfigur, sich in Anlehnung an ihr Idol David Bowie als schillernd-androgynes Wesen in die „Welt der Häute und Zeichen“ einzuschreiben. Auch wenn noch ein paar Jahrzehnte vergehen werden, bis sich die Medienwissenschaftlerin und Kulturphilosophin McKenzie Wark als trans outen wird: Der Ton ist gesetzt.

Zunächst einmal dreht sich alles in rascher Abfolge um sehr viel Sex – was bei dem suggestiven Buchtitel wenig verwundert. Die oft sehr kurzen, manchmal auch etwas längeren Kapitel sind ähnlich explizit überschrieben („Locker Room Talk“, „Beobachten, wie du beobachtest, wie er mich fickt“, „Die Kunst der Zirklusion“) und gehen durchaus deftig ins Detail. Da ist die erste große Liebe Glen, „schwul, Aboriginal und Kommunist“; die Hard Femme Leslie während des Studiums in Sydney, die das Erzähl-Ich ohne Umschweife spüren lässt: „Ich war ihr Mädchen“; der hedonistische Sugardaddy Edward, dem weitere Gönner folgen; und schließlich der Umzug nach New York und die Ehe mit der Künstlerin und Autorin Christen Clifford, während der sich Wark als trans outen wird.

McKenzie Wark – Foto: Z. Walsh / © McKenzie Wark

Mal sinnlich, mal drastisch, mal schmerzhaft, mal komisch liest sich die schwindlig machende Orgie, in die Wark uns hineinwirft. Auch wenn Zitate von Kathy Acker, Oscar Wilde, Guy Debord oder Monique Wittig die pornographischen Passagen durchziehen, flirrt der Kontext oft nur am Rande, und es dauert eine Weile, bis sich die Puzzleteile ineinanderfügen. Unvermittelt und collagehaft wie sich ständig erneuernde Posts in einem Newsfeed poppt der eklektische Chorus auf, kommentiert, relativiert, ironisiert das Geschehen. Die Metaebene muss man sich schon selbst zusammenbasteln – sicherlich nicht die schlechteste Prämisse für anspruchsvolle Literatur, die allerdings in Kauf nimmt, dass dabei manche Bezüge verloren und subtilere Facetten untergehen.

„Fick mich, bis ich nicht existiere“ lautet der Refrain von „Reverse Cowgirl“, der klar macht, dass all der Sex im Grunde um eine Abwesenheit kreist. Nicht umsonst beginnt das Buch mit einer Leerstelle: dem Tod der Mutter, als das Erzähl-Ich sechs Jahre alt ist. Das Motiv des Mangels zieht sich durch den Text – in den scheiternden Versuchen des Ichs, sich in die Existenz zu bringen, weil es „nur ungeeignete Namen“ gibt; im Vergleich des eigenen Seins mit einer Geheimnummer, die niemand (an-)rufen kann; und immer wieder in Sex, der nach Auslöschung strebt.

Das große Wagnis und die große Stärke des Buches liegen darin, das vorbewusste Trans-Sein des Ich nicht als lineare Bewegung auf einem Spektrum von Mann zu Frau zu erzählen, sondern als Nicht-Existenz. Damit postuliert Wark sicherlich keine allgemeingültige Erfahrung, aber doch eine, die sich beim Lesen wahrhaftig und authentisch anfühlt – zumindest nicht weniger wahrhaftig als das klassische Transitions-Narrativ vom „Ankommen im richtigen Geschlecht“, vom „Immer-schon-gewusst-Haben“. Bei Wark gibt es kein Schicksal, das im Verborgenen schlummert und sich erst manifestieren muss. Sie präsentiert ihre Geschichte zwar vage chronologisch, aber nicht prozesshaft, sondern als Abfolge von Schlaglichtern auf jene Momente „der Euphorie, für einen Augenblick der Geschlechtlichkeit überhaupt zu entlupfen, einen anderen Körper außerhalb der Geschlechterschwerkraft zu entwerfen. In einem nichtexistenten Gender nicht zu existieren, auf einer Femme-Phantasmagorie von Häuten und Zeichen zu schweben“.

Wie smooth sie dabei die Register von pornographisch zu poetisch zu philosophisch wechselt, erinnert an große queere Autofiktion à la Maggie Nelson, Paul B. Preciado (die beide zitiert werden) oder auch Ocean Vuong. Dass Wark dabei die Perspektive verengt auf einen Blick durchs Schlüsselloch – dorthin, wo normalerweise nicht so genau hingeschaut wird, es sei denn zur Lustbefriedigung, nicht jedoch mit analytisch geschärftem Blick –, ist eine bewusste Entscheidung, die das Buch erfrischend von anderen Trans-Narrativen abhebt.

Die vielschichtigen Dynamiken des Begehrens, das Oszillieren der Gender-Rollen und Hierarchien, die in oder vermittelt von Sexualität aufscheinen, versteht Wark meisterhaft auszuloten und in Worte zu fassen: „Edwards Schwanz würde mein Inneres an seine Grenzen pressen, etwas anschieben, das, wenn man es von innen gegen die Haut presste, ein Wesen werden würde, das ich benennen könnte, das ich als Ich benennen könnte“. Der Zwiespältigkeit ihrer Rolle als „ein Ding, das für sein Dingsein lebte“ (und sie damit implizit als weiblich markiert) ist sich die Erzählfigur durchaus bewusst. Doch die Festschreibung Weiblichkeit = Passivität zu transzendieren, ist in der „Welt der Klon-Männer“ (wie Wark die Schwulenszene der 80er Jahre nennt) weder vorgesehen noch überhaupt denkbar. Ganz zu schweigen von der Kluft, die sich auftut, „wenn der Körper, in dem ich gefickt werden wollte, und der Körper, den Edward ficken wollte, nicht derselbe waren“.

Erkenntnisreich, lustvoll und manchmal auch sehr lustig liest sich der wilde Mix aus Pornographie und Existenzphilosophie, der sämtliche literarische Grenzen sprengt. Nach vielen Aha-Momenten in der ersten Hälfte beginnt sich Warks Biografie des Geficktwerdens allerdings gegen Ende ein bisschen repetitiv anzufühlen, wie, nun ja, ein Porno, der sich auf mehrere Stunden ausdehnt.

In einem Mailaustausch mit Chris Kraus, den Wark im Buch wiedergibt, bringt Kraus Überarbeitungsvorschläge für das Manuskript an. Unter anderem schlägt sie vor, eine „Szene/Tirade/Abschweifung“ einzubauen, „die nicht das zentrale Motiv der Sexualität betrifft“, sondern die vielen Subthemen weiter ausführt. Unklar bleibt, ob Wark ihrem Ratschlag gefolgt ist – bei der Lektüre jedenfalls möchte man Kraus zustimmen: dass es schön gewesen wäre, über die vielen lediglich angerissenen Aspekte, die vermutlich ebenso bedeutsam für das Navigieren der eigenen Identität waren, mehr zu erfahren. Etwa: Das Verhältnis zum Vater, zu den Geschwistern, die Bedeutung der eigenen Elternschaft; die Variationen über das Motiv der Spinne, die immer wieder auftauchen, ob nun als Bowies „Spinnen vom Mars“, als Arachne-Mythos, oder ganz prosaisch in Form zweier Menschen, die nach dem Sex ermattet im Bett liegen, als ineinander verschlungenes Wesen mit acht Gliedmaßen; die Sage von Orpheus und Eurydike; die großen Themen Zeit und Tod. Selbst der politische, popkulturelle, modische und musikalische Background bleiben in „Reverse Cowgirl“ kaum mehr als eine blasse Hintergrundfolie. Man hätte sich mehr davon gewünscht, gerade weil McKenzie so gewitzt, bezugsreich und zugleich berührend schreiben kann.

Doch natürlich sind knapp 230 Seiten notwendigerweise selektiv. Dafür gibt diese mutige Autoethnografie einer oft unterschlagenen, wahrscheinlich weil nicht immer angenehmen Tatsache umso mehr Raum: dass wir nie aufhören, uns selbst ein Rätsel zu sein – auch nachdem wir die richtigen Pronomen und einen zu uns passenden Namen gefunden haben.




Reverse Cowgirls
von McKenzie Wark
aus dem Englischen von Johanna Davids
Hardcover, 240 Seiten, € 20,
August Verlag

 

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