Besties

TrailerQueerfilmnacht/Kino

In ihrem Debütfilm „Besties“ variiert die französische Regisseurin Marion Desseigne Ravel „Julia und Julia“ in einem Pariser Vorort: Nedjma zieht mit ihren Freundinnen durch die Straßen, die Gang ist wie ihre zweite Familie. Als sie Zina, die Neue in der Nachbarschaft, zum ersten Mal sieht, ist sie sofort verknallt. Das Problem ist nur, dass Zina zur verfeindeten Clique gehört. Nedjma ist hin- und hergerissen: zwischen der Loyalität zu ihrer Gruppe und dem Begehren für Zina, das mit jeder Nacht, die sie heimlich zusammen verbringen, größer wird. Anne Küper über einen queeren Liebesfilm aus Frankreich zwischen sozialem Realismus und leiser Hoffnung.

Foto: Salzgeber/Denis Manin

Nachtigall, trapsend

von Anne Küper

Manche Dinge stehen im Leben von Nedjma einfach fest. Zum Beispiel, dass sie die Wohnung nie ohne Kopfhörer und Smartphone verlässt. Dass sie das Liederraten gegen ihre Mitstreiter:innen jeweils schon nach ein paar Takten gewinnt. Dass sie bei guten Wetter jede freie Minute im Park vor dem Hochhaus verbringt, in dem sie aufgewachsen ist. Und dass sie oft auf ihre kleine Schwester Leila aufpassen muss, weil die vermehrt mit den Jungs aus der Siedlung flirtet, obwohl sie dafür noch nicht alt genug ist. Denkt Nedjma zumindest, die endlich ans Meer fahren will, vielleicht mit den besten Freundinnen, vielleicht nach Dieppe, die Stadt mit den vier Häfen an der Alabasterküste, wo die Kreidefelsen das Ufer des Ärmelkanals säumen und die Luft total gesund sein soll. Kein Beton, keine Häuser, keine dicht aneinandergereihten Briefkästen, nur blaues Wasser und blauer Himmel, mit ein wenig Sand dazwischen.

Klar ist für Nedjma auch: Auf der grünen Bank ist es einfach nicht so schön, wie es noch vorher auf dem rosafarbenen Pendant war. Von der Sitzgelegenheit, auf der sie mit Leila, Samar und Carine eigentlich immer abhängt, sind die Mädchen durch eine andere Girl Gang vertrieben worden. Denn Nedjma hat sich mit Zina angelegt, die sie beim letzten Musikquiz schlug und unverschämterweise auf eben jener Parkbank Platz nahm. „Das ist unsere Bank“, konnte Nedjma bloß blaffen, musste doch dieses Eigentumsverhältnis bislang nicht weiter begründet werden, so selbstverständlich schien die Verteilung von Plätzen in dem Milieu, das „Besties“ erkundet. Auf den Fauxpas folgte ein Gerangel, darauf ein Handgemenge, Zinas Clique schaltete sich ein. „Das nächste Mal werde ich es ihnen zeigen“, verspricht Leila ihrer großen Schwester, während aus der sicheren Entfernung Blicke wie Pfeile die Kontrahentinnen treffen.

Der Debütfilm von Marion Desseigne-Ravel spielt zwar nicht in Verona, sondern in einem Pariser Vorort. Dennoch sind die zwei verfeindeten Gruppen als Motiv aus Shakespeares „Romeo und Julia“ ebenso erhalten geblieben wie die Schwüle des Sommers und der unglückliche Stern, unter dem das Schicksal zweier Liebender steht. Bei den Montagues und Capulets verbinden biologische Familienverhältnisse einzelne Mitglieder; in „Besties“ handelt es sich um eine überwiegend selbstgewählte Einheit, einen ersatzfamiliären Verbund auf Zeit, den Pubertäten und Zukunftsträume instabil werden lassen. Von Freund:innenschaft handelt dieser Film unbedingt, nur entgegen seines Titels weniger von einem prinzipiell harmonisch-friedlichen Verhältnis, sondern eher von den Momenten, in denen sich eine Gemeinschaft gegen ein Außen erst zusammenschließt, sich bildet, sich formiert, damit seine Individuen stärker den Eindruck haben, innerhalb einer bestimmten Umgebung bestehen zu können.

Über Räume denkt „Besties“ nach, über die Ein- und Ausschlüsse, die sich in ihnen gewaltvoll vollziehen, und darüber, welche Räume überhaupt welche Handlungen und Bewegungen, welche intimen Beziehungen und Begierden zulassen. Dabei markiert das Banlieue als Schauplatz einen Rand, an dem sich die Figuren versammeln, einen Ort der doppelten Stigmatisierung, an dem sowohl der soziale Brennpunkt selbst als auch die Projektionen auf ihn zum Problem werden. All das lässt Desseigne-Ravel mitlaufen, wenn sie Nedjma gleich zu Anfang auf ihrem alltäglichen Gang durch den Block zeigt. Die Musik auf den Ohren ordnet die Schritte durch die ihr bekannte Gegend, am Basketballfeld vorbei, die Straße entlang. Der Weg wird sich wiederholen, eine Architektur zusammensetzen. An einer Stelle im Park stehen Mal für Mal dieselben Typen und warten.

Foto: Salzgeber/Denis Matin

Kein Schulunterricht strukturiert die Leben der Jugendlichen, zumindest wird er in „Besties“ weder gezeigt noch zum Gesprächsthema. Aber es gibt ein Jugendzentrum, das Nedjma regelmäßig besucht. Die Sozialarbeiter:innen kennen sie, wissen um die Stärken (korrekte Songtitel nennen) und Schwächen (über Gefühle reden) der jungen Frau, deren Mutter aus Algerien nach Frankreich gekommen ist und alleine den Haushalt schmeißt. Mit Leila, Samar und Carine spricht Nedjma selten über das, was sie beschäftigt, kaum über die Unsicherheiten und all das Ungewisse, an dem es ihr in der aktuellen Lebensphase nicht mangelt, vor allem und erst recht nicht über Zina, die auf ihrem Instagram-Profil auffällig viele cute Selfies hochgeladen hat. Heimlich wird das Bildmaterial studiert, ein bisschen Recherche betrieben. Auf dem Flur im real life treffen sich die beiden wieder. Eine Begegnung, ein Blick, dann ein Kuss, schließlich ein Knutschen, ehe die robuste Nedjma ganz weich wird.

„Alles macht mir Angst“, gesteht sie derjenigen, die am Tag die Feindin spielt und in der Nacht ihre Liebhaberin sein darf. Nachrichten werden ausgetauscht. Der Brief ist nicht mehr das Medium der Zärtlichkeit, wie er es noch zu Shakespeares Zeiten war, gleichwohl wollen die Wörter im Whatsapp-Chat ob ihrer Reduziertheit nicht weniger sorgsam gewählt werden. Desseigne-Ravel greift gelegentlich auf Texteinblendungen und Aufnahmen im Hochformat zurück, nicht nur um diese lesbische Liebesgeschichte zu erzählen, sondern auch weil der virtuelle Raum hier allgemein andere Gesten, andere Gefühle erlaubt, als sie in der Öffentlichkeit möglich scheinen. Mit großer Selbstverständlichkeit gestalten Smartphones den Film mit, indem sie vordergründig in ihrer basalen Funktion auftreten, Menschen miteinander zu verbinden. Interessant werden sie für Desseigne-Ravel jedoch besonders aufgrund der Frage, wer wann aus welchen Kanälen herausfällt, wer sieht und wer angesehen wird, welche Mechanismen der Ausgrenzung also in solchen Infrastrukturen bemerkbar werden.

Foto: Salzgeber/Denis Matin

Das kommunikative Terrain, auf dem sich die Teenager in „Besties“ bewegen, ist kein sicherer Ort. Täuschungsmanöver, Slutshaming und Hate Speech gehören zur Tagesordnung. Mit diesen Praktiken sind sie bestens vertraut, haben die Funktionsweisen teils übernommen und verinnerlicht. Es ist Sommer und der Asphalt heizt sich auf, die Wärme staut sich. So leicht der Film in gewisser Weise beginnt, so schwer wird er zunehmend durch die Enttäuschung und die Gewalt, mit der er sich beschäftigt, die nach wie vor Teil queerer Lebensrealitäten ist. „Sie sprechen über das Sterben, aber sie lieben das Leben“, erinnert eine Kritzelei an der Wand im Aufzug, mit dem Nedjma und Zina hoch bis auf‘s Dach fahren. Ein Zelt haben sie dort aufgebaut unter dem Himmel, wo sie niemand finden kann.

Der Tod ist keine Option (wir sind halt zum Glück nicht mehr bei Shakespeare), ein Happy End hält Desseigne-Ravel für ihre Figuren nun aber auch nicht parat. Stattdessen praktiziert „Besties“ einen Rückzug in die Nicht-Sichtbarkeit für das lesbische Paar, eine Zwischenlösung – denn für alle sichtbar verliebtsein und rummachen ist für die beiden mit einer Vorstellung von einem „guten Ruf“ unvereinbar. „Hier ist alles echt“, schwört Nedjma, die nur mit Zina zusammen so sein kann, wie sie will, während die Lichter der Stadt hübsch funkeln. Bloß abseits von diesem selbstgebauten Liebesnest, können die beiden nicht zu zweit gesehen werden. „Draußen kennen wir uns nicht“, vereinbaren sie. Es ist Nedjmas Idee, Zina kann nur nicken. Die Sprache fehlt plötzlich in dieser Tragödie.

Sie wollen es so probieren: „Und dann sehen wir weiter“, hält Nedjma fest. Vielleicht steckt in diesem Satz eine Wahrheit und keine Mutlosigkeit? Vielleicht tatsächlich eine kleine Hoffnung? Er fühlt sich anders an beim Schauen – wie ein Schlag, laut und dumpf, mit dem mich die Regisseurin aus ihrem Film verabschieden möchte. Ich weiß noch nicht, wo ich getroffen wurde, als sich auf einen Schnitt hin Ort und Zeit verändern. Wieder im Jugendzentrum, Nedjma schaut auf das Handy. Sie lächelt – und schaut kurz in die Kamera, als hätten wir beide ein Geheimnis, als hätte ich sie nicht schon seit einiger Zeit durchschaut und würde mich nicht weigern, ihr Spiel des Täuschens, des Verbergens und Versteckens noch länger mitzuspielen. Es war die Nachtigall, nicht die Lerche. So muss es gewesen sein.




Besties
von Marion Desseigne Ravel
FR 2021, 80 Minuten, FSK 12,
französische OF mit deutschen UT

Im Juni in der Queerfilmnacht und ab 20. Juni im Kino.

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