Breaking the Ice

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Clara Stern erzählt in ihrem Debütfilm von einer jungen Frau, die sich traut, anderen zu vertrauen – und so erwachsen wird: Mira ist Anfang 20 und lebt fürs Eishockey. Auf dem Eis hat sie die Kontrolle und kann die Sorgen um ihren dementen Opa und die Arbeitsbelastung auf dem elterlichen Weingut vergessen. Doch Theresa, die Neue im Team, lockt Mira nach und nach aus ihrer Deckung. Als dann auch noch ihr lange verschollener Bruder Paul wieder auftaucht und alle drei sich im nächtlichen Wien verlieren, fasst Mira den Entschluss, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen – und sich neu zu erfinden. Beim Filmfestival Max Ophüls Preis gab es für „Breaking the Ice“ gleich drei Auszeichnungen: den Preis der Jugendjury, den Preis für den gesellschaftlich relevanten Film und den Drehbuchpreis. Anja Kümmel über einen vielstimmigen Coming-of-Age-Film aus Österreich, der queere Selbsterkundung als Spiel mit verschiedenen Identitätsentwürfen erzählt und zugleich den Blick ins Vergangene richtet.

Foto: Salzgeber

Drachen in Schutzpanzern

von Anja Kümmel

„Breaking the Ice“ – ein solch plakativer Titel lässt vermuten, dass einem in den nächsten 100 Minuten die Metaphern mit dem Holzhammer (oder treffender: dem Eishockey-Schläger) eingebläut werden wie nichts Gutes. Man denkt an eisiges Schweigen, das allmählich Risse bekommt, ein langsames Auftauen emotionaler Kälte, zwei Fremde, die einander unerwartet näher kommen. Und tatsächlich spielt die österreichische Regisseurin Clara Stern nicht nur auf einen der zentralen Schauplätze ihres Langfilmdebüts (die Eishockeyfläche) an, sondern ihre Figuren scheinen in einer inneren Starre gefangen, die einen spürbaren Eishauch durch beinahe jede Szene wehen lässt.

Mira ist Anfang zwanzig und Kapitänin des Eishockey-Teams „Dragons“, das sie mit strengem Regiment führt: Jeder Regelverstoß wird in ein Strafregister eingetragen, jede Minute Verspätung kostet einen Euro. Wortkarg und mit Pokerface marschiert sie durch die Umkleide. Von Teamgeist ist bei den „Dragons“ wenig zu spüren: Die Spielerinnen mustern einander misstrauisch bis missgünstig und nutzen jede Gelegenheit für einen gehässigen Seitenhieb. Als dann auch noch die Trainerin hereinkommt und die Mannschaft mit herrischem Tonfall zusammenstaucht, fühlt man sich beinahe an die strenge Oberin aus dem Lesben-Klassiker „Mädchen in Uniform“ erinnert, ein Echo des preußischen Drills, der jede Schwäche, jede Gefühlsregung abtötet.

Dass man die Luft angehalten, die Zähne zusammengebissen und sämtliche Muskeln angespannt hat, merkt man erst, als sich der Körper plötzlich zu lockern beginnt und der Atem wieder frei fließt: In dem Moment nämlich, als die Spieler:innen aufs Eis gleiten und ein rasantes Match hinlegen, das selbst für Zuschauer:innen, die von Eishockey keine Ahnung haben, allein aufgrund seiner kraftvollen und zugleich anmutigen Dynamik beeindruckt. Doch ist es eben eine anonyme Choreografie, bei der sich die Körper unter dicker Schutzkleidung und die Gesichter hinter Gittern verstecken, die jede Individualität ausradieren.

Der Eindruck von Anonymität und Opazität hebt sich auch dann nicht auf, als wir Mira kurz darauf beim Date mit einer Frau sehen. Wie sie sich für das Treffen schminkt und kleidet, wirkt in etwa so nüchtern, pragmatisch und professionell, als würde sie sich ihren Schutzhelm aufsetzen und das Visier herunterklappen, bevor sie das Eis betritt. Ihr lesbisches Begehren lebt Mira offensichtlich nur im Geheimen aus, flüchtig und ohne große emotionale Beteiligung.

Foto: Salzgeber

Doch ist es nicht das einzige Parallelleben, von dem die „Dragons“ nichts wissen. Denn wieder eine andere Persona streift sich Mira auf dem elterlichen Weingut im Burgenland über. Mit ähnlich schmallippiger Strenge wie sie ihr Eishockey-Team führt Miras Mutter den Familienbetrieb, in dem die Tochter, wenn sie nicht gerade trainiert, fleißig mithelfen muss. Miras Großvater indes wird durch seine fortschreitende Demenzerkrankung von der helfenden Hand mehr und mehr zu einer zusätzlichen Last. Zugleich ist er der einzige, der das eisige Schweigen, das sich zwischen Mutter und Tochter etabliert hat, immer wieder bricht – eben weil er ständig vergisst, worüber nicht gesprochen werden darf. Ein traumatisches Ereignis lastet auf der Familie, und eine der Leerstellen ist Miras Bruder Paul. Umso bitterer die Ironie, dass Miras Mutter jedes Gespräch über den verschwundenen Bruder verweigert, während Mira ihrem Opa jeden Tag aufs Neue erklären muss: „Paul kommt nicht.“

Aber dann kommt Paul doch. Aber ist es überhaupt Paul? Ein junger Mann steht eines Tages vor der Sporthalle, in der Mira trainiert, und taucht im Folgenden immer wieder an unerwarteten Stellen auf, in verschiedenen Verkleidungen und unter verschiedenen Namen, mit einem schier unerschöpflichen Fundus an fiktiven Biographien im Gepäck. Eine Art Puck scheint dieser Paul – oder auch Nicht-Paul – zu sein. Nein, kein Eishockey-Puck (obwohl auch diese Anspielung gepasst hätte), sondern eine moderne Version jener geschlechtlich uneindeutigen, meist unsichtbaren Sagengestalt, die sich den Menschen nur selten offenbart – meist, um ihnen die eine oder andere Lektion zu erteilen.

Foto: Salzgeber

Doch Paul ist nicht der einzige, der Miras Routinen ins Wanken und ihre toughe Fassade zum Bröckeln bringt. Da ist auch noch Theresa aus Salzburg, die Neue im Team, die nicht nur den mangelnden Teamgeist der „Dragons“ anprangert, sondern überdies jede Menge unbequeme Fragen stellt: Warum werden Eishockeyspielerinnen schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen? Warum kommen zu den Spielen der Frauen kaum Zuschauer:innen? Mira, das spürt man sofort, fühlt sich von der Neuen provoziert. Aber auch angezogen.

So weit, so gut. Die Katalysatoren der Veränderung sind da, das Eis bekommt Risse, das Schweigen bricht auf. Und so könnte es ganz smooth weitergehen: Alle lösen sich aus ihrer Erstarrung, blühen auf und finden zu sich selbst. Happy End. Doch zum Glück bedeutet der Wendepunkt im Film auch einen Kippmoment für die Titelmetapher. Die vorhersehbare Symbolik des brechenden Eises fächert sich auf, um ein komplexeres Bild der nun in Fluss gebrachten Identitäten zu zeichnen. Dafür rückt ein weiteres zentrales Motiv, das bereits als Unterströmung angelegt war, in den Vordergrund: das Verkleiden und Rollenspielen, die Maskerade, das Ausprobieren verschiedener Geschlechterrepräsentationen. Warf sich Mira anfangs für ihr Date in eine feminine Schale, probiert sie später zu Hause vor dem Spiegel maskuline Posen. In einer Szene trägt sie das Hemd und die Mütze ihres verschwundenen Bruders, in einer anderen ein Sakko ihres Opas. Vermutlich ist es kein Zufall, dass sie sich die Kleidung der abwesenden Männer ihrer Familie überstreift – denn es geht hier nicht nur um Drag, Show und Spaß, sondern auch um ein Ausloten tradierter (Geschlechter-)Rollen, um Erwartungen, Zwänge und Sehnsüchte, die von Generation zu Generation transportiert werden.

Foto: Salzgeber

Damit wirft Stern eine interessante Fragestellung auf, die ein anderer queerer Coming-of-Age-Film, der aktuell im Kino zu sehen ist, unter anderen Vorzeichen verhandelt: Geht es in Hannes Hirschs Langfilmdebüt „Drifter“ um einen männlich sozialisierten Protagonisten im Großstadtdschungel Berlin, so vollzieht „Breaking the Ice“ eine ganz ähnliche Reise für eine weiblich sozialisierte Figur in der österreichischen Provinz nach. Die Fragen, die sich die beiden jungen Menschen auf dem Weg des „Erkenne dich selbst“ stellen, bzw. denen sie sich stellen (müssen), weisen deutliche Parallelen auf: Kommt mein „wahres Ich“ zutage, wenn ich eine Maske abnehme – oder eine aufsetze? Welche Codes und Normen regieren das, was ich verkörpere? Kann die Neuerfindung der eigenen Identität, die in der queeren Welt oft als emanzipatorischer Akt, als mutige Selbstsetzung gefeiert wird, auch eine Verleugnung des Gewesenen, ein Weglaufen vor der eigenen Verantwortung bedeuten? Mira, Paul und Theresa bilden die Pole, anhand derer Stern diese teils komplementären, teils konträren Aspekte der Identitätsfindung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Dabei scheint Theresa vor allem als Prozessbeschleuniger für Miras Selbsterkundung zu fungieren – die Romanze zwischen ihnen läuft eher im Hintergrund mit und bleibt recht blass.

Foto: Salzgeber

Bisweilen fällt „Breaking the Ice“ in seiner emotionalen Präsenz stark auseinander. Mal zieht einen der Film ganz ins Geschehen hinein, mal lässt er einen – wortwörtlich – kalt. Das mag gewollt sein, um die emotionale Eiszeit zu illustrieren, die dem Plot zugrunde liegt. Doch setzt er eben auch nicht auf die pointierte Künstlichkeit eines Fassbinder oder späteren Pasolini, sondern will zugleich realistisch bleiben. So klingen einige Dialoge recht hölzern, und die Einwürfe zur Ungerechtigkeit im Frauen-Eishockey transportieren zwar ihre feministische Message, kommen aber eher uninspiriert rüber.

Weitaus authentischer wirkt das drückende Schweigen innerhalb von Miras Familie, durchbrochen von elliptischen Formeln, die mehr vertuschen als aussprechen. In diesen Szenen schafft der Film es, einen in seiner ganzen Beklemmung zu packen. Aber auch das Kontrastprogamm funktioniert: Wenn Mira, Paul und Therese durch den Rausch des Wiener Nachtlebens treiben und spielerisch verschiedene Identitätsentwürfe ausleben, entwickelt sich ein ähnlich mitreißender Sog wie bei den Matches der „Dragons“.




Breaking the Ice
von Clara Stern
AT 2022, 102 Minuten, FSK 12,
deutsche OF

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