Michael Roes: Spunk

Buch

Michael Roes’ neuer Roman führt von der rheinischen Provinz in ein besetztes Haus in Berlin-Kreuzberg und weiter bis nach Taizé in Frankreich: Nach seiner Ausbildung geht der frisch gebackene Dachdeckergeselle Gabriel gemäß alter Handwerkertradition auf Wanderschaft. Endlich raus aus der Enge der Provinz und des prekären Elternhauses, hinaus in die Welt – die für den Erzähler gleichermaßen eine neue Freiheit des Geistes wie ein sexuelles Erwachen bereithält. Axel Schock hat sich mit Gabriel auf die Walz begeben und dabei nicht nur ein literarisches Roadmovie erlebt, sondern auch eine schwule éducation sentimentale.

„Hallo Welt, ich komme!“

von Axel Schock

Es ist keineswegs so, dass das schriftstellerische Werk von Michael Roes in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht wahrgenommen worden wäre. Sein umfangreiches Œuvre – Essays, Gedichte, Dramen und mittlerweile rund zwei Dutzend Romane – wurden mit Preisen bedacht, mit Stipendien belohnt und erhielten hymnische Besprechungen. Und doch hat der in Berlin lebende Autor in der literarischen Welt nicht im Mindesten jene Aufmerksamkeit erhalten, die ihm zustünde. Mag sein, dass einige seiner früheren Romane sprachlich etwas zu sperrig und herausfordernd wirkten, um ein breiteres Publikum begeistern zu können. Das ließe sich aber auch über einige andere renommierte Gegenwartsautor:innen sagen. Oder liegt es vielleicht daran, dass sich viele von Michael Roes’ Veröffentlichungen einer althergebrachten Einordnung verweigern? Denn Roes ist nicht nur ein virtuoser Schriftsteller, sondern auch ein passionierter Reisender. Die meisten seiner Romane und Essays sind die Essenz ausgedehnter Auslandsaufenthalte sowie intensiver Recherchen – in der erlebten Gegenwart wie in der Historie.

Sind diese Romane noch Fiktion oder in Teilen bereits Autofiktion? Sind sie Reiseliteratur oder schon ethnologische und kulturwissenschaftliche Studien in der Gestalt von Literatur? Oder könnte es sein, dass manchen seiner Bücher deshalb eine breitere Rezeption versagt blieb, weil in ihnen zu selbstverständlich (und zugleich so vielgestaltig) immer wieder homosexuelles Begehren und Geschlechterverhältnisse in den unterschiedlichsten Kulturkreisen verhandelt werden?

Wer Michael Roes’ Schaffen über die Jahre begleitet hat, konnte mit ihm in die Welt der American Indians („Der Coup der Berdache“), ins China der Gegenwart („Die Fünf Farben Schwarz“) oder auch ins Preußen von Kronprinz Friedrich und dessen Geliebtem Katte („Zeithain“) eintauchen. „Herida Duro“ thematisierte archaische Strukturen und alternative Geschlechterkategorien in den albanischen Bergen, und nicht zuletzt ging es immer wieder um die arabisch-muslimische Kultur, sei es in „Rub’ al-Khali / Leeres Viertel“, „Die Laute“ oder in „Weg nach Timimoun“.

Michael Roes – Foto: privat

Roes’ neuer Roman scheint da etwas aus der Reihe zu fallen, spielt er doch, abgesehen von wenigen Episoden, im Westdeutschland der Endsiebziger Jahre. Auf den zweiten Blick aber fügt sich „Spunk“ dann doch nahtlos ins Gesamtwerk des Autors ein. Sein ethnografisches Interesse gilt hier jedoch nicht den Traditionen und Ritualen entlegener Länder, sondern einer sehr deutschen, jahrhundertealten Kultur: der Gesellenwanderung. Nur wenige Handwerker machen sich heute noch nach ihrem Gesellenabschluss auf den Weg und wirken dann irgendwie aus der Zeit gefallen: junge Männer in Breitcord-Hosen, mit Zunft-Hut und geschwungenem Wanderstock, die durch die Lande ziehen, um sich tages- oder wochenweise bei Handwerkskollegen ihres Standes zu verdingen und so deren Arbeitstechniken kennenzulernen.

In „Spunk“ begibt sich der frischgebackene Dachdeckergeselle Gabriel auf die Walz. Beginnend im Juli 1978 durchwandert der 18-Jährige aus einem Kaff am unteren Niederrhein die westdeutschen Provinzen bis nach Berlin und weiter über die Landesgrenzen in die Schweiz und nach Frankreich. „Hallo Welt, ich komme!“ – In diesem Satz steckt gleichermaßen seine Aufbruchsstimmung, die Sehnsucht nach der Befreiung aus den familiären Zwängen und der provinziellen Enge sowie die Neugierde auf das, was ihn da draußen, jenseits der Ortsgrenze seines Heimatdorfes, erwarten wird: neue Erfahrungen, neue Menschen und eine Freiheit, die es ihm ermöglicht – je weiter er sich von der Heimat entfernt – mehr und mehr zu sich selbst zu finden.

In schlichtem, unverstellten, aber zugleich offenherzigen Ton berichtet der Ich-Erzähler von seinen Erlebnissen. Er verdingt sich für Brot und Bett bei einer Adelsfamilie, errichtet für Kost und Logis einen Carport und repariert auch mal das marode Dach einer Kirche. Doch den handwerklichen Erfahrungen misst Gabriels Bericht nur eine geringe Bedeutung bei. Viel wichtiger sind die sexuellen Erkenntnisse, die er unterwegs sammelt und mit den pubertären Erlebnissen anderer Jungs abgleicht. Er verliert nie viele Worte darüber, aber je länger seine Tippelei durch die Lande dauert, desto bewusster sucht Gabriel solche erotischen Begegnungen. Dass bei seinem Zwischenstopp in Frankfurt zufällig gerade das linksalternative, schwulenbewegte Festival „Homolulu“ stattfindet, könnte wie für viele der damaligen Teilnehmer auch für Gabriel zur Initialzündung für schwulen Aktivismus werden. Doch Gabriel ist enttäuscht. Keine Orgien, wie er dachte, nur politisches Gerede. So hatte er sich ein Schwulentreffen nicht vorgestellt. Als weitaus prägender und vielleicht sogar lebensentscheidend könnte sich hingegen sein Trip nach West-Berlin erweisen. Dass er hier ausgerechnet in einem besetzen Haus landet und mit Said erstmals auf einen selbstbewussten, ihn unaufdringlich begehrenden, jungen schwulen Mann trifft, hat Folgen. Mehr als ein Kuss (und auch den traut sich Gabriel nur, weil er angetrunken ist), ergibt sich trotzdem nicht. Noch nicht. Der Erzähler muss erst einmal weiterziehen.

So ist „Spunk“ gleichermaßen Stationendrama, literarisches Roadmovie wie éducation sentimentale. Gabriel erlebt nicht nur seine sexuelle Initiation, sondern unternimmt ungeplant auch eine klassische Bildungsreise. Er lernt Arthaus kennen, erlebt eine Fassbinder-Filmpremiere, entdeckt nicht nur die Literatur von Albert Camus und Heinrich Böll, sondern die Literatur überhaupt für sich: „Das Lesen macht mich wütend; wütend auf die verschwendete Zeit, die ich ohne Bücher verbracht habe.“ In seiner Familie hielt man das Lesen „einfach für eine besonders abartige Art des Faulenzens“. Auch in dieser Hinsicht wird Gabriel seine Lehr- und Wanderjahre als ein Anderer beenden. Am Ende ist er nicht mehr der unbedarfte Heranwachsende, als der er an jenem Julitag des Jahres 1978 aufgebrochen war.

Während die Schilderungen der Gegenwart immer wieder mit dem Blick zurück in die eigene Kindheit und Jugend verknüpft werden, spielt das Tages- und Zeitpolitische nur eine nebensächliche Rolle, etwa der Tod von Papst Paul VI. oder die Auswirkungen des RAF-Terrors. Auch verzichtet Gabriel, bzw. Roes, auf popkulturelles Namedropping oder die für die in den siebziger und achtziger Jahren angesiedelten Coming-of-Age-Romane typischen Erwähnungen von Konsumprodukten, Werbesprüchen und anderen genrationsverbindenden Buzzwords. Wenn sie in „Spunk“ doch mal auftauchen, dient die Nennung vor allem der Zeichnung des sozialen Umfelds: „Statt guter Butter gab es Margarine, statt Nutella Rübenkraut (Grafschafter Goldsaft)“. Auch die prekären Verhältnisse und patriarchalen, von Gewalt und Lieblosigkeit gekennzeichneten Strukturen in Gabriels Familie werden durch Gabriels unmittelbare Schilderungen deutlich. Da geben sich Klassenunterschiede, Ressentiments und daraus resultierende Komplexe bisweilen so pointiert zu erkennen, dass Komik und Tragik eng beieinanderliegen. Etwa, wenn Gabriel über seine Mutter sagt: „Immer war sie inmitten einer Diät, zu der sie die Hörzu genötigt hatte (was uns die Bravo, war ihr die Hörzu: Organ der Aufklärung und der Minderwertigkeitsgefühle).“

Eine weitere Ebene, die Michael Roes mit großer Leichtigkeit in seinen Roman einbaut, ist jene der überraschenden und zugleich humorvollen etymologischen Worterforschungen. Da ist zuallererst das spezielle Walz-Vokabular der Zünfte zu nennen, das Gabriel ganz selbstverständlich im Munde führt (und das Roes im Anhang des Romans in einem Glossar erklärt). Dort erfährt man, dass mit dem „Obermann“ die besondere Kopfbedeckung der Wandergesellen bezeichnet wird, eine Gesellenvereinigung „Schacht“ und der hölzerne Wanderstock „Stenz“ heißen und „scharniegeln“ ein anderes Wort für „arbeiten“ ist. Weiterhin verwendet Gabriel regionale (westmünsterländische) und umgangssprachliche Worte, die aus dem heutigen Sprachschatz – leider muss man sagen – weitgehend verschwunden sind, deren Bildhaftigkeit aber grandios lautmalerisch und originär ist: „Wichsgriffel“ und „Spangenlangerhansel“, „Trantüte“ und „Tüntelkram“, oder „Schnotterbelle“ für das, was andernorts Rotz genannt wird. Gabriel liebt solche Wörter, und spürt ihnen nach. Fragt, wer beim „Ratzefummel“ eigentlich wen befummelt oder wie „Schmacht“ und „schmächtig“ zusammenhängen. „Was bin ich eigentlich?“, fragt er sich selbst: „Ein Wortstolperer? Ein Begriffsstutziger? Muss ich immer an diesen Begriffspickeln herumknibbeln, bis sie eitern und bluten?“ Oder ist er einfach nur ein „Wortwichser“, mit einer besonderen Vorliebe gerade für die deftigen versauten Wörter, „scharf und würzig wie die körperlichen Absonderungen, die man sich heimlich und ohne jeden Ekel ins Maul schiebt: Wortrotz, Lautpopel, Begriffslülle, Ausdruckswichse.“

Nur einmal fällt in diesen Worterkundungen mit „Spunk“ auch jener Begriff, der zum Titel dieses Buches wurde und der in Gabriels Sprachgebrauch nichts anderes als Sperma bedeutet. Wieder was gelernt, werden jene denken, die dachten, dies sei ein Kunstwort, das Astrid Lindgren eigens für Pippi Langstrumpf geschaffen hat. Wenn man Michael Roes Glauben schenken mag, dann ist dieses Wort in Deutschland bereits seit dem 17. Jahrhundert verbreitet. Auf dem Vorsatzblatt des Romans hat Roes, ganz im Stile des Grimm’schen Wörterbuchs, eine ganze Reihe von angeblichen literarischen Verwendungen bis in die 1920er Jahre versammelt. Diese Seite ist ein kleiner geistreicher Geniestreich und ein Insiderspaß für Literaturhistoriker. Wer sich den diversen Quellen und Zitaten, von Johann Heinrich Voß’ Epos „Die Jungfrau Luise“ bis zu den „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ eines gewissen Jörn Uhl, etwas näher widmet, wird überrascht sein.




Spunk
von Michael Roes
272 Seiten, € 24,
Albino Verlag

 

↑ nach oben