Michael Roes: Herida Duro
Buch
Nach „Der Coup des Berdache“ (1999) kehrt der deutsche Schriftsteller Michael Roes zum Thema kulturell regulierter geschlechtlicher Ambivalenz zurück: Die Albanerin Herida Duro wird von ihrem Vater zum Mann erklärt, da ihre Eltern keinen männlichen Erben haben. Herida verlässt das karge Bergdorf ihrer Jugend und macht als Filmemacherin Karriere, zunächst im totalitären Regime des maoistischen Revolutionsführers Enver Hoxha, später in Rom. Vom eigenen Lebensglück abgeschnitten, vertieft sie sich in das Schicksal eines anderen fremdbestimmten Ausnahmemenschen – und dreht einen Film über die Jugend des Jesus von Nazareth.
Wunschloses Unglück
Michael Roes passt in keine literarische Schublade. Man könnte auch sagen: Da das erzählerische Werk des heute 59-Jährigen sich vom Umfang her mit dem Thomas Manns messen kann, hat er Anrecht auf seine eigene Schublade. Seine gewaltigen Romane erobern Weltgegenden, historische Momente und selbst biblische Stoffe; sie hinterlassen im Kopf des Lesers nachhaltige Eindrücke, als wäre man selbst dabei gewesen, auch wenn man nicht so recht sagen kann, was eigentlich passiert ist. Die Engländer haben den schönen Spruch: Nach Gott hat Shakespeare das meiste geschaffen. Ich bin überzeugt, dass auch Michael Roes auf der Rangliste der Welterschaffenden einen prominenten Platz einnimmt. Doch sei es aus Bescheidenheit, sei es aus philosophischer Einsicht: Dem Innenleben seiner Figuren mag er nicht zu nahetreten, wodurch es der oft ausufernden Handlung an dramaturgischer Struktur mangelt.
Nur zwei Jahre nach seinem Friedrich-Roman „Zeithain“ ist nun „Herida Duro“ erschienen. Die Titelheldin, in etwa vom selben Jahrgang wie der Autor, wächst in einem albanischen Bergdorf zur Zeit des maoistisch orientierten KP-Führers Enver Hoxhas auf. Die Erzählung setzt Mitte der 1970er Jahre mit der Totenfeier für ihren verstorbenen Vater ein. Mit gerade einmal 14 Jahren ist Herida nun der „Herr im Haus“: Weil ihre Eltern keine männlichen Erben haben, wurde sie zur Virgjinesha. Gegen den Schwur ewiger Jungfräulichkeit wurde sie sozial zum Mann erklärt, aus Herida wurde Marijan, mit abgebundenen Brüsten und kurzem Männerhaarschnitt.
Noch während der Trauerfeier äußert der ältere Bruder des Verstorbenen Begehrlichkeiten auf dessen Besitz. Marijan erfährt, dass ihr Vater bei seinem Bruder verschuldet war, weil der kleine Hof nicht genug Ertrag abwarf. Der Onkel fordert sie auf, ihm den Hof zu übertragen. Auch die einzige Magd und deren Sohn verhalten sich feindselig. Der Sohn der Magd vergewaltigt Marijan und flieht, kurz darauf brennt das ganze Anwesen nieder. Marijan wird schwanger und tut alles, um den Bruch ihres Keuschheitsgelübdes geheim zu halten; als die alten Hausmittel nicht wirken, lässt sie das Kind abtreiben.
Nichts hält sie mehr in ihrem Heimatdorf. Zusammen mit dem Nachbarsjungen Gjon reist sie in die Hauptstadt Tirana; die beiden arbeiten dort im Schlachthof und teilen sich eine kleine Wohnung – die Betten durch einen Vorhang getrennt, um klar zu machen, dass sie wie Brüder zusammenleben. Marijan macht eine Weiterbildung zum Beleuchter und arbeitet in einem Filmstudio. Nebenbei studiert sie Zeichnen; sie bittet Gjon, ihr für Aktstudien Modell zu stehen. Als ihr Filmstudio den Auftrag erhält, ein Porträt des großen Vorsitzenden Hoxha zu drehen, fallen ihr die Gemälde halbnackter Jünglinge in dessen Wohnung auf; Hoxha wiederum findet offenbar Gefallen an dem bartlosen jungen Marijan, was dessen Karriere zugutekommt, aber auch die Staatssicherheit auf den Plan ruft. Währenddessen entzieht sich Gjon dem absolutistischen Regime durch die Flucht übers Meer, und bald darauf reist auch Marijan nach Italien, weil ein Film, an dem sie mitgearbeitet hat, auf den Filmfestspielen in Venedig eine Auszeichnung erhält.
Herida/Marijan schlägt ihrem Studio vor, einen – kommunistisch-atheistischen – Film über die Jugend des Jesus von Nazareth zu drehen. Sie imaginiert sein Aufbegehren gegen die ihm aufgezwungene Rolle, Gottes Sohn zu sein. Sie erhält die Erlaubnis, nach Rom zu reisen, wo sie dem berühmten Regisseur Paolo Piermonte wiederbegegnet, den sie schon bei der Preisverleihung in Venedig kennengelernt hatte (und hinter dem sich kaum kaschiert Pier Paolo Pasolini verbirgt). Herida wird schnell zur erfolgreichen Filmemacherin, aber ihre Faszination für den nackten menschlichen Körper provoziert die Staatsmacht im katholisch-prüden Italien: Sie ist vom Regen in die Traufe gekommen. Der Roman endet mit dem Tod Piermontes/Pasolinis.
So weit in groben Zügen die Geschichte Heridas/Marijans – aber nur ein Teil des Romans. Der Autor unterbricht immer wieder die Ich-Erzählung Heridas, um seinerseits die archaische Legende über Tuwo und Iwo zu erzählen, die in grauer Vorzeit mit ihrem Stamm gefährliche Abenteuer bestehen. Seit „Rub‘ Al-Khali“ (1996) liebt es Roes, die Handlung seiner Romane in einem zweiten, zeitversetzten Handlungsstrang zu spiegeln, was den Umfang seiner Romane erklärt. In „Herida Duro“ fügt er zusätzlich einen dritten Strang hinzu, der aus ausgewählten Szenen des Drehbuchs zur „Jugend Jesu“ besteht.
Für den Roes-erprobten Leser bietet „Herida Duro“ vertraute Kost: Sprachlich routiniert dargebotene, minutiös recherchierte Weltbilder, die wenig bekannte Aspekte der Wirklichkeit zeigen, ohne je aufdringlich zu werden und mehr zu verlangen als kultiviertes Interesse. Die wohlerzogene Alice weist den Hutmacher der „Mad Tea Party“ brüsk zurecht: „Don’t make personal remarks!“, und diese Benimmregel befolgt Roes in jedem einzelnen Satz. Was sich der Recherche entzieht, bleibt in dieser Geschichte außen vor. Heridas/Marijans „Lebensgefühl zwischen den Geschlechterkategorien“, das der Verlag verspricht, erschließt sich leider nicht ansatzweise. So hat die Zeremonie, die Herida in Marijan verwandelt, bereits stattgefunden, bevor die Erzählung einsetzt. Wie Marijan die weibliche Geschlechtsreife, die Monatsblutungen, erlebt, ob sie den physischen Anforderungen an einen Mann gewachsen ist, im Bergdorf wie im Schlachthof, ob sie je erotische Empfindungen hat, sich gar verliebt, selbst, ob sie sich als Mann, Frau oder etwas Drittes empfindet und warum sie nach Verlassen des Bergdorfs nicht einfach in eine weibliche Identität zurückkehrt, all diese Fragen werden nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet. Dabei ist der Roman aus der Ich-Perspektive Heridas/Marijans geschrieben, was zusätzlich weitere Probleme aufwirft, denn das Reflexionsniveau liegt vor allem zu Beginn weit über dem einer 14-jährigen Dorfbewohnerin. Und woher mag Heridas Faszination für das Schicksal des jungen Jesus rühren, woher weiß sie als Bewohnerin eines dogmatisch religionsfernen Landes ohne jede mediale Verbindung nach draußen überhaupt von seiner Legende?
Wenn man unterstellt, dass sich der Autor all dieser Merkmale seines Romans bewusst ist, gelangt man zu der Vermutung, dass er ein Leben beschreiben wollte, für das solche Fragen keine Bedeutung haben. Ein Leben, das sich mit jeder Faser in Übereinstimmung mit der Welt befindet, in die es hineingeworfen wurde – was letztlich bedeutet: ein tierisches Leben. Ein Tier verhungert oder erfriert, ohne zu klagen, und es siegt im Revierkampf, ohne sich zu freuen. In puncto Gleichmut, jede Situation, jedes Ereignis klaglos hinzunehmen, ist der Mensch dem Tier hoffnungslos unterlegen. Michael Roes nähert sich in „Herida Duro“ (und bereits in seinem Friedrich-Roman „Zeithain“) diesem unmenschlichen Gleichmut; Jesus von Nazareth in Heridas Film bleibt es vorbehalten, gegen sein Schicksal aufzubegehren – wohlgemerkt das Schicksal, nicht Mensch, sondern Gott sein zu müssen.
Herida Duro
von Michael Roes
Gebunden, 584 Seiten, 28 €,
Schöffling