Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Buch

Pauline ist schwanger, und sie liebt ihre Freundin. Endlich ist sie bereit für ein geregeltes Leben. Doch als sie einen neuen Personalausweis beantragen will, stolpert sie zum ersten Mal über ihre drei zusätzlichen Vornamen Jeanne, Jérôme und Ysé und fragt sich: Nach wem wurde ich da eigentlich benannt? Ausgehend von diesem Gedanken entwirft Pauline Delabroy-Allard in ihrem zweiten Roman „Wer ist das“ eine obsessive Reise durch Epochen und Identitäten. Nachdem Anja Kümmel schon dem narrativen Sog von Delabroy-Allards Debüt „Es ist Sarah“ erlag, lässt sie sich erneut von der referenzreichen Erzählkunst der französischen Erfolgsautorin fesseln.

Pauline und die Geister

von Anja Kümmel

„Fünfundzwanzigtausend Jahre BP“ seien die Wandmalereien alt, erklärt die Frau, die Pauline und ihre Partnerin mit einer Gruppe anderer Besucher:innen durch die jungsteinzeitliche Höhle Pech Merle im Süden Frankreichs führt. BP, fügt sie hinzu, stehe für „before present“. Dieses „before present“ löst in Pauline einen faszinierenden und zugleich abgründigen Gedanken aus: „Existiert man schon ein bisschen, bevor man existiert?“

Pauline ist 30, schwanger und gegen Ende des Sommerurlaubs mit ihrer Freundin auf dem Rückweg nach Paris. In der Höhle, dutzende Meter unter der Erde, schieben sich auf einmal ferne Vergangenheit und nahe Zukunft unauflöslich ineinander. Während ihre Freundin sich über die Konventionalität der Hetero-Familien mit ihren quengelnden Kindern mokiert („Wir werden mal nicht so, hm.“), ist die Ich-Erzählerin bereits dem Sog des „BP“ erlegen: „Unter die Erde gehen wir in mich hinein. Hinab ins Dunkle, dorthin, wo kein Licht dringt, um leichter die Schatten zu bergen.“

Passionen, auch destruktive, bis zum bitteren Ende auszuloten, scheint ein Faible der französischen Autorin Pauline Delabroy-Allard zu sein. In ihrem mehrfach ausgezeichneten Romandebüt „Es ist Sarah“ spürte sie einer lesbischen Amour fou nach. In ihrem zweiten Roman „Wer ist das“ führt nun ein traumatisches Ereignis die Ich-Erzählerin zu einer bald schon obsessiven Auseinandersetzung mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit.

An dem Tag, an dem ihre Tochter geboren werden soll, geschieht das Schreckliche: „Stille, Stille, Stille.“ Das Trauma hebt die Zeit aus den Angeln; die Zukunft löst sich auf, „present“ und „before present“ fallen ineinander. Entsprechend ist auch die Geschichte konstruiert: Delabroy-Allard konfrontiert uns mit durcheinander geschüttelten Erinnerungsfragmenten, die sich erst allmählich in eine Chronologie bringen lassen. Eine vage Struktur, an der wir uns orientieren können, an der sich auch die Ich-Erzählerin festzuhalten versucht, bieten die drei zusätzlichen Vornamen, die neben „Pauline“ in ihrem Personalausweis stehen: Jeanne, Jérôme, Ysé. Sie hat ihnen nie Beachtung geschenkt. Bis jetzt. In der Hoffnung, Heilung zu finden, den Kreis zu schließen, begibt sich Pauline auf die Suche nach den drei Geistern, die sie seit ihrer Geburt begleiten.

Pauline Delabroy-Allard – Foto: Francesca Mantovani / Editions Gallimard

Der Name „Jeanne“ führt sie zu ihrer Urgroßmutter, die starb, als ihre Großmutter fünf war. Jeanne umgibt ein dunkles Geheimnis, das nicht ausgesprochen werden darf. „Sie war ein bisschen verrückt, glaube ich“, ist alles, was die Großmutter darüber preisgibt. Pauline fühlt sich sofort mit Jeanne verbunden: „Als ich mich über die Fotografie beuge, habe ich das Gefühl, in den Spiegel zu schauen.“

„Jérôme“, erfährt sie zufällig von einem alten Freund ihrer Eltern, war ein schwuler Schauspieler, ein guter Freund ihrer Mutter, und einer der vielen Aids-Toten der Achtzigerjahre.

„Ysé“ zu guter Letzt ist eine fiktive Figur aus Paul Claudels Stück „Mittagswende“. Der Name scheint erst einmal nichts mit Pauline persönlich zu tun zu haben – und wird sie doch gefährlich nah an den Abgrund heranführen.

Wie bereits beim Besuch der Tropfsteinhöhle zu erahnen, ist Paulines Spurensuche ein einsames Projekt, ein Hinabsteigen ins Selbst, in der Absicht sich mit den eigenen Schatten zu vereinigen. Ihre Partnerin (die bezeichnenderweise namenlos bleibt) wählt andere Bewältigungsstrategien, um mit der Trauer umzugehen. Zu Pauline dringt sie kaum mehr durch. Die Beiden entfremden sich voneinander. Aber auch ihrer Herkunftsfamilie kommt Pauline durch die Spurensuche nicht näher, im Gegenteil: „In meiner Familie wird nicht geredet“, stellt sie lakonisch fest – zumindest nicht über die Vergangenheit.

Stattdessen wird das Schreiben für die Ich-Erzählerin zum Medium und zur Katharsis, eine schonungslose, obsessive Suada, in die wir so unentrinnbar hineingezogen werden wie in den Liebestaumel des namenlosen Ich in „Es ist Sarah“. Auch stilistisch erinnern die parataktischen Sätze, die Schleifenbewegungen der Erinnerung, die manchmal ermüdenden Wiederholungen an Delabroy-Allards Debüt. Hier wie dort wirft das Trauma im Zentrum der Erzählung die Zeiten durcheinander und macht alles zum ewigen Jetzt. Die Ekstase, das Sich-Auflösen im Anderen, indes gewinnt in „Wer ist das“ eine noch weitaus verstörendere Qualität, da es sich auf Tote bzw. fiktive Figuren bezieht. So erkennt sich Pauline nicht nur in ihrer lang verstorbenen Urgroßmutter wieder, sie läuft auch auf dem Friedhof einem Fremden hinterher, weil sie in ihm das „Phantom Jérôme“ zu erkennen glaubt. Sie liest alles, was sie finden kann, über die schwule Subkultur der Achtzigerjahre in Paris und projiziert sich regelrecht in ihren „Zwillingsbruder“ hinein, der kurz vor ihrer Geburt starb – bis hin zu einem Genderfuck der Geister, einem fantasierten Geschlechtertausch zwischen der Lebenden und dem Toten.

Auch für die Leser:innen, die in der Gedankenwelt der nicht unbedingt zuverlässigen Erzählerin gefangen sind, verschwimmen zunehmend die Realitätsebenen. Fliegt Pauline wirklich nach Tunesien, nur aufgrund eines Fotos, das sie gefunden hat? Adoptiert sie dort eine verletzte Katze, die sie mit nach Frankreich schmuggelt und fortan auf ihrer Schulter herumträgt? Oder findet all das lediglich als schräge Fantasiereise im Kopf der Protagonistin statt?

Endgültig zum wahnhaften Fiebertraum wird die Spurensuche im letzten Kapitel, als das Erzähl-Ich so vollkommen mit der Figur der Ysé verschmilzt, dass es sich eingeschlossen in einer Kolonialvilla im chinesischen Dschungel von Aufständischen umzingelt glaubt. Leicht könnte man diese Passagen als melodramatische Pose, vielleicht noch als anachronistischen Wink in Richtung der Poètes maudits abtun. Doch da allen drei Figuren, denen Pauline hinterherjagt, etwas derart Bedingungsloses, Tragisches anhaftet, und diese Tragik, dieses Bedingungslose, ihr selbst qua Namensgebung in die Wiege gelegt wurde, wirkt ihre Art der Bewältigung doch wieder glaubwürdig und konsequent. Zumal Delabroy-Allard das Pathos mit luziden Momenten punktiert, in denen sich die Erzählerin selbstironisch von außen betrachtet: Die Frau mit der Katze auf der Schulter; die Verrückte, die einem Fremden durch die halbe Stadt folgt; die verlorene Seele, die nachts einem Friedhofswärter ihre Sorgen erzählt. Auch Paulines trockener Humor bricht immer wieder durch und bringt das Geschehen auf eine erfrischend pragmatische Ebene zurück, etwa, als sie sich an einen missglückten Camping-Trip mit ihrer Freundin erinnert, der damit endete, dass der Abbau ihres „Zwei-Sekunden-Zelts“ mehr als eine Stunde in Anspruch nahm, was Pauline lapidar mit „Jede Magie hat ihren Preis“ kommentiert.

Überhaupt sticht aus dem sprachgewaltigen Rausch ein bestechend präziser Sinn für (Selbst-)Analysen und die Alltagstauglichkeit philosophischer Überlegungen heraus. Nicht umsonst ist das Buch nach drei Grundfragen der Philosophie der Aufklärung strukturiert: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Auf Basis dieser so simpel klingenden Fragen entwickelte Immanuel Kant eine neue Denkrichtung, während Pauline mit ihrer Hilfe versucht, sich aus der Trauer herauszuarbeiten. „Ich schreibe so, wie man mir als Kind Pflaster von der Haut riss, auf die Zwei von Eins! Zwei! Drei!“ heißt es an einer Stelle, „damit die Überraschung den Schmerz aussticht“. Es ist vielleicht dieser Satz, der das Schreiben von Delabroy-Allard am treffendsten charakterisiert, in seiner ganzen Radikalität und Schonungslosigkeit, seiner ganzen Eigenwilligkeit und Sogkraft. „Aber die Überraschung sticht den Schmerz niemals aus“, fügt Pauline an, „das habe ich später gelernt“.




Was ist das
von Pauline Delabroy-Allard
aus dem Französischen von Sina de Malafosse
256 Seiten, € 24,
Frankfurter Verlagsanstalt

 

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