Hör auf zu lügen

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Der erfolgreiche Romanautor Stéphane Belcourt kehrt zum ersten Mal seit Jahrzehnten in seinen Heimatort zurück. Der von allen Seiten hofierte Gast soll eine Rede zum Jubiläum einer lokalen Cognac-Marke halten. Doch nachdem Stéphane den Unternehmensvertreter Lucas als Sohn seiner Jugendliebe Thomas erkannt hat, kann er sich nur noch mühsam auf sein Manuskript konzentrieren. Für Andreas Wilink ist Regisseur Olivier Peyon mit „Hör auf zu lügen“, der Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Philippe Besson, ein tief bewegendes Drama über die erste Liebe und die unaufhebbare Trauer um ein nicht gelebtes Leben gelungen.

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Ein Geist aus der Vergangenheit

von Andreas Wilink

Eine Rückkehr, nicht nach Reims wie Didier Eribon, aber ebenfalls in die französische Provinz, nach Baussony in der lieblichen Gegend von Cognac. Ein Mann Anfang 50, der Schriftsteller Stéphane Belcourt aus Paris, wird am Bahnhof der kleinen Stadt abgeholt und ins Hotel gebracht. In seiner Kindheitsheimat – der „Gegend meiner selbst“ (Jean Genet) – hat er einen Auftritt aus Anlass eines festlichen Jubiläums, für das er gebeten wurde, etwas zu schreiben. Er wird hofiert, eingeladen, herumgereicht.

Aber das sind die äußeren Umstände, denen er sich freundlich distanziert, etwas linkisch und gerade so überlässt, als sei es ihm peinlich. In seinem Inneren passiert etwas anderes. Auslöser ist der Anblick eines Suzuki-Motorrads, das ein junger Mann vor dem Hotel abstellt, um von dort aus als Reiseführer einer Gruppe amerikanischer Touristen die Weinkeller der Winzergegend zu zeigen, wo der Cognac reift. Die Erinnerungsmaschine setzt sich in Gang. Sie hat ihre eigene Geschwindigkeit, gehorcht nicht auf Knopfdruck, lässt sich nicht abstellen. Es ist, als würde sie ihre Unabhängigkeit behaupten.

Stéphane Belcourt und dieser Lucas kommen miteinander ins Gespräch, währenddessen sich herausstellt, dass der Jüngere der einzige Sohn von Thomas Audrieu ist. Doch Belcourt schweigt zunächst, weicht nach Fragen zu Thomas aus und bleibt allgemein, nicht ahnend, dass es kein Zufall ist, dass sie sich hier begegnen. Denn es gibt nicht nur den Verlust Stéphane Belcourts, von dem der Zuschauer allmählich erfährt. Auch Lucas hat etwas verloren und will wissen, weshalb es ihm genommen wurde. Er will verstehen, wer sein Vater gewesen ist.

Anfangs sprechen die beiden Männer scheinbar literarische Fragen an, wenn sie das Fiktive und Erfundene im Kontrast zum Eigenerlebten erörtern, wenn sie die Lüge gegen die Fantasie abwägen. Seine Mutter habe den Jungen Stéphane, wenn seine Vorstellungskraft sich Geschichten ausdachte, aufgefordert: „Hör auf zu lügen“. Die Lüge  lehnt wiederum auch Lucas ab: „Es sei denn, du machst es wieder gut“.

Rückblende. Der 17-jährige Stéphane, blond, mit Brille, kontaktscheu, schüchtern und von zartem Wesen, und der erfahrenere, selbstbewusste Thomas tauschen in der Schule Blicke aus, die Einverständnis ausdrücken. Stéphane kann es kaum glauben, dass Thomas sich für ihn interessiert, denn der ist ein Glanz, attraktiv, beliebt und umschwärmt, von den Mädchen wie den Kameraden. Beide wissen schon von sich, ihrem Begehren und ihrer Sehnsucht und können sich darüber verständigen.

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„Nur an den beiden Polen menschlicher Verbindung, dort, wo es noch keine oder keine Worte mehr gibt, im Blick und in der Umarmung, ist eigentlich das Glück zu finden, denn nur dort ist Unbedingtheit, Freiheit, Geheimnis und tiefe Rücksichtslosigkeit.“ So sagt es das Glückskind Felix Krull, der für dieses  Wissen und Programm von seinem Erzähler Thomas Mann auch zum Wanderleben verurteilt oder mit ihm beschenkt ist. Stéphane und Thomas würden sich in dieser Unbedingtheit wiederfinden.

Unbemerkt vor den Mitschülern verabreden Stéphane und Thomas sich, heimlich steckt der eine dem anderen einen Zettel mit dem ersten Treffpunkt in einer leer stehenden Halle zu; später ist es ein abgelegener See im Wald, dann Stéphanes Zimmer, als die Eltern nicht zuhause sind. Lustvoll entdecken sie den eigenen Körper und den des Liebespartners. In ihrer Sexualität sind sie so identisch, wie sie es in ihrem sozialen Körper nicht sein können. Sie bauen sich ihr isoliertes „Nest und Königreich“, aber es ist von kurzer Dauer: bis die Schule endet. Nach dem Abitur verbringt Thomas den Sommer bei Verwandten in Spanien. Er wird vorerst dort bleiben und auch heiraten. Stéphane wird ihn nicht wiedersehen.

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Ein Gefälle existiert, nicht in ihren Gefühlen, aber in Verhaltensweisen und Klassenverhältnissen. Stéphane sagt „Ich liebe Dich“, sagt es gleich in mehreren Sprachen. Thomas bringt es nicht über die Lippen. Der Akademikersohn hat es leichter, zu sich zu stehen. Der Winzersohn, der als einziges Kind das berufliche Erbe anzutreten hat, darf sich nicht erlauben, anders zu sein. Er muss und will dazugehören, und zu diesem Programm gehören eine Ehefrau und Familie. Bloß kein Außenseiter sein! Thomas reagiert geradezu panisch auf Stéphanes weniger vorsichtiges Betragen. Für ihn bleiben es „geschiedene Welten“: die Beziehung zu Stéphane und der elterliche Hof und die Gleichaltrigen der schulischen und sozialen Öffentlichkeit mit ihren Maßstäben und Konventionen.

Milieu und Atmosphäre erinnern deshalb an Gerbrand Bakkers „Oben ist es still“, auch insofern, als der Roman des Niederländers und seine Verfilmung durch Nanouk Leopold von 2013 einander in nichts nachstehen und der sein Schwulsein unterdrückender bäuerlicher Held Helmer im gleichen Alter steht wie der zum Künstler gewordene Stéphane und wie Thomas, würde er noch leben.

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Die Alternative, die Hans Mayer in seinem Buch mit eben dem Titel „Außenseiter“ ausmacht, lautet nicht nur für das bürgerliche 19. Jahrhundert: Skandal oder Gleichschaltung im Sinne von Anpassung oder Verleugnung. Stéphane hatte die Möglichkeit zur Flucht – er nahm sie sich. Als freier Geist. Aber wie wird man zu dem, der man ist? Hat ein Mensch die Wahl? Was stattet den einen zum Kämpfer und Überwinder aus und den anderen so, dass er unterliegt?

Die Frage berührt Philippe Besson am Rande. Ebenso wie Olivier Peyrons Verfilmung in ihrer zurückgenommenen Schlichtheit, die sich keine besondere Manier und stilistische Extravaganz leistet – mit Ausnahme einer emotionalen Parallelmontage, die den jungen und den 35 Jahre älteren Stéphane zu einer Person zusammensetzt. Stéphane besitzt die Möglichkeit, das, was ihn bewegt, in Worte zu fassen: seine Selbsterschaffung als Intellektueller. Thomas besaß diese Begabung nicht. Er beendet sein Leben, das er als gescheitert betrachtet und das er schon aufgegeben hatte, als er seine Familie verließ und allein nach Brest übersiedelte. Er stirbt, ohne ein Wort zu hinterlassen. Aber es gibt einen Umschlag mit Fotos, die damals Stéphane von ihm gemacht hatte.

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Bessons/Peyons Geschichte enthält das ewige Motiv des Fortgehens, des Ausziehens in die Welt und der Wiederkehr. Es beginnt nicht erst beim biblischen Verlorenen Sohn und dem mittelalterlichen Parzival und reicht nicht nur bis zu Eribon, Edouard Louis und Philippe Besson, der in seinem Buch von 2017 (auf Deutsch 2018), zugleich Roman und Selbstbiografie, diese seine erste Liebe schildert.

Im Zentrum aber steht die unaufhebbare Trauer um das nicht gelebte Leben, um die Vermeidung, um das Nicht-aus-seiner-Haut-Können und der Schmerz desjenigen, der überlebt, dessen Wunde sich nicht schließt und der sich selbst im Diskreten, Indirekten, in seinem „gespaltenen Habitus“ (Pierre Bourdieu) eingerichtet hat. Vielleicht eine Frage des Überlebens, doch um welchen Preis? Es gibt höchstens ein halbrichtiges Leben im falschen, so dass Erfolg und Ruhm wie bei Stéphane Belcourt, den Guillaume de Tonquédec mit Gefasstheit und Gleichmut ausstattet, für gewisse Beruhigung sorgen. Doch nun will er die Geister der Vergangenheit beschwören, ohne sie auszutreiben. Im Gegenteil.

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So rückt „Hör auf zu lügen“ näher an die Melodramen des Douglas Sirk wie „Solange es Menschen gibt“ und „Was der Himmel erlaubt“, auch nahe an die beiden Cowboys vom „Brokeback Mountain“ in der ihnen feindlich gesonnenen Lebenswelt, übrigens auch an Fassbinders Spiegelbilder deutscher (Mentalitäts-)Geschichte, näher als an aktuell diskursorientierte, identitätspolitische Analysen. Der human touch ist eine Stärke des Films. Leiden ist immer konkret und ans Individuum gebunden. Wer das missachtet oder gering schätzt, steht zu recht unter Ideologieverdacht.

Stéphane und Thomas repräsentieren dennoch über sich selbst hinaus ein tragisches Modell homosexueller Identität, das vielleicht häufiger existiert, als erstrittene Emanzipation und ihre Programmatik es für notwendig halten. Trost spendet Stéphanes Bekenntnis-Rede am Ende, in der er den Mut zum Stolz auf sich selbst findet und zugleich Thomas mit „freispricht“ als jemanden, der über den Tod hinaus seine Scham überwunden habe. Das nennt man Transformation.




Hör auf zu lügen
von Olivier Peyon
FR 2022, 98 Minuten,
französische OF mit deutschen UT
24 Bilder

Ab 16. November im Kino

 

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