Philippe Besson: Hör auf zu lügen

Buch

Das Markenzeichen des französischen Autors Philippe Besson ist ein sachlicher, aber einfühlsamer Tonfall und eine kluge, nie überhebliche Weltsicht. Damit hat er sich seit seinem ersten Roman „Zeit der Abwesenheit“ (2001) eine treue Leserschaft erschrieben, auch in Deutschland, wo fast alle seiner Bücher übersetzt wurden. Sein zweiter Roman „Sein Bruder“ (2001) wurde von Patrice Chéreau verfilmt. Mit „Hör auf zu lügen“ wechselt er erstmals von Fiktion zu Autobiografie. Bessons neues Buch dürfte vor allem für seine Fans von besonderem Interesse sein, erlaubt der Autor hier doch gewissermaßen einen Blick in seine Werkstatt, auf das Material, aus dem er seine Geschichten erschaffen hat. Prägendes Motiv seines Lebens ist eine unglückliche Jugendliebe, die er nicht vergessen konnte – und deren Geschichte er hier erzählt. Eine Besprechung von Rolf G. Klaiber und Joachim Bartholomae.

Der verlorene Freund

von Rolf G. Klaiber und Joachim Bartholomae

Da ist er also, der neue Roman von Philippe Besson. Hardcover, 150 Seiten dünn. Die Hauptfigur heißt Thomas, wie in „Der Verrat des Thomas Spencer“, Bessons 2013 auf Deutsch erschienenem Roman, der der Frage nachgeht, in welchem Moment ein Verrat beginnt. Auch in „Hör auf zu lügen“ geht es um einen Verrat, verratene Liebe, aber auch Verrat an den Menschen, die einen lieben. Die Basis dafür: die Lüge, der fehlende Mut, sich die Wahrheit über sich selbst einzugestehen.

Warum dieses Vorgeplänkel? Nun, „Hör auf zu lügen“ erklärt so manches, das der Leser_in* aus den neun bereits vorliegenden Romanen Bessons bekannt ist. Es ist ein Roman, der auf der eigenen Biografie des Autor basiert und in der Rückschau so manches Motiv erschließt, so manchen Handlungsstrang, oder sei es nur die Auswahl der Namen mancher Protagonisten.
Im Jahr 2001, sein erster Roman ist soeben erschienen, sitzt Philippe Besson in einer Hotellobby in Bordeaux, als plötzlich ein junger Mann den Raum durchquert, in dem er Thomas, seine erste große Liebe, wiederzuerkennen glaubt. Der attraktive Winzersohn Thomas Andrieu besuchte die Parallelklasse an Bessons Schule, und nach einer Zeit des Anhimmelns fand Bessons Liebe eine unerwartete, aber nur kurze Erfüllung. Das kurze Glück endete mit Thomas‘ Entscheidung, ein Leben zu führen, das den gesellschaftlichen Erwartungen entsprach. 1984 nach den Schulferien war er plötzlich aus Philippes Leben verschwunden. Philippe litt, wie nur ein verzweifelt verliebter Siebzehnjähriger leiden kann, akzeptiert dann aber, dass Thomas einen anderen Lebensweg eingeschlagen hat, einen Lebensweg, der ihn und seine Liebe ausschließt.

Philippe Besson – Foto: Maxime Reychman

Besson spricht den jungen Mann an, der so viel Ähnlichkeit mit seinem Schulfreund hat. Er heißt Lucas und ist sich offenbar seiner Ähnlichkeit mit Thomas Andrieu bewusst, kennt ihn persönlich gut, und wie sich im Gespräch herausstellt, kennt er auch Besson aus Fernsehinterviews, die er bei Thomas gesehen hat. Besson erfährt, dass Thomas nach einiger Zeit in sein Heimatdorf in der Charente zurückgekommen ist, den Winzerbetrieb seines Vaters übernommen und eine Familie gegründet hat, wie es von einem Jungen auf dem Lande erwartet wird.

Bis hierher liest sich „Hör auf zu lügen“ als Roman über zwei junge Männer, denen ein unterschiedlicher Lebensweg – der erdverbundene Winzer hier, der hochbegabte Lehrersohn da – vorgezeichnet ist. Philippe lebt sein Schwulsein aus, in Bordeaux, Paris, Los Angeles, durchaus auch in festen Beziehungen. Doch obwohl er von Lucas Thomas‘ Telefonnummer erhalten hat, ruft er ihn nicht an. Zu gefährlich scheint Philippe auch nach all den Jahren ein plötzliches Auftauchen von Möglichkeiten …

Neun Jahre später meldet sich Lucas von sich aus bei Besson, bittet ihn dringend um ein Treffen. Er will ihm von einem Unglück erzählen, das Thomas zugestoßen ist, und ihm einen Brief von Thomas überreichen. Erst jetzt erfährt Besson, dass es einen Moment in Thomas’ Leben gegeben hat, an dem er einen rigorosen Bruch mit seinem bisherigen Leben begangen hat, es ist tatsächlich von „Seitenwechsel“ die Rede. Doch diesem Wechsel war kein Happy End vergönnt. Lucas lässt Philippe schockiert zurück, versteinert vor Entsetzen beim Gedanken an das, was hätte sein können – wie anders das Leben der beiden Freunde von damals hätte verlaufen können, wenn …

Lucas erzählt Philippe diese Geschichte, weil er weiß, dass dieser sie aufschreiben wird, ja aufschreiben muss, um weitermachen zu können, Frieden zu schließen mit dieser Liebesbeziehung. Wer seine Romane kennt, wird sich nun bewusst, dass Besson die unglückliche Liebesgeschichte zu Thomas in vielen Verkleidungen wieder und wieder verwendet hat, bis er sich nun entschlossen hat, nicht mehr literarisch zu „lügen“, sondern den autobiografischen Kern all dieser Fiktionen offenzulegen.

Diese Geschichte über eine unerfüllte schwule Liebe findet sprachlich nach den Satzungetümen der ersten beiden Seiten des Prologs schnell wieder zur gewohnten Knappheit zurück. Kurze Abschnitte, Sätze, die manchmal nur aus einem Wort bestehen, machen Tempo; sachliche Sprache, meist im Präsens, nimmt die Leser_in* unmittelbar mit ins Geschehen, statt poetischer Bilder machen Verweise auf gesehene Filme (Patrice Chéreau) oder gelesene Bücher (Hervé Guibert) die Geschichte anschaulich und verdeutlichen darüber hinaus, dass sich der Autor in einem eindeutig schwulen Kosmos bewegt. Zu dieser formalen Geglücktheit trägt ganz sicher der Übersetzer bei. Auch Hans Pleschinski, selbst Autor, Übersetzer und Herausgeber z.B. des Briefwechsels Friedrich des Großen mit Voltaire, hat erst relativ spät sein literarisches Coming-out gewagt, im Roman „Bildnis eines Unsichtbaren“ (2002), und weiß, was er da übersetzt, findet an wichtigen, auch expliziten Stellen die richtigen Worte, die stimmigen Begriffe.

 




Hör auf zu lügen
von Philippe Besson
aus dem Französischen von Hans Pleschinski,
gebunden, 160 Seiten, 20 €,
C. Bertelsmann Verlag