David Sedaris: Calypso

Buch

Seit dem Welterfolg seines ersten Erzählbands „Nackt“ (1997) liefert der New Yorker Autor David Sedaris mit schöner Regelmäßigkeit mal komische, mal erschütternde Einblicke in den Alltag der amerikanischen Mittelschicht. Unser Rezensent Matthias Frings ist treuer Leser der ersten Stunde und kommt bei den 21 biografisch gefärbten Geschichten, aus denen der neue Band „Calypso“ besteht, sofort ins alte Sedaris-Feeling.

Familie und andere Schwierigkeiten

von Matthias Frings

Über viele Jahre hinweg, Dekaden inzwischen, taucht scheinbar aus dem Nichts mit schöner Regelmäßigkeit die Frage auf: „Kommt nicht bald mal wieder ein neuer Sedaris?“ Gestellt im Tonfall froher Erwartung, ist sie keinesfalls dringlich (oder auch nur eine Frage). Natürlich erscheint zu gegebener Zeit ein neuer Band des weltumspannend geliebten Autors. Ist er dann von Amazon bis Zürich erhältlich, zeigt sich ein weiteres Phänomen: Die Frage, ob das neue Buch gelungen ist oder nicht, steht im Gegensatz zu Werken anderer Autoren und Autorinnen nie an erster Stelle. Darum geht es bei ihm nicht, wichtig ist nur das wohlige Gefühl der Vertrautheit und Kontinuität. Die Welt steht Kopf, sogar die Schuhmode ändert sich, aber David Sedaris bleibt David Sedaris. Das beruhigt ungemein.

Natürlich tauscht man sich darüber aus, wie sie denn ausgefallen sind diesmal, die neuen Humoresken, doch die Antwort ist nie ein Verdikt, sondern stets von innigem Einverständnis geprägt. Sie lautet entweder: „Sehr schön, aber nicht so stark wie ein paar seiner letzten Bücher“ oder „Sehr schön, und wieder stärker als seine letzten Bücher“. Das Buch, von dem hier die Rede sein soll, „Calypso“, soviel sei vorweg gesagt, ist eins von den stärkeren.

Im Lauf der Jahre sind Sedaris‘ Leser – man könnte sie auch als eigene Gattung führen: Sedarisleser – mit ihm grau geworden. Sie haben sich von Fans zu Freunden und zu fast so etwas wie Familie gemausert. Das ist der Grund für die vollkommen unaufgeregte Hinnahme seiner Qualitätsschwankungen. Familienmitglieder lassen sich nicht mit gut oder schlecht, gelungen oder nicht gelungen auspreisen. Sie sind einfach da, und vielleicht spürt der Autor selbst das auch, jedenfalls hat sein Tonfall sich im Lauf der Jahre zu einem intimen Parlando mit ungewissem Ausgang entwickelt, das nur hin und wieder – dann allerdings mit nachhaltigem Effekt – an Schärfe und Meinung zulegt.

David Sedaris – Foto: Ingrid Christie

Der kleine (das mag er nicht) schwule (damit hat er offensichtlich keine Probleme) Autor stellt noch eine dritte Besonderheit dar: Er lässt sich nicht recht in ein literarisches Genre einordnen. Stattdessen hat er gewissermaßen seine eigene Sparte erfunden. Sedaris schreibt keine Erzählungen, dazu sind seine Texte zu amorph, ausufernd, manchmal geradezu verhuscht. Es handelt sich auch nicht um Satire, dafür ist er viel zu empathisch, außerdem sind Ironie, Sottise und Spitze seine bevorzugten Mittel nicht. Und wirklich komisch ist er auch nicht immer, besonders nicht in „Calypso“, seiner zehnten Sammlung. Schlussendlich mag es schon vorgekommen sein, dass sich die eine oder der andere fragt, ob David Sedaris eigentlich ein erstrangiger Schriftsteller ist? Sonderlich geschliffen kommt seine Prosa in der Tat nicht daher – außer natürlich, sein Werk wäre passgenau auf dieses ganz spezifisch mäandernde Fabulieren hin komponiert worden. Und philosophische Offenbarungen gibt es auch nicht zu entdecken – nur, dass der Leser bei ihm mitten in einem seiner verbalen Kaffeekränzchen immer wieder mal bei Themen landet, die unvermutet an existenzielle Abgründe führen.

Kurz: Der Mann ist ein Phänomen.

„Calypso“, dessen Titel wie so oft zu vernachlässigen ist, versammelt fast ausschließlich das Dramenpersonal, dem jeder von uns sich stellen muss – Vater, Mutter, Geschwister, die Familie also. Und wer nie eine hatte, hat erst recht damit zu kämpfen.

Er dürfte es auf einer seiner zahlreichen, weltumspannenden Tourneen vor großem Publikum gelernt haben (ein weiteres Sedaris-Phänomen), jedenfalls legt er zu Beginn seines neuen Buchs die Leimrute aus, spottet mild über sein mittleres Lebensalter, nennt die zahlreichen Defizite beim Namen und kommt überraschend zum einzigen Vorzug des Älterwerdens: Endlich ein Gästezimmer zu haben! Zu diesem Zweck hat er gleich ein ganzes Ferienhaus in der Sommerfrische gekauft, wo die sechsköpfige Familie Sedaris Jahr für Jahr ihren Urlaub verbrachte, ein Haus am Meer mit dem schönen Namen See-Zierung (Sea Section), „das allen gehören würde, solange sie meine drakonischen Gesetze befolgten und mir ewig dankbar wären“.

Business as usual also, Sedaris, wie wir ihn lieben. Doch gleich bei der zweiten Geschichte erwischt uns ein Kapitelbeginn wie ein Tritt in die Weichteile. „Ende Mai dieses Jahres, wenige Wochen vor meinem fünfzigsten Geburtstag, beging meine jüngere Schwester Tiffany Selbstmord.“ Diesen Ton, eher Protokoll als Bewältigung einer Familientragödie, wird er noch eine Weile beibehalten, und gerade diese forciert distanzierte Sprache ist es, die von einem in Schach gehaltenen Gefühlsbeben zeugt. Wir lernen die ebenso begabte, originelle, lustige wie verzweifelte, verpeilte, verwahrloste Frau kennen und erleben mit, wie eine buchstäblich fassungslose Familie nach einer Form sucht, mit solchem Tod vor der Zeit umzugehen. „Jetzt sind wir zu Fünft“ ist das Kapitel treffend überschrieben und markiert so das Terrain der vorliegenden Sammlung, all’ die schrecklich unbeholfenen und schrecklich lustigen Versuche von uns Erdlingen, mit dem langsamen Sterben der Menschen um uns herum und somit mit unserem eigenen Sterben zu leben.

Keine Angst: Es gibt genug zu lachen, nicht alle Geschichten sind von solcher Wucht, dafür hat der alte Profi schon gesorgt. Aber es ist der etwas nachdenklicher gewordene, selbstkritischere und kluge, aber so gar nicht weise Sedaris, der im neuen Buch sehr gefällt. Niemand wird geschont, er selbst erst recht nicht. Und wenn er mutig davon erzählt, wie er seiner Schwester bei ihrem letzten Treffen in der Garderobe einer großen Arena von der Security die Tür weisen ließ, möchte man aus mitfühlender Scham am liebsten im Erdboden versinken.
David Sedaris, der uns auch einen Blick auf sein kiffendes, ebenso verhuschtes wie erfolgloses junges Selbst gönnt, misst sein Leben an seiner Familie, vergleicht sich und grenzt sich ab. Besonders der Vater erweist sich als hartes Stück Bewältigungsarbeit. Wie er bis heute versucht, die Liebe dieses knorrigen Mannes zu gewinnen, dürfte vielen schwulen Lesern unangenehm bekannt vorkommen. Ein Kräftemessen gibt es natürlich auch mit seinem Lebenspartner Hugh, für den es ein zweischneidiges Vergnügen sein muss, in den Werken seines Mannes vor aller Augen bis auf die Unterhose (und noch ein wenig mehr) ausgezogen zu werden. Apropos. Sedaris ist sich nicht zu schade für ein paar Sexgeschichtchen aus dem ehelichen Alltag, wie er überhaupt angenehm unaufgeregt seinen Platz als schwuler Mann in seiner Familie und in der Gesellschaft einfordert – was zu einer herrlichen Tirade auf die Politik von Donald Trump führt, ein tagespolitisches Thema, das ansonsten eher nicht an seinem literarischen Wegesrand liegt.

Und genau dann, wenn man davon überzeugt ist, Sedaris habe eine Korrektur vorgenommen und den Kurs mehr in Richtung Klassiker/Seriosität /Pulitzer gewechselt, legt er los: Ohne sich weiter mit Erklärungen abzugeben, berichtet er in einem grotesk lustigen Kapitel von seiner Obsession, einen harmlosen Tumor, den ihm eine Zuschauerin nach einer Lesung in ihrer Privatpraxis entfernt hatte, an eine Schildkröte (!) zu verfüttern (???), setzt uns en detail über seine (und Hughs) intimen Rituale im heimischen Badezimmer ins Bild, um schließlich herrlich infantil bei immer kurioser werdenden Malheuren von Menschen zu landen, die sich unfreiwillig in die Hosen scheißen – nun ja, die Geschichten halt, die man sich nach einem guten Essen, ein paar Glas Wein oder Bier und einem Berettspiel in der Familie so erzählt.

 




Calypso
von David Sedaris
aus dem Englischen von Georg Deggerich
Gebunden, 272 Seiten, 22 €,
Blessing Verlag