Die Höhle

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Abiturient Daniel liest Oscar Wilde und lackiert sich die Fingernägel, was in seiner Schule schon reicht, um als Außenseiter zu gelten. Beim Klassenausflug kommt es zu seinem folgenschweren Zwischenfall: Während einer Nachtwanderung rutschen er und sein schwuler Sportlehrer Adam in eine Felsspalte und finden sich in einer dunklen Höhle wieder. Zusammen müssen sie einen Weg zurück finden. Christian Horn über Roman Němecs „Die Höhle“, der wie ein klassischer Coming-of-Age-Film beginnt und sich bald zu einem emotionalen Survival-Drama wandelt.

Foto: Salzgeber

Escape Room mit Tropfsteinen

von Christian Horn

Als Kinosujet verspricht eine Höhle zumeist mindestens ein Abenteuer, häufig auch Horror. In klaustrophobischer Enge und ohne Aussicht auf Rettung kämpfen Filmfiguren fern vom Tageslicht ums nackte Überleben. Sind sie nicht allein in der Höhle gefangen, geht die Bedrohung mitunter vom Gegenüber aus, wenn einer knietief im Unrat der Fledermäuse die Nerven verliert. In seinem Film variiert der Autor und Regisseur Roman Němec das Höhlenmotiv zum emotionalen Zweipersonenstück, bei dem die Höhle vor allem eine Metapher für das steinige Coming-of-Age eines Jugendlichen ist.

Der Film startet wie ein gewöhnliches Jugenddrama. Der 19-jährige Abiturient Daniel ist schwul, was in der tschechischen Kleinstadt Kadaň nicht ganz so angesagt ist. In der Schule gilt „Das Bildnis des Dorian Gray“ als „Schwuchtelzeugs“. Trotzdem lackiert sich der blondierte Daniel die Fingernägel und trägt morgens einen Lidschatten auf, während seine Eltern darüber streiten, wie es dazu kommen konnte. Der schlagfertige und talentierte Daniel ist aber kein klassischer Außenseiter, eher ein selbstgewählter. Im jugendlichen Sturm und Drang ist ihm sowieso vieles zu sinnlos. Also zieht er sich unter seinen Kopfhörern zurück. Seine Attitüde sagt: Ihr macht euer Ding, ich mach meins. Daniels Deutsch- und Sportlehrer Adam ist ebenfalls schwul, doch die schon fünfjährige Beziehung mit seinem Lebensgefährten verheimlicht er an der Schule. Später bringt ihm das von Daniel den Vorwurf ein, er würde „nur im Privaten“ schwul sein.

In der ersten halben Stunde porträtiert Roman Němec den Alltag der beiden Protagonisten. Filmisch voraus geht dem Langfilm zudem der 2017 veröffentlichte Kurzfilm „About a Father“, in dem Němec die Hauptfiguren aus „Die Höhle“ bereits eingeführt hat. Man muss den Kurzfilm, der eine Art lockere Vorgeschichte erzählt, nicht kennen, interessant ist die filmische Selbstbezugnahme aber allemal.

Die Einführung der Lebenswelten in „Die Höhle“ erfindet das Rad keineswegs neu: Daniel schaut in den Spiegel wie es dutzende Filmfiguren mit Identitätsthematik vor ihm getan haben. Er liest „Spider-Man“-Comics, weil Peter Parker eben auch zur Schule geht und ein zweites Gesicht hat. Auch bei Adam Zuhause passiert nicht viel, er hat eine Beziehung, die etwas langweilig ist, aber vertraut. Das ist handwerklich solide umgesetzt, unterhaltsam. Auf die eine oder andere Hochglanz-Kamerafahrt ohne Mehrwert hätte man verzichten können, auch die freundliche Musik ist nichtssagend, doch man schaut trotzdem gern zu.

Auf die Einführung folgt die Wende und Roman Němec macht das, was er während des gesamten Films im Kleinen tut, hier im Großen: Er wechselt die Tonlage, sogar fast das Genre. Bei einem nächtlichen Schulausflug ins Grüne stürzt Daniel einen Abhang hinunter in eine Höhle. Oder wurde er geschubst? Sein Fehlen bleibt zunächst unbemerkt, weil die Gruppe durch den dunklen Wald stapft. Dann begibt sich Adam auf die Suche nach Daniel und stürzt selber in die Höhle. Da sitzen sie nun fest, Lehrer und Schüler. „Stell dir vor, es wäre ein Escape Room“, beruhigt Adam sein Gegenüber.

Foto: Salzgeber

Schnell ist klar, dass „Die Höhle” zwar ein Survival-Motiv nutzt, aber kein Überlebensthriller im eigentlichen Sinn ist. Es gibt kleinere Spannungsmomente, Kakerlaken oder die Suche nach Essen, auch die Musik setzt punktuell auf Thrill. Dabei ist aber stets klar, dass den beiden nichts passieren wird. Die Höhle ist eben eine Metapher, ein Kaninchenbau. Es kommt darauf an, dass die Protagonisten aus dem Alltag gerissen und auf sich selbst zurückgeworfen sind. In einem Wechsel aus atmosphärisch gefilmter Höhlenwanderung und intimen Gesprächen finden die beiden ein Stück mehr zu sich selbst – und auch zueinander. Gedreht wurde an Originalschauplätzen in den Höhlen von Javoříčko, was einen großen Reiz des Dramas ausmacht. Als dritte Protagonistin liefert die Höhle attraktive Kinobilder zwischen Tropfstein-Ästhetik und Schattenwürfen.

Die innere Spannung speist sich aus der Kommunikation zwischen Daniel und Adam, ihrer Annäherung und ihren Auseinandersetzungen, den hochgekochten Emotionen und der Selbsterkenntnis. Dabei wird geweint und sich ausgesprochen, auch mal ein Joint geraucht. Die Darsteller Daniel Krejčík und Jiří Vojta statten die Figuren mit Leben und Persönlichkeit aus, ihr Talent trägt den insgesamt etwas zu langen Film auch über einige Sackgassen und sich wiederholende Motive hinweg. Am Ende führt das durch äußere Umstände erzwungene Innehalten und Heraustreten aus dem Alltag zu einem stimmigen Moment der Selbstermächtigung, den Němec als doppelten Befreiungsschlag inszeniert.

Foto: Salzgeber

Zunächst unverständlich ist, warum der Regisseur eine weitere Szene, die den zwischenmenschlichen Ausgang für Adam und Daniel abrundet, hinter dem Abspann versteckt. Auf den zweiten Blick ergibt die Entscheidung aber Sinn. Zum einen wechselt der Nachklapp abermals die Tonlage, diesmal in Richtung romantische Komödie, Popsong inklusive. Nimmt man den Kurzfilm „About a Father“ noch dazu, der ja eine Art Einleitung zum Hauptfilm bildet, kann die Szene nach dem Abspann auch als dritter Teil einer Trilogie gelten. Oder als unverbindlicher Ausblick auf einen weiteren langen oder kurzen Film, den Roman Němec den Hauptfiguren möglicherweise widmen wird.

„Die Höhle” ist ein sehenswerter Film, der mitunter etwas zu glatt poliert ist. Neben den starken Auftritten von Krejčík und Vojta, zwischen denen die schauspielerischen Funken sprühen und die auch optisch gut harmonieren, beeindruckt insbesondere das Motiv der Höhle. Der Dreh an den Kulissen vor Ort war sicher eine logistische Herausforderung, die sich auf der Leinwand auszahlt und den Film zu einem ambitionierten Erstlingswerk macht.




Die Höhle
von Roman Němec
CZ 2022, 126 Minuten, FSK 12,
tschechische OF mit deutschen UT

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