Kritiken (Literatur)

Can Mayaoglu: Nadia

Can Mayaoglu: Nadia

Ausverkaufte Buchpremiere, TV-Präsenz, Platz Eins der lesbischen Bestseller-Liste des Berliner Buchladens Eisenherz – Can Mayaoglus Roman „Nadia“ trifft bei vielen Leser:innen einen Nerv. Vielleicht weil die Titelheldin wie ein Spiegel unserer widersprüchlichen Gegenwart wirkt: In ihr vereinen sich Höhenflüge und Abstürze, Kraft und Schwäche, E- und U-Kultur. Was als moderner Künstlerinnenroman beginnt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als popkulturell aufgeladene Auseinandersetzung mit den Themen Verlust, Selbstakzeptanz und (queerer) Liebe. Dennis Stephan hat zwar keine Freundschaft mit der Titelfigur geschlossen, wohl aber Lust auf ihre Kunst bekommen.
David Santos Donaldson: Grönland

David Santos Donaldson: Grönland

Als „glänzender Debütroman“ und „stylischer Fiebertraum“ wurde David Santos Donaldsons „Greenland“ nach seinem Erscheinen im vergangenen Sommer von der US-Presse gefeiert. Tatsächlich verbindet die metafiktionale Geschichte über einen jungen Schriftsteller, der durch die Arbeit an einem Roman über E. M. Forster zu seinem eigenen, von postkolonialem Rassismus und internalisierter Homophobie gezeichneten Selbst vordringt, etwas Fantastisches. Jetzt ist der Roman in deutscher Übersetzung bei Albino erschienen. Sebastian Galyga hat ihn gelesen und ein Buch entdeckt, das trotz zahlreicher Zeit- und Erzählebenen fest in unserer Gegenwart verwurzelt ist – nicht zuletzt wegen seiner queeren Direktheit.
McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

Nicht weniger als ein neues Literaturgenre wollte die Kulturwissenschaftlerin McKenzie Wark mit ihrem 2020 erschienenen Memoir „Reverse Cowgirl“ etablieren. In dem Buch lässt sie ihr Leben abseits eindeutiger Zugehörigkeiten zu Szenen, Identitäten und Geschlechtern Revue passieren. Wo keine Norm greift, tun es auch gängige Literaturkategorien nicht, also postulierte die Autorin „another genre for another gender“ und rief mit „Reverse Cowgirl“ die Geburt der „Autoethnographie der Undurchsichtigkeit unseres Selbst“ aus. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung des Buches hat Anja Kümmel sich in die Wark’sche Orgie aus Erinnerungen, philosophischen Zitaten und sexuellen Eskapaden hineingeworfen und einen durch und durch queeren Text entdeckt, der unabhängig von kleineren Schwächen tatsächlich das Prädikat „unvergleichlich“ verdient.
Hurry Up and Wait

Hurry Up and Wait

2021 war die ARD-Serie „Eldorado KaDeWe“ eines der queeren TV-Ereignisse des Jahres. Lia von Blarer und Valerie Stoll spielten darin das lesbische Paar Fritzi und Hedi. Jetzt sind die beiden Darstellerinnen unter die Herausgeberinnen gegangen: Ihr Bildband „Hurry Up and Wait“ setzt einerseits „Eldorado KaDeWe“ ein Denkmal und macht andererseits auf die prekäre Situation von LGBTIQ* in Ungarn aufmerksam. Unsere Autorin Can Mayaoglu hat sich das Buch genau angesehen und sich von Lia von Blarer persönlich erklären lassen, wie es zu dem Projekt kam.
Douglas Stuart: Young Mungo

Douglas Stuart: Young Mungo

Es gibt ein Leben nach dem Booker Prize – und auf den ersten Blick ist das nicht mal großartig anders. Nach dem Weltbestseller „Shuggie Bain“ thematisiert auch Douglas Stuarts zweiter Roman „Young Mungo“ in schonungsloser Akribie den Alkoholismus, die Gewalt und die toxische Männlichkeit in den Armutsvierteln von Glasgow. Im Mittelpunkt steht auch diesmal ein autobiografisch grundierter Titelheld, der mit seiner Homosexualität erst mal klarkommen muss. Der Roman sei kein Sequel, betonte Stuart in einem Interview, bilde aber mit „Shuggie Bain“ ein Diptychon. In seine raue Welt einzutauchen ist nicht immer bequem, aber nötig, findet Marko Martin – der „Young Mungo“ nicht nur als perfektes Gegenmittel zu ideologischer Huschigkeit empfindet, sondern auch als starken Beitrag zur unterrepräsentierten Literatursparte der queeren Working-Class-Fiction.
Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen

Es klingt immer ein bisschen nach Verheißung, wenn über Raphaela Edelbauers dritten Roman „Die Inkommensurablen“ berichtet wird. Die NZZ schreibt, das Buch wirke „wie ein ‚Sissy‘-Film auf Drogen“, der Deutschlandfunk verspricht einen „traumnovellenartigen Trip“ in das queere, habsburgische Wien, die Autorin selbst spricht im Bücher-Podcast der FAZ über ihre Faszination für Stricherlokale, Halbweltfiguren und Opiumhöhlen im Wien kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sebastian Galyga hat sich hineingeworfen in die fabulier- und formulierfreudige Welt der „Inkommensurablen“ – und eine Zeitreise erlebt, die mal vergnüglich, mal monströs, vor allem aber hochaktuell daherkommt.
Simon Froehling: Dürrst

Simon Froehling: Dürrst

Zwölf Jahre hat es gedauert, bis der Schweizer Autor und Dramaturg Simon Froehling seinem Erstling „Lange Nächte Tag“ aus dem Jahr 2010 ein zweites Buch folgen ließ. Ging es im Debüt um Sex, Drugs und die Suche nach Identität, geht es nun in „Dürrst“ um Kunst, Beziehungen und die Diagnose „bipolare Störung“ – all das erzählt mittels eines schwulen Protagonisten und mit explizit queerem Blick. Tobias Schiller findet, dass sich das Warten auf den neuen Froehling gelohnt hat.
Christopher Isherwood: Begegnung am Fluss

Christopher Isherwood: Begegnung am Fluss

55 Jahre nach Erscheinen der englischen Originalausgabe von „A Meeting by the Lake“ und 42 nach der deutschen Erstübersetzung ist Christopher Isherwoods letzter Roman in einer Neuausgabe erschienen. Die Übersetzung stammt von Hans-Christian Oeser, wie schon jene für Isherwoods autobiografisch grundierte Erzählung „Die Welt am Abend“ vor drei Jahren. So ist aus dem einstigen „Treffen am Fluss“ eine „Begegnung am Fluss“ geworden und die Sprache wurde von ein paar altertümlichen Schlacken befreit. Übrig bleibt die Geschichte einer ambivalenten Hassliebe zweier ungleicher Männer vor indischer Kulisse. Marko Martin hat sich von der erstaunlich heutigen Geschichte des schwulen Kultautors irritieren, provozieren und anfrösteln lassen.
Holger Brüns: Felix

Holger Brüns: Felix

Deutschland in den Achtzigerjahren: Brokdorf-Demos, Hausbesetzungen, Aids-Aktivismus und Träume von einer anderen, besseren Gesellschaft prägen das linke Lebensgefühl. Holger Brüns blickt in seinem autobiografisch grundierten Roman „Felix“ zurück auf jene Zeit. Tom und Felix sind ein schwules Paar, das am Rande der politischen Kämpfe auszuloten versucht, ob antibürgerliche Konzepte von Partnerschaft wirklich funktionieren. Axel Schock kann sich selbst noch ganz gut an die Vorgängergeneration der heutigen Weltretter erinnern. Er hat „Felix“ nicht nur als liebevolle Zeitreise erlebt, sondern auch als schwulen Lückenschluss in der reich bestückten Landschaft von Romanen, die sich am Lebensgefühl der Achtzigerjahre abarbeiten.
Alexander Graeff: Queer

Alexander Graeff: Queer

Nach „Schönheit“, „Geschlecht“ und „Lust“ widmet sich die Essay-Reihe des Verlagshaus Berlin dem Thema „Queer“ und fragt im Klappentext: „Wie können wir uns freisprechen und freidichten von einer Welt, die uns permanent in Schubladen stecken will?“ An einer Antwort versucht sich der Dichter, Schriftsteller und Philosoph Alexander Graeff. Der hat im gleichen Verlag bereits zwei Erzählbände und eine Gedichtsammlung herausgebracht und sich in den vergangenen Jahren unter anderem als Initiator der queeren Lese- und Gesprächsreihe „Schreiben gegen die Norm(en)“ und Literaturverantwortlicher der Queer Media Society profiliert. In seinem 48 Seiten straffen „Queer“-Essay lässt Graeff Poesie und Biografie, Sprache und Körper ineinanderfließen – für Tobias Schiller eine treffende und horizonterweiternde Methode, um dem gewollt uneindeutigen Thema gerecht zu werden.