Kritiken (Literatur)

Pedro Lemebel: Torero, ich hab Angst

Pedro Lemebel: Torero, ich hab Angst

Ein queerer Klassiker aus Lateinamerika neu aufgelegt: Im blau-rosa-weißen Design der Trans-Pride-Flagge und mit entstaubtem Titel kommt die Revival-Ausgabe von Pedro Lemebels „Torero, ich hab Angst“ in der Bibliothek Suhrkamp daher. Die Frischekur soll die Geschichte einer alternden „Tunte“, die im Chile der 1980er Jahre zur Guerillera wird, für eine neue Generation von Lesenden erschließen, nachdem eine wenig geglückte Verfilmung des Stoffs aus dem Jahr 2020 nur auf wenigen Festivals zu sehen war. Marko Martin hat Lemebels subversive Roman-Attacke auf den Machismo der chilenischen Gesellschaft für uns (wieder) gelesen.
Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline Delabroy-Allard: Wer ist das

Pauline ist schwanger, und sie liebt ihre Freundin. Endlich ist sie bereit für ein geregeltes Leben. Doch als sie einen neuen Personalausweis beantragen will, stolpert sie zum ersten Mal über ihre drei zusätzlichen Vornamen Jeanne, Jérôme und Ysé und fragt sich: Nach wem wurde ich da eigentlich benannt? Ausgehend von diesem Gedanken entwirft Pauline Delabroy-Allard in ihrem zweiten Roman „Wer ist das“ eine obsessive Reise durch Epochen und Identitäten. Nachdem Anja Kümmel schon dem narrativen Sog von Delabroy-Allards Debüt „Es ist Sarah“ erlag, lässt sie sich erneut von der referenzreichen Erzählkunst der französischen Erfolgsautorin fesseln.
Michael Roes: Spunk

Michael Roes: Spunk

Michael Roes’ neuer Roman führt von der rheinischen Provinz in ein besetztes Haus in Berlin-Kreuzberg und weiter bis nach Taizé in Frankreich: Nach seiner Ausbildung geht der frisch gebackene Dachdeckergeselle Gabriel gemäß alter Handwerkertradition auf Wanderschaft. Endlich raus aus der Enge der Provinz und des prekären Elternhauses, hinaus in die Welt – die für den Erzähler gleichermaßen eine neue Freiheit des Geistes wie ein sexuelles Erwachen bereithält. Axel Schock hat sich mit Gabriel auf die Walz begeben und dabei nicht nur ein literarisches Roadmovie erlebt, sondern auch eine schwule éducation sentimentale.
Franz Siedersleben: Mein Lebenslauf

Franz Siedersleben: Mein Lebenslauf

120 Jahre nachdem Magnus Hirschfeld erstmals die „Lebensgeschichte des urnischen Arbeiters Franz S.“ veröffentlichte, kommt die lange vergriffene Niederschrift von Franz Siederslebens schwuler Biografie neu heraus – diesmal nicht-anonymisiert und mit umfangreichen Ergänzungen. Der Band „Mein Lebenslauf“ ist nicht nur aufgrund der darin versammelten Zeitzeugnisse eine Besonderheit, sondern auch, weil er der letzte in der Buchreihe Bibliothek rosa Winkel ist, den deren Gründer Wolfram Setz vor seinem Tod vollendete. Benedikt Wolf über ein unverdruckstes Ego-Dokument.
Lion Christ: Sauhund

Lion Christ: Sauhund

München 1983. Flori kommt vom Land und sucht in der Stadt von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury das pralle Leben – und einen Mann, der ihn mindestens ewig liebt. Im Labyrinth der Klingelclubs und Klappen muss er aber erst mal seine eigenen Standpunkte finden. Mit seinem Debütroman „Sauhund“ setzt Lion Christ den Liebenden des ersten Aids-Jahrzehnts ein Denkmal. Angelo Algieri über eine literarische Zeitreise, die sich nicht nur wegen ihres unberechenbaren Protagonisten jenseits des Erwartbaren abspielt.
Can Mayaoglu: Nadia

Can Mayaoglu: Nadia

Ausverkaufte Buchpremiere, TV-Präsenz, Platz Eins der lesbischen Bestseller-Liste des Berliner Buchladens Eisenherz – Can Mayaoglus Roman „Nadia“ trifft bei vielen Leser:innen einen Nerv. Vielleicht weil die Titelheldin wie ein Spiegel unserer widersprüchlichen Gegenwart wirkt: In ihr vereinen sich Höhenflüge und Abstürze, Kraft und Schwäche, E- und U-Kultur. Was als moderner Künstlerinnenroman beginnt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als popkulturell aufgeladene Auseinandersetzung mit den Themen Verlust, Selbstakzeptanz und (queerer) Liebe. Dennis Stephan hat zwar keine Freundschaft mit der Titelfigur geschlossen, wohl aber Lust auf ihre Kunst bekommen.
David Santos Donaldson: Grönland

David Santos Donaldson: Grönland

Als „glänzender Debütroman“ und „stylischer Fiebertraum“ wurde David Santos Donaldsons „Greenland“ nach seinem Erscheinen im vergangenen Sommer von der US-Presse gefeiert. Tatsächlich verbindet die metafiktionale Geschichte über einen jungen Schriftsteller, der durch die Arbeit an einem Roman über E. M. Forster zu seinem eigenen, von postkolonialem Rassismus und internalisierter Homophobie gezeichneten Selbst vordringt, etwas Fantastisches. Jetzt ist der Roman in deutscher Übersetzung bei Albino erschienen. Sebastian Galyga hat ihn gelesen und ein Buch entdeckt, das trotz zahlreicher Zeit- und Erzählebenen fest in unserer Gegenwart verwurzelt ist – nicht zuletzt wegen seiner queeren Direktheit.
McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

McKenzie Wark: Reverse Cowgirl

Nicht weniger als ein neues Literaturgenre wollte die Kulturwissenschaftlerin McKenzie Wark mit ihrem 2020 erschienenen Memoir „Reverse Cowgirl“ etablieren. In dem Buch lässt sie ihr Leben abseits eindeutiger Zugehörigkeiten zu Szenen, Identitäten und Geschlechtern Revue passieren. Wo keine Norm greift, tun es auch gängige Literaturkategorien nicht, also postulierte die Autorin „another genre for another gender“ und rief mit „Reverse Cowgirl“ die Geburt der „Autoethnographie der Undurchsichtigkeit unseres Selbst“ aus. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung des Buches hat Anja Kümmel sich in die Wark’sche Orgie aus Erinnerungen, philosophischen Zitaten und sexuellen Eskapaden hineingeworfen und einen durch und durch queeren Text entdeckt, der unabhängig von kleineren Schwächen tatsächlich das Prädikat „unvergleichlich“ verdient.
Hurry Up and Wait

Hurry Up and Wait

2021 war die ARD-Serie „Eldorado KaDeWe“ eines der queeren TV-Ereignisse des Jahres. Lia von Blarer und Valerie Stoll spielten darin das lesbische Paar Fritzi und Hedi. Jetzt sind die beiden Darstellerinnen unter die Herausgeberinnen gegangen: Ihr Bildband „Hurry Up and Wait“ setzt einerseits „Eldorado KaDeWe“ ein Denkmal und macht andererseits auf die prekäre Situation von LGBTIQ* in Ungarn aufmerksam. Unsere Autorin Can Mayaoglu hat sich das Buch genau angesehen und sich von Lia von Blarer persönlich erklären lassen, wie es zu dem Projekt kam.
Douglas Stuart: Young Mungo

Douglas Stuart: Young Mungo

Es gibt ein Leben nach dem Booker Prize – und auf den ersten Blick ist das nicht mal großartig anders. Nach dem Weltbestseller „Shuggie Bain“ thematisiert auch Douglas Stuarts zweiter Roman „Young Mungo“ in schonungsloser Akribie den Alkoholismus, die Gewalt und die toxische Männlichkeit in den Armutsvierteln von Glasgow. Im Mittelpunkt steht auch diesmal ein autobiografisch grundierter Titelheld, der mit seiner Homosexualität erst mal klarkommen muss. Der Roman sei kein Sequel, betonte Stuart in einem Interview, bilde aber mit „Shuggie Bain“ ein Diptychon. In seine raue Welt einzutauchen ist nicht immer bequem, aber nötig, findet Marko Martin – der „Young Mungo“ nicht nur als perfektes Gegenmittel zu ideologischer Huschigkeit empfindet, sondern auch als starken Beitrag zur unterrepräsentierten Literatursparte der queeren Working-Class-Fiction.