Kritiken (Literatur)

Pier Paolo Pasolini: Porno–Theo–Kolossal

Pier Paolo Pasolini: Porno–Theo–Kolossal

Nur fünf Wochen vor seinem gewaltsamen Tod stellte Pier Paolo Pasolini (1922-75) die letzte Fassung des Treatments zu seinem Filmprojekt „Porno–Theo–Kolossal“ fertig. Es sollte sein letzter Film werden, nach dem er sich ganz dem Schreiben widmen wollte. Das provisorisch gebliebene Drehbuch erschien 15 Jahre nach Pasolinis Tod und wurde jetzt von der Kulturwissenschaftlerin Dagmar Reichardt und dem Theologen und Filmwissenschaftler Reinhold Zwick in deutscher Übersetzung und zusammen mit einem ausführlichen Kommentar sowie begleitenden Texten im Filmbuchverlag Schüren herausgegeben. Philipp Stadelmaier taucht ein in ein abgründiges Roadmovie, in dessen Stationen sich alle zentralen politischen, religiösen und sexuellen Themen und Motive von Pasolinis einzigartigem Œuvre spiegeln.
Rakel Haslund-Gjerrild: Adam im Paradies

Rakel Haslund-Gjerrild: Adam im Paradies

Der Roman „Adam im Paradies“ verschränkt eine sprachgewaltige Erzählung über das Leben des dänischen Meistermalers Kristian Zahrtmann (1843-1917) mit authentischen Schriftstücken, die die Hetze gegen Homosexuelle im Dänemark zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Das Ergebnis ist einerseits ein Dialog zwischen historischer Wirklichkeit und Fiktion, anderseits eine literarische Antwort auf Zahrtmanns queere Kunst und seine nie öffentlich eingestandene Homosexualität. Dafür wurde Autorin Rakel Haslund-Gjerrild in ihrer dänischen Heimat mit Kritikerlob und Preisen bedacht. Zu Recht, findet Can Mayaoglu, die für die jüngst erschienene deutsche Übersetzung des Romans in ihrem Bücherregal schon mal einen Platz neben den nordischen Meistern freigeräumt hat.
Kim de l’Horizon: Blutbuch

Kim de l’Horizon: Blutbuch

Unter viel Jubel hat Kim de l’Horizon zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den Deutschen Buchpreis für „Blutbuch“ entgegengenommen – und anschließend statt einer klassischen Dankesrede einen London-Grammar-Song ins Mikro gehaucht und sich aus Solidarität mit protestierenden Frauen im Iran auf der Bühne die Haare abrasiert. Der bewegende Auftritt war eine konsequente performative Weiterentwicklung seines genderqueer-poetischen Roman-Experiments; eine kämpferische Sternstunde nicht nur für Kim de l’Horizon selbst, sondern auch für die eher gesetzte, honorige Institution Buchpreis. Eine furiose Werbung für „Blutbuch“, dessen Entstehung sich für de l’Horizon laut eigener Aussage im Schweizer Podcast „Blattgold“ anfühlte, „wie meine eigene Prophezeiung zu schreiben“, war es sowieso. Sissy gratuliert von Herzen und empfiehlt Anja Kümmels Einführung in den „Blutbuch“-Kosmos.
Stephen Spender: Der Tempel

Stephen Spender: Der Tempel

Vermächtnis, Zeitdokument, großartiges Spätwerk – schon bei der Erstausgabe im Jahr 1988 haftete dem Roman „Der Tempel“ etwas Epochales an. Stephen Spender (1909-95) lässt in dem Buch seine Künstlerfreunde Christopher Isherwood, W. H. Auden und Herbert List (wenn auch unter Pseudonymen) auftreten und erinnert sich an einen Sommer im Hamburg des Jahres 1929, in dem er mit den Genannten das grenzenlose, wenn auch trügerische Freiheitsgefühl der Weimarer Republik ausgekostet hatte. Spender erzählt von einer Welt großer Freizügigkeit, aber auch von ihrem Niedergang im Zuge der erstarkenden Bewegung der Nationalsozialisten. Anlässlich der Neuauflage des Romans im Albino Verlag hat Tilman Krause ihn wieder gelesen – und darin den späten Triumph eines Schriftstellers entdeckt, der das öffentliche Schwulsein lange seinen Kollegen überließ.
Dominik Barta: Tür an Tür

Dominik Barta: Tür an Tür

Eigentlich will Thirtysomething Kurt nur seine Ruhe haben, doch nach und nach werden die Nachbar:innen des Wiener Mietshauses, in das er einzieht, zu seiner Wahlfamilie – und dadurch wird auch ein befreiterer Umgang mit seiner Homosexualität möglich. Dominik Barta schildert in seinem neuen Roman „Tür an Tür“ einen Mikrokosmos zwischenmenschlicher Begegnungen, der von den Verwerfungen der Weltpolitik eingeholt wird. Aus queerer Sicht schwankt Barta wie schon in seinem Debüt „Vom Land“ zwischen angezogener Handbremse und erzählerischem Übereifer – für Axel Schock eine vielfältige, aber eher ambivalente Leseerfahrung.
Aiden Thomas: Yadriel & Julian

Aiden Thomas: Yadriel & Julian

Ein regelrechter Hype brach in den USA um Aiden Thomas’ Debütroman „The Cemetery Boys“ los, nachdem er im September 2020 erschienen war. Die Geschichte über einen Transjungen, der in der Latinx-Community von Los Angeles erst seine übersinnlichen Fähigkeiten und dann die Liebe entdeckt, wurde zum New-York-Times-Bestseller und schaffte es auf die Longlist des National Book Award. Ende Juni erschien der Roman unter dem Titel „Yadriel & Julian“ auf Deutsch – im Dragonfly Verlag, der auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert ist. Linus Giese hat sich von dem Buch überraschen, berühren und verzaubern lassen und kommt zu dem Schluss, dass es weit mehr bietet als progressive Unterhaltung für junge Menschen, sondern vielmehr das Zeug hat, dem deutschsprachigen Literaturbetrieb generell als Vorbild in Sachen Diversität zu dienen.
Alan Hollinghurst: Der Hirtenstern

Alan Hollinghurst: Der Hirtenstern

Seit Erscheinen seines ersten Romans „Die Schwimmbadbibliothek“ im Jahr 1988 gilt Alan Hollinghurst als einer der wichtigsten Chronisten der britischen Gesellschaft. Die Beschreibung schwuler Lebensrealitäten war von Anfang an ein zentrales Thema seiner Bücher. Für „Die Schönheitslinie“ erhielt Hollinghurst 2004 den renommierten Booker Prize. Auf die Booker-Prize-Shortlist schaffte es 1994 bereits sein zweiter Roman „The Folding Star“ – und wurde damals trotzdem nicht ins Deutsche übersetzt. Ein Versäumnis, das nun nachgeholt wurde: „Der Hirtenstern“ ist jüngst im Albino Verlag erschienen. Tobias Völker hat sich in das 600-Seiten-Werk vertieft und dabei nicht nur ein großes Panorama menschlicher Leidenschaften entdeckt, sondern auch den intimsten aller Hollinghurst-Romane.
Rudi Nuss: Die Realität kommt

Rudi Nuss: Die Realität kommt

Welche Zukunft, welche Identität, welches Dasein wollen wir leben? Im Debütroman des Berliner Lesebühnen-Chamäleons Rudi Nuss gibt es auf diese Fragen tausend und keine Antwort. Die Geschichte um Erzähl-Ich Conny ist weniger eine stringente Erzählung als ein unerschöpfliches Feuerwerk aus skurrilen Ideen, verschrobenen Charakteren und verblüffenden Wendungen. Dass dabei Geschlechtermodelle über den Haufen geworfen werden, ist noch der vorhersehbarste Kunstgriff im mal surrealen, mal hyperrealen Ideenkosmos des queeren Geistes Rudi Nuss, dessen Herkunft auf seiner Website mit folgenden Worten umrissen wird: „Seine Familie hat den größten Teil ihres Lebens an einem der größten und schönsten Atomkraftwerke Russlands gelebt.“ Anja Kümmel strahlt jedenfalls mit.
Kim Hye-Jin: Die Tochter

Kim Hye-Jin: Die Tochter

Entfremdung, Generationenkonflikte, Homophobie – das sind die Themen von „Die Tochter“, der jüngsten Literatur-Sensation aus Südkorea. Kim Hye-Jin erzählt in ihrem Roman vom Alltag einer traditionsbewussten Sechzigerin, die ihr kleines Haus in Seoul notgedrungen mit ihrer lesbischen Tochter und deren Freundin teilen muss. Die Autorin formt aus dem  Aufeinandertreffen der drei grundverschiedenen Frauen vor allem eine sensible Charakterstudie der Mutter. Anja Kümmel über einen Roman, der Leser:innen aufgrund seiner provokanten Erzählperspektive einiges abverlangt, die Widersprüche innerhalb der südkoreanischen Gesellschaft aber umso deutlicher macht.
Garth Greenwell: Reinheit

Garth Greenwell: Reinheit

Nach seinem gefeierten Debütroman „Was zu dir gehört“ lässt US-Autor Garth Greenwell seinen autobiografisch geprägten Ich-Erzähler erneut durch die sexuellen und emotionalen Untiefen des schwulen Lebens in der bulgarischen Hauptstadt Sofia geistern – diesmal im Erzählband „Reinheit“, der in der deutschen Übersetzung von Daniel Schreiber bei Claassen erschienen ist. Greenwell selbst sagt über das Buch, er habe etwas schreiben wollen, das gleichzeitig „hundert Prozent pornografisch und hundert Prozent hohe Kunst“ sei. Tilman Krause schätzt ein, inwieweit das gelungen ist, und enthüllt zugleich den verletzlichen Kern des Textes, den viele Kritiker im Angesicht seiner Drastik aus dem Blick verlieren.